Brian Selznick – Die Entdeckung des Hugo Cabret. Graphic Novel


Entdeckt: ein verlorener Schatz der Filmgeschichte

Paris 1931. Hugo Cabret wächst als Waisenjunge auf. Er ist Wächter der Uhren und Dieb auf einem Pariser Bahnhof. Als er die Aufmerksamkeit eines exzentrischen Mädchens und ihres bärbeißigen Großvaters erregt, sind seine Existenz im Verborgenen und sein größtes Geheimnis in Gefahr.

Eine geheimnisvolle Zeichnung, ein liebevoll gehütetes Notizbuch, ein gestohlener Schlüssel, ein mechanischer Mann und eine verborgene Botschaft von Hugos verstorbenem Vater markieren den Pfad, auf dem wir nach und nach zu Hugos gehütetem, zartem und faszinierendem Geheimnis vordringen dürfen. (abgewandelte Verlagsinfo)

Der Autor

Brian Selznick, preisgekrönter Illustrator und „New York Times“-Bestsellerautor, absolvierte ein Designstudium. Nachdem er eine Zeit als Dekorateur in einer Kinderbuchhandlung gearbeitet hatte, wandte er sich selbst dem Entwickeln von Kinderbüchern zu. Diese wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Mit „Hugo Cabret“ betritt er als Illustrator und Autor Neuland und lässt seinen Lesern eine völlig neue Leseerfahrung zuteil werden. Selznick lebt in New York City und San Diego. (Verlagsinfo) Dieser Roman wurde 2011 erfolgreich von Martin Scorsese verfilmt.

Handlung

Hugo Cabret lebt als Waisenjunge im Jahr 1931 in einem alten Pariser Bahnhof. Dort hat er es sich zu seiner Aufgabe gemacht, die 27 Uhren des Bahnhofs zu ölen und am Laufen zu halten. Er liebt Uhren, denn er stammt aus einer Familie von Uhrmachern. Seine Vater hat ihm vieles darüber beigebracht, so dass sich Hugo mit Rädchen, Naben und Unruhe gut auskennt.

Eines Tages hat ihm sein Vater einen Fund in dem Museum gezeigt, in dem er arbeitete: einen mechanischen Mann, der schreiben kann. Leider war der Automat kaputt, doch Vater unternahm es, ihn zu reparieren. Hugo hoffte, dass der Automat eines Tages eine Nachricht schreiben würde. Doch eines Nachts wurde Hugos Vater aus Versehen eingeschlossen und kann bei einem Brand im Museum ums Leben.

Onkel Claude nahm Hugo auf und zwang ihn, im Bahnhof zu arbeiten. Als Dieb musste er sich sein Mittagessen zusammenstehlen. Bis auch Onkel Claude fortging. Seine Gehaltsschecks kommen noch, doch Hugo weiß nicht, wie er sie einlösen soll. Er wollte weglaufen, doch seine Füße trugen ihn zum niedergebrannten Museum. In den Trümmern fand er die Reste des Automaten. Vielleicht wenn er ihn reparieren konnte, würde ihm der Automat schreiben, was sein Vater dachte, als er starb. Vielleicht eine Botschaft von Vater. Er nahm ihn mit in sein Versteck im Bahnhof.

Beim Versuch, weitere Bauteile für seinen mechanischen Mann zu stehlen, wird Hugo Cabret auf frischer Tat ertappt. Der Besitzer des Spielzeugladens im Bahnhof stiehlt ihm zudem das Wertvollste, was Hugo auf der Welt besitzt: das Notizbuch mit den Konstruktionszeichnungen, das ihm sein Vater einst schenkte. Er muss es wiederhaben! Er folgt dem alten Mann bis zu dessen Wohnung, wo er ihm entwischt. Ein Mädchen, das aus der Wohnung des Alten schaut, bemerkt Hugo und verspricht ihm, das Notizbuch vor dem Verbranntwerden zu bewahren. Hugo geht wieder nach Haus. Doch am nächsten Tag hat der Alte kein Notizbuch für ihn, sondern nur ein Taschentuch – voll Asche.

