Matthew Phipps Shiel – Huguenins Frau. Phantastische Erzählungen

Das Los von Hiob und Jonas: Storys von Schuld und Sühne

Die hier gesammelten phantastischen Geschichten handeln von Protagonisten, für die diese Erde offenbar kein geeigneter Aufenthaltsort ist, sondern ein Todesmechanismus, eine verhängnisvolle Unermesslichkeit. Shiels Erzählungen wurden von so unterschiedlichen Autoren wie Dashiell Hammett, H. G. Wells, Arthur Machen und sogar H.P. Lovecraft hoch gelobt. Sie sahen in ihm einen der würdigsten Nachfolger Edgar Allan Poes, aber auch von Jules Verne, Arthur Conan Doyle („The Lost World“) und Charles Baudelaire („Die Blumen des Bösen“).

Die Erzählungen, die zwischen 1895 und 1928 entstanden, werden durch eine interessante biografische Skizze „Was mich betrifft“ ergänzt. Darin erweist sich Shiel als ein gebildeter Kritiker von Menschen, die nicht selbst zu denken wagen und ihren Verstand lieber betäuben, z. B. durch schlechte Romane.

Der Autor

Matthew Phipps Shiel wurde 1865 auf der Karibikinsel Montserrat, der vulkanischen Nachbarinsel von Redonda, als neuntes Kind des irischen Kaufmanns und Methodistenpredigers Matthew Dowd Shiell (sic!) geboren und schloss seine Ausbildung in England ab. Er lernte mehrere Sprachen fließend und beherrschte Latein und Altgriechisch.

In Großbritannien unterrichtete er Mathematik, studierte Medizin und bildete seine Weltgewandtheit, bevor er sich voll und ganz der Literatur widmete. Er schrieb – häufig als Ko-Autor – zahlreiche Kriminalromane sowie Lyrik. Für viele seiner Zeitgenossen war ein Meister der fantastischen Literatur, v.a. wegen seines siebten Romans „Die purpurne Wolke“ (1901). Er hatte mehrere Kinder mit seinen Frauen und Affären. Shiel starb 1947 in Chichester (Sussex). Scheck und Hauser bezeichnen Shiel als Rassisten und Antisemiten, und das, obwohl seine Mutter eine Mulattin war.

Das Königreich von Redonda (s. o.) ist eine winzig kleine unbewohnte Antilleninsel nahe Montserrat, die von Antigua verwaltet wird. M.P. Shiel wurde 1880 von seinem Vater, einem irischen Laien-Prediger, zum ersten König dieser Insel gekrönt und begründete damit eine „literarische Dynastie“. Nach Shiels Tod übernahm John Gawsworth dieses exklusive, aber bedeutungslose Amt. Und nachdem 1997 der letzte König abgedankt hatte, übernahm der spanische Schriftsteller Javier Marías („Mein Herz so weiß“) das Amt. Zu seinen Aufgaben gehört u.a. die Verwaltung der Rechte an allen Schriften M. P. Shiels.

Das Vorwort von Javier Marías (1999)

Marías beleuchtet als Erstes, was das Königreich von Redonda ist und wie es kam, dass er dessen König wurde. Er erzählt von der unseligen Angewohnheit John Gawsworths, im Suff an seiner Gläubiger Titel dafür zu verleihen – welche natürlich keinerlei Machtbefugnis beinhalten: Sie wurden zu Herzögen und Herzoginnen gemacht. Mit diesem Unsinn machten seine Nachfolger Schluss. Doch Marías fühlt sich dem literarischen Erbe Shiels verpflichtet und hat wieder Titel vergeben, um in diesen exklusiven Club würdige Mitglieder aufzunehmen – diese Mitglieder sind in einer Liste am Schluss des Buches zu finden. Das Motto: „Ride si sapis“ – „Lache, wenn du [Bescheid] weißt“, würde ich übersetzen.

