Scholl-Latour, Peter – Zwischen den Fronten

Man sollte auf keinen Fall das Vorwort übergehen. Im nur halbseitigen Vorwort von Peter Scholl-Latours neuem Buch „Zwischen den Fronten“ steht als zentraler Satz das Zitat Leopold von Rankes: „Der Historiker muss alt werden, da man große Veränderungen nur verstehen kann, wenn man persönlich welche erlebt hat.“ Gemäß diesem Motto hat der 83-jährige Scholl-Latour dieses Mal keinen Reisebericht, sondern einen Essay geschrieben, und er will dabei die Gegenwart aufschließen wie ein Historiker die Vergangenheit. Die gelegentlichen lateinischen Zitate mag man als Wink verstehen, dass der Autor dabei vielleicht einige spätrömische Zeithistoriker als Vorbild im Sinn hatte. Seine teils schonungs- und illusionslosen Urteile etwa, die quer zum unbekümmerten Zeitgeist stehen, erinnern gelegentlich an Sallust.

„Zwischen den Fronten“ besteht aus vier Aufsätzen über die USA, den Orient, China und – für den weltweit Reisenden bemerkenswert – Europa. Auch wenn Scholl-Latour 2007 wieder ausgiebig gereist ist und dabei gewonnene Erkenntnisse in den Text einfließen lässt, ist das Buch insgesamt eine auf die lange Sicht angelegte Betrachtung unserer heutigen Welt. Viele Erlebnisse von früheren Reisen in den letzten Jahrzehnten und Verweise auf die entfernte Geschichte finden sich ebenso wie kleine Beobachtungen und Gespräche aus diesem Jahr, die symptomatisch große Entwicklungen verdeutlichen sollen. Dabei legt der Autor wirkmächtige Einflussgrößen hinter den bewussten Absichten der Politik bloß: typische historische Abläufe, wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten, geopolitische Konstanten und nicht zuletzt die überlieferte Kultur und Religion.

Besonders die Religion: Die erstaunliche Unterstützung des jüdischen Staates durch die in Europa mindestens als aufdringlich geltenden amerikanischen Christen des Bible Belt beruht auf der Erwartung, dass die Anwesenheit der Juden auf biblischem Boden eine Voraussetzung für die Wiederkehr des Messias sei. Der Orientkenner Scholl-Latour führt die Feindschaft zwischen den Juden und den arabischen – also ebenfalls semitischen – Moslems auf die biblische Rivalität der Abrahamssöhne Isaak und Ismael zurück. Der Hass zwischen Sunniten und Schiiten geht auf verschiedene religiöse Autoritäten zurück, die bereits in der frühesten islamischen Geschichte kurz nach dem Tod Mohammeds in blutigen Fehden lagen. Eine ferne, teils mythische Vergangenheit ist also eine mächtige Größe der Gegenwart. Die Erlahmung der Religion in der alten Welt mag, so Scholl-Latour, ein Grund für die geistige und politische Schwäche Europas sein.

Die meisten deutschen Auslandsjournalisten wirken nur als Beobachter, nicht als Analysten. Für das Thema China heißt das, die rasante technische und wirtschaftliche Entwicklung wird berichtet, aber nicht zu erklären versucht. Peter Scholl-Latour bietet dagegen eine Deutung, die die heutige chinesische Mentalität als ein Produkt aus sozialistischem Gemeinschaftssinn, kapitalistischem Initiativgeist und einer Rückbesinnung auf konfuzianische Ordnungs- und Staatsbegriffe betrachtet. Die vor allem vom Westen betriebene Globalisierung und die damit einhergehende Verknappung, also Verteuerung der Güter richtet sich durch ein China aus diesem Geist als Waffe gegen sich selbst. Die autoritäre Führung Pekings sichert sich mit ihrer bescheidenen und „emsigen“ Bevölkerung afrikanische Bodenschätze, indem sie in rohstoffreichen Gebieten Afrikas eine effiziente Aufbauarbeit leistet, die die nordamerikanischen und europäischen Volkswirtschaften so günstig gar nicht mehr erbringen könnten. Wie eine Ouvertüre zu diesem Thema erwähnt der Autor schon im ersten Kapitel die chinesischen Gemeinden in Amerika mit ihrem schnell wachsenden Wohlstand.

Amerika sieht Scholl-Latour ohnehin sehr schwarz. Er erwähnt nicht nur die bekannten außenpolitischen und geheimdienstlichen Schlappen der letzten Jahre. Wenn es um Präsident Bush geht, zeigt sich der sonst so nüchterne Autor schon etwas polemisch. Bemerkenswert ist, dass er im Amerika-Kapitel auf drei selbst erlebte, schwere militärische Niederlagen zurückblickt, nämlich die der deutschen Wehrmacht 1945 sowie der französischen Kolonialtruppen in Indochina und Algerien. Auch die hier aufkommende Untergangsstimmung mag den Leser an spätantike Vorbilder denken lassen.

Im Kapitel über Europa legt Scholl-Latour, bekanntermaßen ein Bewunderer Charles de Gaulles, einen Schwerpunkt auf Frankreich. Einige Hoffnung scheint er dabei auf die außenpolitischen Konzepte (Mittelmeer-Union) des neuen Präsidenten Sarkozy zu setzen. Dessen Darstellung ist etwas blass, Scholl-Latour räumt ein, ihn nicht persönlich zu kennen. Es bleibt abzuwarten, ob Sarkozy, der die Wahl u. a. durch seine entschiedene Ablehnung der von den USA forcierten türkischen EU-Mitgliedschaft gewann, zu seinem Wort stehen wird. Die deutsche Politik, die sich nur noch in Wahlkampfkrämerei erschöpft, wird durch wenige, aber treffende Beispiele in ihrer Substanzlosigkeit vorgeführt. „Eine deutsche Außenpolitik, die diesen Namen verdient, gibt es ebenso wenig wie ein deutsches strategisches Konzept.“ (S. 284) Das deutsche Wunschdenken von einem Orient nach westlichem Vorbild wird allein durch die entgegengesetzte geschichtliche Entwicklung widerlegt. Sowohl die Türkei als auch der Iran waren in der Vergangenheit westlich orientierter und in religiöser Hinsicht toleranter als heute. Selbst im Irak des Diktators Saddam Hussein waren Christen vor religiöser Verfolgung sicher, während sie heute trotz amerikanischer Besatzung am helllichten Tag ermordet werden.

Im erwähnten Vorwort weist der immer noch aktive Peter Scholl-Latour es weit von sich, schon eine Autobiographie geschrieben zu haben. Aber dennoch ist der Großessay „Zwischen den Fronten“ so etwas wie ein Vermächtnis. Der weitgereiste Autor, der mehrere Jahrzehnte Zeitgeschichte hautnah miterlebt hat, gibt aus seinen Erfahrungen einen Überblick über die weltpolitische Lage. Neben dem Hauptthema machen zudem die ereignis- und geistesgeschichtlichen Exkurse und die Anekdoten am Rande die Lektüre lohnend.

http://www.propylaeen-verlag.de

Schreibe einen Kommentar