Schon befürchtet Hugo, alles sei verloren, als das Mädchen Isabelle ihm sagt, dass der Alte, ihr Patenonkel, das Notizbuch lediglich versteckt, nicht aber verbrannt habe. Sie will Hugo helfen, es wiederzubekommen. Erst beginnt Hugo, für den Ladenbesitzer zu arbeiten, um sich sein Essen zu verdienen. Gleichzeitig lernt er Zauberkunststücke und arbeitet ohne Anleitung an der Fertigstellung des Automaten, sagt ihr aber nichts davon. Nach einem gemeinsamen, erschlichenen Kinobesuch darf er mit in ihre Wohnung. Dort lebt die Frau des alten Mannes, Isabelles Patentante und Pflegemutter. Auch sie hütet ein Geheimnis, wie Hugo scheint.

Als er sich von Isabelle verabschiedet, klaut er mit einem seiner neuen Zaubertricks den Schlüssel, den sie von ihrer Tante bekam und den sie stets an einem Band um den Hals trägt. Er rast davon, schlüpft in seine Wohnung und steckt den Schlüssel in die Öffnung, die dafür im Rücken des Automaten klafft. Gerade will er die Feder aufziehen, die den Mechanismus startet, als Isabelle hereinstürmt. Sie ist ihm geschickt gefolgt und überwältigt ihn nun so, dass er ihr alles verraten muss.

Er darf den Schlüssel umdrehen, die Feder aufziehen und dann loslassen. Der Mechanismus schnurrt, klackert, rattert und rüttelt – auf einmal setzt sich die Hand des Automaten in Bewegung, der Stift hebt sich, tunkt die Feder in die – gerade noch rechtzeitig bereitgestellte – Tinte und beginnt seltsame Zeichen zu Papier zu bringen. Gebannt starren Hugo und Isabelle auf das, was nun auf dem Papier erscheint. Ist es die letzte Botschaft seines Vaters?

In gewissem Sinne ja, aber doch auch viel mehr. Eine Entdeckung, die sein Leben verändern soll …

Mein Eindruck

Die Geschichte bewegt sich zwischen Märchen für Jugendliche und dem Realismus eines historischen Romans. Das erweist sich als eine fruchtbare Verbindung, um die Handlung nach vielen überraschenden Wendungen zu einem unerwarteten Ende zu führen. Sie hat mit den Träumen eines Jungen und eines Mädchens und einem verlorenen Schatz zu tun.

Dieser Schatz besteht aber nicht in Gold und Juwelen, sondern in dem verschollenen Werk eines der größten Genies der Filmgeschichte: das des Franzosen Georges Méliès. Dessen Film über die Reise zum Mond liefert eines der bekanntesten Bilder für Cineasten: eine Raumflugkapsel fliegt dem Mann im Mond direkt ins Auge. Wie schon Hugos Vater sagte: „Es ist, als wären meine Träume am hellichten Tag wahr geworden.“

Eine neue Kombination

Es leuchtet mir ein, dass man ein Werk, das so stark aus Bildern aufbaut wie das Werk von Méliès, nicht bloß in Textform präsentieren kann oder will. Da bot es sich dem Illustrator Selznick fast von alleine an, die eh schon starken Méliès-Bilder in den Text zu integrieren und sogar einen Film der Brüder Lumière, den wichtigsten Technikpionieren anno 1895, in die gezeichnete Handlung einzubauen: „Ein Zug fährt ein“. (Alle Filme werden detailliert im Anhang des Buches aufgelistet.)