Die Erzählungen

1) Vaila (1896)

Der Ich-Erzähler folgt nach zwölf Jahren der Trennung seinem Studienfreund Haco Harfager, der ihn auf seinen Familiensitz eingeladen hat. Diesen Familiensitz liegt auf Vaila, einer der Shetland-Inseln nordöstlich von Schottland. In einem Fischerboot nähert sich der Erzähler der sturmumtosten und meerumschäumten Insel und erinnert sich, dass Haco schon immer ein gespaltenes Verhältnis zu seiner Familie hatte: Sie wurde im 14. Jahrhundert durch einen Brudermord gegründet. Entgegen der Anweisung des Mörders und Brauträubers, dessen Baumeister umkam, wurde der Familiensitz nicht am vorgesehenen Ort errichtet, sondern dort, wo ihn angeblich der Ermordete haben wollte: in einer Felsenbucht auf Vaila.

Bei der Annäherung bemerkt der Besucher die außerordentliche Lage des kreisrunden Gebäudes: Es liegt auf einer kahlen Felsplatte zwischen einem brausenden Wasserfall und dem anbrandenden Meer. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Nachdem er eine Steinbrücke überquert hat, erhält er Einlass von einem skelettartigen Diener namens Aith. Dann erst trifft er Haco. Dieser hat sich verändert und ist noch schwerhöriger geworden als zuvor. Er verständigt sich mit seinem Freund, indem er auf eine Schiefertafel schreibt. Das Gebäude vibriert unter dem äußeren Lärm. Fast ganz aus Metall, schwingt es an den schweren Ketten, die es auf der Felsplatte vor dem Abrutschen ins Meer bewahren.

Sie bestatten Hacos Mutter in der Familiengruft, in der es vor Wasserratten wimmelt. Tatsächlich ist der Sarg an den Füßen offen, sodass die Ratten sich an den Toten gütlich tun können. Wenn sie sich zum Kopf vorarbeiten, berühren sie drei Schnüre, an denen Klingeln hängen. Sie lässt sich die Zeit messen. Aber es gibt noch einen größeren Zeitmesser: Eine Kugel, aus der seit dem Jahr 1389 Bleikügelchen in ein Becken mit Regenwasser fallen – jede Minute eines. Und exakt 500 Jahre später, also 1889, werden die letzten drei fallen, prophezeit die Familienlegende. Von den Harfagers sind nur noch Haco und seine Schwester Swertha am Leben.

Worauf Haco wirklich wartet, ist jedoch der einmal in 20 Jahre auftauchende große Sturm, der Hurrikan, der alle Strukturen und Befestigungen des runden Metallgebäudes auf den Prüfstand stellt. Und als dieser Sturm eintrifft, nähern sich nicht nur der äußere Ort dem Chaos, sondern auch der Verstand der vier Menschen, die darin gefangen sind, der Zerreißprobe …

Mein Eindruck

Die meisterlich aufgebaute und stilistisch exzellente Erzählung steigert sich in einem Crescendo der Gefühle und Gewalten zu ihrem furiosen Höhepunkt. Ähnlich wie in Poes „House of Usher“ begibt sich der Besucher in eine bizarre Welt, in der eine seltsame Familie lebt. Wie bei Roderick Usher und seiner (toten?) Schwester Madeleine ist auch hier eine Überempfindlichkeit der Sinne festzustellen, wie sie laut Poe bei überalterten, dekadenten Sippen zu finden sei: das Gehör. So ist Haco Harfager in der Lage, trotz des irren äußeren Lärms aus Wasserfall und Brandung das feine Klingeln am Sarg seiner Mutter zu vernehmen, das die nagenden Ratten verursachen. Dennoch muss er sich schreibend mit seinem Freund verständigen.

Noch bizarrer als die Außenwelt und die Bewohner des Hauses ist das Gebäude selbst, das geradezu einen Preis für den teuflischsten Entwurf verdient (man denke an seine Erbauungsgeschichte). Aufgehängt an den Ketten, ist es wie ein Kreis in der Mitte von einer massiven Metallsäule gestützt. Als die Ketten unter der Wucht des Sturms brechen und das Dach weggerissen wird, beginnt sich der Kreisel zu drehend, schneller und immer schneller. Dieses Bild steht für die Vergänglichkeit des auf einen Brudermord aufgebauten Familiengebäudes. Wie im „Haus Ascher“ muss auch dieses Haus fallen – und im Wasser, aus dem wir alle kommen, versinken, genau wie bei Poe.

