Silverberg, Robert – Jahre der Aliens, Die

_Mit langem Atem erzählt: die Jahre der Alien-Besatzung_

Es ist wie in Roland Emmerichs Film „Independence Day“: Plötzlich landen gigantische Raumschiffe überall auf der Erde. Es erfolgt keine Kommunikation, keine Friedensbotschaft, nicht mal eine kriegerische Auseinandersetzung: Die Aliens ziehen bloß den Stecker raus: Sie schalten sämtliche Elektrizität auf dem Planeten ab. Dann bauen sie ein Netz von Informanten auf. Niemand ist mehr vor Überwachung und Verfolgung sicher.

Doch einige Menschen gehen in den Untergrund, organisieren den Widerstand und nehmen den Kampf gegen die schier übermächtigen Gegner auf – ein Kampf, der sich über mehrere Generationen erstreckt. (ergänzte Verlagsinfo)

Dieser Roman erschien rechtzeitig zum hundertsten Geburtstag von H.G. Wells‘ epochalem Invasionsroman |“Krieg der Welten“. 1475
Dass es sich außerdem um eine Hommage an den zehn Jahre zuvor – also 1988 – verstorbenen SF-Maestro Robert ANSON Heinlein handelt, lässt sich an der Tatsache ablesen, dass die meisten Männer der Carmichael-Sippe den Vornamen ANSON tragen. Heinlein schrieb 1951 den klassischen Invasionsroman [„Die Marionettenspieler“. 2625

_Der Autor_

Robert Silverberg, geboren 1936 in New York City, ist einer der Großmeister unter den SF-Autoren, eine lebende Legende. Er ist seit 50 Jahren als Schriftsteller und Anthologist tätig. Seine erste Erfolgsphase hatte er in den 1950er Jahren, als er 1956 und 1957 nicht weniger als 78 Magazinveröffentlichungen verbuchen konnte. Bis 1988 brachte er es auf mindestens 200 Kurzgeschichten und Novellen, die auch unter den Pseudonymen Calvin M. Knox und Ivar Jorgenson erschienen.

An Romanen konnte er zunächst nur anspruchslose Themen verkaufen, und Silverberg zog sich Anfang der 60er Jahre von der SF zurück, um populärwissenschaftliche Sachbücher zu schreiben: über 63 Titel. Wie ein Blick auf seine „Quasi-offizielle Webseite“ www.majipoor.com enthüllt, schrieb Silverberg in dieser Zeit jede Menge erotische Schundromane.

1967 kehrte er mit eigenen Ideen zur SF zurück. „Thorns“, „Hawksbill Station“, „The Masks of Time“ und „The Man in the Maze“ sowie „Tower of Glass“ zeichnen sich durch psychologisch glaubwürdige Figuren und einen aktuellen Plot aus, der oftmals Symbolcharakter hat. „Zeit der Wandlungen“ (1971) und „Es stirbt in mir“ (1972) sind sehr ambitionierte Romane, die engagierte Kritik üben.

1980 wandte sich Silverberg in seiner dritten Schaffensphase dem planetaren Abenteuer zu: „Lord Valentine’s Castle“ (Krieg der Träume) war der Auftakt zu einer weit gespannten Saga, in welcher der Autor noch Anfang des 21. Jahrhunderts Romane schrieb, z. B. „Lord Prestimion“.

Am liebsten sind mir jedoch seine epischen Romane, die er über Gilgamesch (Gilgamesh the King & Gilgamesh in the Outback) und die Zigeuner („Star of Gypsies“) schrieb, auch „Tom O’Bedlam“ war witzig. „Über den Wassern“ war nicht ganz der Hit. „Die Jahre der Aliens“ wird von Silverbergs Kollegen als einer seiner besten SF-Romane angesehen. Manche seiner Romane wie etwa „Kingdoms of the Wall“ sind noch gar nicht auf Deutsch erschienen.

Als Anthologist hat sich Silverberg mit „Legends“ (1998) und „Legends 2“ einen Namen gemacht, der in der Fantasy einen guten Klang hat. Hochkarätige Fantasyautoren und –autorinnen schrieben exklusiv für ihn eine Story oder Novelle, und das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen. Der deutsche Titel von „Legends“ lautet „Der 7. Schrein“.