Graphic Novel

Das Ergebnis ist eine Bildergeschichte wie eine Graphic Novel, unterbrochen und unterstützt von Texten, die die Geschichte weiterführen, besonders in der psychologischen Dimension. Die Schwarzweißzeichnungen – Selznick verwendet stets nur Bleistift – tragen sozusagen die damalige Bild- und Vorstellungswelt zu der an sich bunten Handlung bei. Die Bilder sind oft von großer Dynamik, so etwa bei der Verfolgungsjagd in den Kellern des Bahnhofs. Und das Design verrät einen guten Blick für den richtigen Bildausschnitt, damit die bedeutungsvollen Details hervorgehoben werden: eine zupackende Hand, ein inniger Blick, ein Schlüssel.

Da die Handlung im Jahr 1931 spielt, sind keine modernen Elemente wie etwa Handys zu sehen, und so wirken die Tableaus fast noch viktorianisch. So könnte sich der Leser & Betrachter ohne Weiteres vorstellen, Hugo wäre eine Art Oliver Twist, der sich in der großen Stadt durchschlägt und dabei womöglich fiesen Schurken in die Finger gerät. So weit kommt es zwar nicht, aber da man Hugo für einen Dieb und Herumtreiber hält (statt für denjenigen, der die Bahnhofsuhren stellt), kommt es zu ein paar brenzligen Szenen.

Der Verlauf der Handlung ist, besonders im zweiten Teil, nicht vorhersehbar, erscheint aber doch folgerichtig. Sicher: Es gibt ein paar glückliche Zufälle, aber welche Geschichte hätte die nicht? Sie verhelfen dem Leser wieder zum Glauben an das Glück, das genau dann eintrifft, wenn man es am dringendsten braucht. Und so findet die Geschichte, nach ein paar Wirrungen, ein gutes Ende.

Fotos

Das Bildmaterial ist beachtenswert. Da findet sich ein verblüffendes Foto: von einer Lokomotive, welche die Bahnhofswand durchbrochen hat und auf die Straße davor gestürzt ist. Die Bremsen haben versagt. Das Foto findet sich auf der Doppelseite 392/93 und nicht wie im Anhang angegeben auf S. 382/83. Desweiteren hat der Autor zahlreiche Skizzen und Fotos von Georges Méliès eingefügt. Und wer sich nun fragt, was der frühe Filmemacher mit der Geschichte zu tun hat, sollte mal überlegen, was der alte Spielzeugwarenbesitzer mit dieser ganzen Sache zu tun hat.

Unterm Strich

In diesem dicken Schmöker von erheblichem Gewicht verbirgt sich eine schöne Graphic Novel, die nicht nur auf menschlichem Niveau eine anrührende Geschichte erzählt. Sie verblüfft zudem auch mit einer filmhistorischen Entdeckung, die ein neues Licht sowohl auf früheste Filme wie auch auf frühe Automaten des 19. Jahrhunderts wirft. Über beides hat der Autor intensiv geforscht, wie sein Anhang verrät. Der Leser kann es ihm gleichtun und die entsprechenden Webadressen besuchen, die der Anhang enthält.

Ich habe das Buch in nur wenigen Stunden durchgelesen. Es gibt nicht viel Text, aber umso mehr Bilder. Zudem hat mir die Geschichte der beiden Buchteile ausnehmend gut gefallen, nicht zuletzt, weil sie auch geschickt aufgebaut ist und spannende Unterhaltung bereitet. Das Lesevergnügen ist nicht billig, mit 20 Euronen ist man dabei, aber dafür bekommt man ein hochwertig (in China) gedrucktes Buch, das man immer mal wieder gerne durchblättert.

Fazit: ein Volltreffer.

Gebunden: 543 Seiten
Originaltitel: The Invention of Hugo Cabret, 2007
Aus dem US-Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn
Empfohlen ab 10 Jahren
ISBN-13: 978-3-570-13300-2
http://www.cbj-verlag.de
[Verlagsspezial]http://www.randomhouse.de/webarticle/webarticle.jsp?aid=9895

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