Der Autor hat seine Meistererzählung, die schon Lovecraft lobte, mit zahlreichen Zitaten aus der Geschichte der Physiologie gespickt, wenn es um die Verfeinerung der Sinne geht, und aus der Bibel, wenn apokalyptische Analogien gefragt sind, so etwa aus der „Offenbarung“, aus den Propheten und den Büchern Mose. Daran lässt sich die beeindruckende Bildungsfülle und Gelehrtheit des Autors ablesen, der Mathematik lehrte und Medizin studierte, bevor er sich der Literatur zuwandte.

Diese Erzählung steht nicht zufällig am Anfang der Auswahl. Die Insel Vaila ist ein Spiegel der Insel Redonda in den Antillen. Siehe dazu die Vorbemerkung von Javier Marias über das das Königreich von Redonda.

2) Huguenins Frau (1895)

Ein Freund, der seit Jahren auf der griechischen Insel Delos, lebt, ruft unseren Chronisten im Juni 1899 um Hilfe. Dieser bricht sofort von London aus in die Ägäis auf. Huguenin lebt seit dem Tod seiner Frau Andromeda alleine in seinem Anwesen auf dem Gipfel eines Hügels. Er sieht abgemagert und verwirrt aus, findet der Besucher. Andromeda war eine begnadete Malerin und verehrte die altgriechischen Götter, allen voran Apollon, dem Delos heilig war, weil er hier geboren wurde. Doch es gibt eine Prophezeiung, wonach Samos und Delos dereinst dem Erdboden gleichgemacht würden.

Ein roter Faden, den Andromeda wie weiland Ariadne einst verlegte, verbindet die wichtigsten Kammern des Anwesens. Dies ist auch der Weg zu einem der schrecklichsten Anblicke, die der Chronist je gesehen hat: ein Gemälde der Verstorbenen von einem Monster. Indem er dem roten Faden bis ans Ende folgt, gelangt der Besucher zum Gefängnis dieser Bestie. Sofort kehrt er um.

Als sich am 13. August 1899 das historische Erdbeben ereignet, das Delos und Samos minutenlang erschüttert, kommt das Monster frei …


Mein Eindruck

Das pikante Detail, das beide Phänomene vereint, ist der Umstand, dass das Grab von Andromeda, das Huguenin anlegen ließ, leer ist! Dies lässt den (nicht ganz logischen) Schluss zu, dass sich die Seele der Malern in der Bestie niedergelassen hat. Seelenwanderung ist eines der vorherrschenden Themen in der Erzählung. Und so muss es während des Bebens ein Ende mit Ende mit Schrecken für Huguenin und die Bestie / seine Frau geben …

Wie schon in „Vaila“ nimmt es mit einem weltmüden und abgeschieden lebenden Mann ein schlimmes Ende. Auch das ist ein Motiv, das Shiel von Poes „Der Fall des Hauses Usher“ übernommen hat. Diesmal findet der „Fall“ jedoch nicht im kalten Norden, sondern im sonnendurchglühten Süden statt, noch dazu durchwoben vom Glauben an die alten Götter.

Ich fasse dies als Abrechnung mit der neuheidnischen Begeisterung des esoterischen Fin-de-siècle auf, ganz besonders aber an „Madame“ Helena Petrovna Blavatsky (1831-91) und ihrem Kreis von theosophischen Scharlatanen, der ab ca. 1875 viele okkultistische Ideen in die höheren Gesellschaftsschichten der USA, Europas und Vorderasiens trug. (Mehr dazu in der Wikipedia.) Sie wurde mehrfach des Betrugs bezichtigt und überführt. Sie kam beispielsweise auf die Idee von Wurzelrassen, die dann im weiteren zur Ideologie einer arischen Herrenrasse und „minderwertigen“ Sklavenrassen ausgebaut wurde.

Das Monster ist selbstverständlich lediglich eine Metapher. Die Chimäre mit dem Medusenhaupt kann alles Mögliche verkörpern, manifestiert aber vor allem die Seelenwanderung. Unterschwellig wirkt hier der Lamia-Mythos von der Liebhaberin, die sich mit ihrem Geliebten (oder einem geraubten Kind) nicht paart, sondern ihn tötet und verschlingt. (Mehrfach zitiert der Autor den Dichter John Keats und dessen Lamia-Gedicht.) Die Zeustochter Lamia (siehe Wikipedia) wird auch Mutter der Sibyllen betrachtet, die wiederum Apolls Seherinnen waren, die auf Delos ihr zentrales Heiligtum hatten – es passt also alles zusammen.

Übersetzt in poetische Bedeutung sagt der Autor also, dass die Chimäre des alten Götterglaubens die Moderne zu verschlingen droht. Die Moderne ist in Huguenin, dem weltmüden Eremiten, sowie im Chronisten verkörpert. Letzterer entkommt dem Inferno des Erdbebens mit viel Glück, um von Huguenins Ende zu berichten.

Update: Habe gerade in Scheck/Hausers Dekadenz-Anthologie „Als ich tot war. Band 2“ die biografische Skizze zu Shiel gelesen. Darin wird er als Rassist und Antisemit bezeichnet, und das, obwohl seine Mutter eine Mulattin war.

3) Elendes Los eines gewissen Saul

John Dowdy Saul ist ein Seemann, der zwischen 1560 und 1570 sein Glück auf See sucht, dabei jedoch in Veracruz strandet, eine Familie gründet und 1571 von der spanischen Inquisition verhaftet und auf ein Schiff verschleppt wird. Der Zimmermann erhält nicht einmal Gelegenheit, sich von seiner Familie zu verabschieden. Doch die „San Matteo“, wo man ihm einen kurzen Prozess macht, gerät schon bald in schwere Seenot. Er wird als von Gott verfluchter Jonas betrachtet, in ein großes Fass gesteckt und mitsamt diesem verschlossenen Vehikel in den Atlantischen Ozean geworfen.

Wind und Wellen spielen dem Fass übel mit, doch es gerät durch einen unterseeischen Tunnel ins Innere eines Vulkanberges. In totaler Finsternis strandet Saul ohne einen Bissen. So ist er gezwungen, sich tastend ein Bild von seiner Umgebung zu machen. Ein See, der aus einem Katarakt Wasser erhält, aber durch einen zweiten Tunnel mit der See verbunden ist, sodass er nie über die Ufer tritt. Im See lebt eine blinde Seeschlange, vor der Saul große Angst hat, sobald es ihm gelungen ist, Feuer zu machen.

Es gibt hier genügend Vegetation, um einen Mann zu ernähren. Doch zum Glück wächst hier auch der Meskalstrauch oder -kaktus, und dieser produziert bekanntlich durch Gärung einen betäubenden Schnaps, den sich Saul munden lässt. Sein Essensbedarf sinkt entsprechend, wohingegen sein Durst zunimmt. Er entdeckt trinkbares Wasser, aber auch Bitumen. Hier verbringt er Jahre, aufgeschreckt von Erdbeben und vulkanischen Aktivitäten wie etwa Beben.

Doch eines Tages merkt er, dass die Luft immer stickiger wird – es gibt keine Zufuhr. Das Kohlendioxid, das er selbst produziert, droht ihn umzubringen, breitet sich zunehmend vom Boden aus. Er schreibt seine Geschichte auf, steckt die Blätter ins wiedergefundene und -hergestellte Fass und schickt es in den zweiten Tunnel. Als er zurückbleibt, fragt er sich immer wieder: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich erschaffen?“

Mein Eindruck

Immer wieder findet sich in Shiels Erzählungen das Motiv der Hiob-Geschichte aus der Bibel, so auch hier. Manchmal hat die Hiob-Figur nichts weiter verbrochen, als unter der Erbsünde eines Vorfahren zu leiden. Diesmal wird der Seemann John Dowdy Saul von Gott geprüft, erst als Protestant unter Spanier, dann als „Jonas“ unter Seeleuten, schließlich als Mensch in einer menschenlosen Umgebung.

Doch die Natur in seiner Felsenhöhle im Vulkan ist alles andere als tot, und ein erfindungsreicher Mann kann hier sein Auskommen finden, wenn auch kein Entkommen. Die sprachgewandten Beschreibungen haben u. a. H. P. Lovecraft inspiriert und hingerissen, der einen „unbekannten Dichter Englands“ zu entdecken glaubte, als er ihn für seine Geschichte des Horrorgenres beschrieb.

Dabei hatte Shiel bereits 1901 mit seinem Weltuntergangsroman „Die purpurne Wolke“ (dt. bei Heyne) bereits einen Bestseller gehabt. Höhlen, Tunnel und Grüfte spielen bekanntlich in Lovecrafts Werk eine stets zentrale Rolle, bergen sie doch jedwede Art von dämonischem Geheimnis.

Häufig findet sich bei Shiel das Motiv des Drogenkonsumenten, so etwa auch in „Tulsa“. Opiumhöhlen waren ihm offenbar aus London vertraut (siehe dazu auch einige Sherlock-Holmes-Geschichten) und Libba Brays dritter Circe-Roman „Kartiks Schicksal“. John Dowdy Saul ergibt sich dem Meskalrausch – das Gegenteil eines Tatmenschen wie Robinson Crusoe, mit dem sein Schicksal vergleichbar ist. Auch ein Gefährte geht ihm ab, folglich gibt es keinerlei Action in der Felshöhle.

Das stilistisch Bemerkenswerteste an dieser 40 Seiten langen Erzählung ist somit die altertümelnde Sprache, die ans 16. Jahrhundert angenähert ist. Zu empfehlen ist die Lektüre der Anmerkungen des Herausgebers, der auf zahlreiche Ungereimtheiten in John Dowdy Sauls Erzählung hinweist. Mehrere Angaben zu Zeit und Dauer können nicht stimmen. Und am Schluss erwähnt Saul, er schreibe mit einer Fischgräte, wohingegen er am Anfang dafür einen „Splitter von Elephanten-Gebein“ benutzte.

4) Die Braut

Walter Teeger ist ein echter Cockney von altem Schrot und Korn, doch er verdient nicht viel. Deshalb kommt eine Heirat der süßen Annie Evans vorerst nicht infrage. Nichtsdestotrotz kann er ins Haus ihrer Familie als Untermieter einziehen, denn Annies verwitwete Mutter kann das Geld gut gebrauchen. Mit im Haus wohnt auch Rachel, Annies Schwester. Eigentlich heißen beide Rachel, nur Anne Rachel von ihrer Mutter eben Annie und Mary Rachel eben Rachel gerufen wird. Es gilt als ausgemacht, dass Walter Annie in absehbarer Zeit ehelicht.

Rachel entdeckt, dass Walter ein braver, erweckter Christenmensch ist und donnerstagabends in einer nahen „Kapelle“ alias Schulhaus einer wachsenden Gemeinde predigt. Heimlich besucht sie diese Zusammenkünfte, bis sie schließlich den Mut findet, bis zum Schluss zu bleiben und Walter abzupassen. Auf dem Nachhauseweg und anschließendem Spaziergang gibt sie ihm ihre Liebe zu erkennen. Als höflicher Mann hat er nichts dagegen einzuwenden.

Aber Annie ist auch nicht auf den Kopf gefallen und schnallt schon bald, was zwischen den beiden läuft. Statt sich bei Walter zu beklagen, kratzt sie Rachel beinahe die Augen aus, die es ihr mit gleicher Münze heimzahlt. Weil Walter sich ums Verrecken nicht zwischen beiden entscheiden kann, kommt es dazu, dass er beiden separat und unter dem Siegel der Verschwiegenheit die Ehe verspricht, in die beide einwilligen. Beim Standesamt gibt er als Brautnamen „Rachel Evans“, was nicht ganz unzutreffend ist. Er hat eine Frist von 21 Tagen bis zur Trauung.

Wenige Tage davor entdeckt Rachel das Pärchen im Hyde Park. Beim Versuch, sie zu belauschen, fällt sie in einen Bach, kommt aber mit dem Kopf so unglücklich auf, dass sie wenige Tage später stirbt. Der Trauung steht nun nichts mehr im Wege, findet Annie kaltblütig und entschlossen. Noch in dieser Nacht will sie Walter mehr als einen Kuss gewähren.

Doch während Walter in seinem Zimmer auf sie wartet, ist Rachel im Nebenzimmer aufgebahrt. Statt Annies erscheint bei ihm Rachels Geist. Und der ist auf ihn gar nicht gut zu sprechen …

Mein Eindruck

Weniger die übliche Geistererscheinung aus dem Sarg ist hier bemerkenswert, als vielmehr die moralische Konstellation zwischen Walter Teeger und den beiden Evans-Schwestern. Walter kann sich einfach nicht zwischen den beiden entscheiden und würde am liebsten der Bigamie frönen – das ist der frivole Tabuverstoß des Autors. Nur dass im muslimischen Arabien solch ein Bigamie-Tabu gar nicht existiert, wodurch die Relativität von sittlichen Vorstellungen zum Vorschein kommt.

Ein eigenartig frivoler Humor liegt dem Erzählton zugrunde, und auch der Ton selbst ist völlig modern und großstädtisch. Vielleicht soll auch die Sprache die Offenheit in Sachen Sitten widerspiegeln. Dass ein erweckter Christ wie Walter zur Bigamie neigt, lässt sich als Kritik an der moralischen Festigkeit solcher Christen auslegen. Witzig ist aber, dass die protestantischen Evans-Frauen, zumindest Annie und ihre Mutter, den Superchristen Walter darob für reichlich verschroben halten, so als wäre Frömmigkeit anrüchig.

5) Der bleiche Affe

Die junge Miss Newnes kommt im November 1898 als Hauslehrerin nach Hargen House, das in einer nordenglischen Einöde liegt und noch aus dem 16. Jahrhundert stammt. Sie soll Esmé unterrichten, die Tochter von Sir Philip Lister, einem zurückgezogen lebenden Ägyptologen. Davenport, der Butler, und Mrs. Wiseman, die Haushältern, führen das Haus.

Affen spielen auf dem Grundstück eine besondere Rolle. Esmé zeigt ihrer Lehrerin die Käfige der Gibbons und Makaken, doch der vierte Käfig für den „bleichen Affen“ ist leer. „Aber sein Geist geht um“, versichert ihr die Zwölfjährige. Und die ringsum herabstürzenden, ohrenbetäubend rauschenden Bäche haben ebenfalls eine Besonderheit: den „Affen“ genannten Wasserfall. Tatsächlich kann Miss Newnes nach mehreren Minuten des Lauschen ein sinistres KICHERN wahrnehmen. Sie schaudert.

In der Nacht, als sie Sir Listers Diktat über die alten Pharaonen entgegennehmen durfte, ereignet sich ein unheimlicher Zwischenfall. In der düsteren Regennacht vermeint sie, das bleiche Gesicht eines Affen kopfüber von den Bäumen vor ihrem Fenster zu erblicken. Sie fällt in Ohnmacht. Davenport muss drei Tage das Bett hüten und als sie ihn wiedersieht, weist sein Hals Würgemale auf. Das Haus ist verstört und alle gehen wie auf Zehenspitzen.

Das ändert sich mit der Ankunft von Sir Listers Neffen Huggins, der aus Indien für einen Monat zu Besuch ist. Er verguckt sich sofort in Miss Newnes, und sie verliert ihr Herz an den stürmischen jungen Mann, der ihr schon bald seine Liebe gesteht und um ihre Hand bittet. Sie kann sie ihm nicht verwehren. Schon bald gehen sie im Dorf aufs Standesamt und lassen sich trauen. Verwundert erkennt die ehemalige Miss Newnes Sir Lister als einen der Spaziergänger auf der Straße – wo er sich doch nie aus seiner Höhle hervortraut!

Es folgt eine Nacht voller Schrecken, an deren Ende zwei Menschen tot sind und ein Dritter wünscht, er wäre es …

Mein Eindruck

Lovecraft haute diese Story total um. Kein Wunder, denn es geht um Geister, Seelenwanderung, die Dualität zwischen Mensch und Tier bzw. das Tier im Menschen. Das alles wird mit hoher Emotionalität von der weiblichen Hauptfigur geschildert, aber vom Autor so wohldosiert dargeboten, dass sich der unheimliche Verdacht, den wir gegen Sir Lister hegen, schließlich auf finsterste Weise bestätigt wird.

Nach der ersten Nacht des Grauens scheint Huggins Lister die Liebe und Sonnenschein nach Hargen House zu bringen, doch in Wahrheit ist dies der Auftakt zum finalen Unheil. Denn es gibt einen Dritten, der eifersüchtig über die attraktive Hauslehrerin wacht und nicht bereit ist, von ihr zu lassen …

6) Der Primas der Rose

Crooks ist ein neugieriger und aufstrebender Kulturkritiker, Journalist und Romancier. Seine Ambition verleitet ihn dazu, sich an den Zeitungs-Herausgeber Smyth ranzumachen, der eine Klasse über ihm steht, so etwa mit der Frage: „Gibt es in London überhaupt Geheimgesellschaften?“ Er habe da was läuten hören, dass Smyth zu einer gehöre. Smyth lässt sich zu keiner Informationspreisgabe hinreißen. Er hat immer einen verwunderten Ausdruck im Gesicht. Aber er gewährt Crooks eine Einladung zum Abendessen – unerhört!

So lernt der verheiratete Crooks die unverheiratete Schwester von Smyth kennen, Minna. Und er verführt sie, weil sie ihm verrät, dass ihr Bruder immer freitags das Haus spätabends verlässt und erst frühmorgens zurückkehrt. Doch an diesem Freitag kehrt Smyth früher als sonst zurück – kein Licht im Wohnzimmer, keiner der Bediensteten in der Küche. Höchst verdächtig. Er lässt sich am nächsten Morgen bei Minna entschuldigen, dann wirft er sie per Brief aus der Wohnung. Natürlich bekommt sie eine andere. Nach der angemessenen Zeit bringt sie eine Tochter zur Welt.

Smyth nimmt die kranke Minna wieder auf, die jedoch schon bald stirbt. Er kümmert sich um das Töchterchen. Crooks lässt nicht lange auf sich warten und beansprucht das Kind. Smyth lehnt ab, gewährt nur zweimal die Woche Zutritt. Crooks, der eh schon genug Mätressen hat, vergisst Minna offenbar mit Leichtigkeit. Doch Smyth vergisst nie.

Als Crooks wochenlang auf dem Thema Geheimgesellschaften herumreitet, findet sich Smyth beim sechsten Mal dazu bereit, ihn der Gesellschaft der „Freunde der Rose“ vorzustellen. Aber Crooks muss sich die Augen verbinden lassen und einen Bart ankleben. Die Fahrt geht in den Osten Londons, wie Crooks schnell merkt. Generatoren verbreiten ihren charakteristischen Lärm, als sie ankommen und in ein Gebäude gehen.

Darin sieht sich Crooks unvermittelt von Smyth eingesperrt. Crooks starrt auf die Gebeine, auf denen er steht – und durch das Glas in der Tür auf die verblüffende Zeremonie, die der Primas – eben Smyth – veranstaltet. Jetzt ist er aber gespannt …

Mein Eindruck

Eigentlich ist dies gar keine richtige fantastische Erzählung. Etwas Übernatürliches findet nicht statt. Lediglich Smyth scheint Verbindung zu einem übernatürlichen Mysterium zu haben, und Crooks ist der einzige Beobachter. Aber zwischen Crooks und dem Mysterium erfolgt keine Interaktion, was ich etwas schade fand.

Daran, dass auch hier das Shiel’sche Dauerthema von Schuld und Sühne zum Tragen kommt, besteht jedoch kein Zweifel. Crooks ist ein skrupelloser Casanova und hat Smyths Schwester Minna auf dem Gewissen, zumindest in Smyths Augen muss er dafür büßen. Interessant ist jedoch, dass Smyth seinen Gegner dadurch in die Falle lockt, dass er sich sträubt, ihm das Mysterium zu offenbaren. Crooks wäre misstrauisch geworden, hätte sich Smyth allzu bereitwillig dazu bereiterklärt. Danach ist seine Rache umso süßer.

Die Umsetzung erinnert entfernt an „Das Fass Amontillado“ von E.A. Poe, in dem der Rächer seinen Kontrahenten Fortunato lebendig einmauert. Smyth sperrt Crooks ebenfalls lebendig ein.

Die Anhänge

1) M.P. Shiel: Was mich betrifft (1929/35)

In dieser biografischen Skizze zeichnet der Autor seinen Werdegang als Schreibender und Publizierender von den ersten Tagen bis ins Jahr 1929 nach. Bemerkenswerten Einfluss hatte offenbar die tägliche Bibellektüre mit seinem Vater, dem Methodistenprediger Matthew Dowdy Shiell (siehe oben unter „Autor“). Deshalb auch die vielen Bibelmotive in seinen hier vorliegenden Erzählungen. Sogar der Name seines Protagonisten John Dowdy Saul ist an den seines Vaters angelehnt.

Gegen Schluss der Skizze erweist sich Shiel als ein gebildeter Kritiker von Menschen, die nicht selbst zu denken wagen und ihren Verstand lieber betäuben, z.B. durch schlechte Romane. Shiel erwähnt nur ein einziges Mal seine Mutter, die er nicht einmal bei Namen nennt. Sie war nämlich Mulattin, und das passte nicht in sein Weltbild, wenn wir Scheck/Hauser („Als ich tot war, Band 2“) glauben wollen.

2) Javier Marias‘ Redonda

Dies sind acht Seiten einer Namensliste der Würdenträger des Königreichs Redonda. Sie sind nur für kulturell Interessierte von Reiz, denn sie finden so bekannte Namen wie Pedro Almodóvar, William Boyd, Alice Munro und sogar den Verleger Michael Klett.

3) Anmerkungen

Einer der wertvollsten Beiträge dieses Buches. Die Anmerkungen stellen die durchnummerierten Endnoten zu den Texten dar und liefern eingehende Informationen zu jeder Art von Anspielung und Zitat – und von Letzteren gibt es jede Menge.

4) Fotos

Die Fotos, die an die Anmerkungen angehängt sind, zeigen zweimal Redonda und einmal den Autor M.P. Shiel.

Die Übersetzung

Die Übersetzer Wolfgang Krege (Englisch) und Carina Enzenberg (Spanisch) haben erstklassige Arbeit geleistet. Jeder Text zeugt von stilistischer Gewandtheit und Sicherheit, Druckfehler gibt es keine. Die Anmerkungen tragen stark zum Verständnis des Textes und der Motti bei, die ihnen vorangestellt sind.

Unterm Strich

Eine solche Anthologie hat uns in Deutschland seit Jahren gefehlt, womöglich ist sie sogar die Erste hierzulande überhaupt. Dabei ist Shiel im angelsächsischen Raum durch seine Krimis und phantastischen Romane wie „Die purpurne Wolke“ und „Die gelbe Gefahr“ ein bekannter Name. Unverkennbar sind die Einflüsse von E. A. Poe (Der Fall des Hauses Usher“) und der Bibel.

Die Geschichten von Hiob und Jonas sind unübersehbar die Folie, vor der die Geschichten von John Dowdy Saul und „Der bleiche Affe“ spielen. Schuld und Sühne spielen auch in „Die Braut“ und „Der Primas der Rose“ eine zentrale Rose – Unrecht wird vergolten, egal auf welch kuriose Weise. Diese zwei Schauergeschichten erweisen sich auch als interessante Spiegel des gesellschaftlichen Lebens in London, während „Vaila“ und „Der bleiche Affe“ das Landleben von Sonderlingen schildern.

Das Gefühl einer Endzeit lässt sich nicht abschütteln. Deshalb wurde Shiel auch immer zum Fin-de-siècle und zur britischen Dekadenz gerechnet, obwohl er selbst mit seinem Schuld & Sühne-Thema nicht gerade dekadent wirkt. Bemerkenswert indolent und träge sind jedoch einige seiner Protagonisten, so etwa Dowd in seiner Vulkanhöhle, der lieber Schnaps trinkt als sich wie Robinson Crusoe eine Welt zu erschaffen.

Eigentlich hätte man den ganzen Redonda-Apparat weglassen können. Aber er nun mal als Vehikel für die Storys und sogar für die biografische Skizze. Das einzige, was fehlt, ist ein objektives Urteil über den Autor selbst. Stattdessen wird es ihm überlassen, sich selbst vorzustellen. Wer ein etwas ungeschminkteres Bild von Shiel erhalten möchte, der schlage bei Scheck/Hauser, „Als ich tot war, Band 2“ (Blitz, Windeck, 2008) nach. Dieser Band bietet zusätzlich zu „Vaila“ und „Huguenins Frau“ auch die Erzählung „Tulsa“.

Hardcover: 254 Seiten
Originaltitel: La mujer de Huguenin (2000, Barcelona)
Aus dem Englischen von Wolfgang Krege
Aus dem Spanischen von Carina von Enzenberg
ISBN-13: 978-3608936315

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