[„Legenden: Lord John, der magische Pakt“ 2581
[„Legenden: Das Geheimnis von Otherland“ 2580

_Handlung_

Die Hügel um Los Angeles stehen in Flammen. Die Aliens sind gelandet und haben mit ihren Schiffsdüsen das knochentrockene Gras und Buschwerk in Brand gesetzt. Was die Außenweltler hier eigentlich wollen, ist den Behörden und Soldaten lange nicht klar, denn es gibt zunächst keine Kommunikationsmöglichkeit. Die Aliens in L.A. sind fünf Meter große, tintenfischähnliche Wesen, die sich mit langen Fangarmen aus den gaffenden Zuschauern ein paar Exemplare herausfischen, um sie ins Innere ihres Schiffes zu bringen. Cindy Carmichael ist ebenfalls darunter und total happy darüber. Endlich kann sie die Botschafter von den Sternen willkommen heißen …

Ihr Mann Mike Carmichael, der gerade von einem Meditationsurlaub in New Mexico zurückkommt, ist von der Nachricht, dass Cindy entführt worden sei, wenig begeistert. Nachdem der Vietnamveteran seiner Pflicht als Pilot eines Löschflugzeugs Genüge getan hat, spricht er mit ihr über eine militärische Videofonanlage. Sie sagt, sie wolle mit dem Fremden zu den Sternen fliegen. Das bricht ihm verständlicherweise das Herz, denn er liebt dieses verrückte Frauenzimmer wirklich. Er fliegt in die Berge, bis die Maschine kein Benzin mehr hat und abstürzt.

Mikes Bruder, der Oberst a.D. Anson Carmichael III., ist von diesen beiden Nachrichten schwer betroffen. Als sich alte Kollegen in Washington sich seiner erinnern und ihn als Sonderberater holen, verschweigt er jedoch die Tatsache, dass die „verrückte Frau an Bord des Alienschiffs“ seine Schwägerin ist. Die Vorschläge, die im Beratungsgremium gemacht werden, um die weltweite Invasion der unterschiedlichen Fremdwesen abzuwehren, sind nicht wesentlich vernünftiger als Cindys enthusiastisches Gefasel. Der Oberst rät dringend, von Waffengebrauch abzusehen und sich zurückzuhalten, denn offensichtlich sind die Außenweltler auf einem höheren Entwicklungsstand als die Erde. Wer weiß, wozu sie in der Lage sind.

Dies zeigt sich schon auf dem Rückflug nach Kalifornien. Überall auf der Welt fällt der Strom aus. Erst nur zwei Minuten lang, nach sieben Minuten dann für eine lange Zeit. Offenbar haben Angriffe die Aliens zu Vergeltungsmaßnahmen greifen lassen. Nachdem sich die Elektronik an Bord des Flugzeugs, in dem der Oberst und mehrere andere Sonderberater sitzen, wieder eingeschaltet hat, bringt der Pilot die Kiste schleunigst auf den Boden – gerade noch in letzter Sekunde, bevor die Lichter vollends ausgehen. Auf der ganzen Welt.

Neun Jahre später ist die menschliche Zivilisation auf den Stand des 19. Jahrhunderts, maximal aber auf den Stand des Jahres 1937 zurückgefallen. Die Barbarei ist allumfassend, und nur in Inseln der Technik, wo sich wieder funktionierende Elektrizität eingestellt hat, gibt es halbwegs geregelte Lebensumstände und Computernutzung. Die ersten Hacker wagen sich wieder aus ihren Löchern, und einer von ihnen setzt es sich in den Kopf, den Kontakt zum Netzwerk der Aliens herzustellen. Den einzigen, den es geben wird. Sein Name ist Karl-Heinrich Borgmann. Er könnte genauso Judas lauten …

Oberst Carmichael ruft an Weihnachten alle seine Kinder, Neffen und Enkel zusammen: Sie sollen alle bei ihm auf seiner Ranch wohnen, denn schon bald werde alles noch viel schlimmer werden. Der mittlerweile 64 Jahre alte Militär offenbart sich als General des nationalen Widerstands gegen die Invasoren. Doch nun sei er in seinem Organisationskomitee überstimmt worden, und der Widerstand werde an Neujahr einen Angriff auf das Alien-Hauptquartier in Denver starten. Die Folgen sind noch nicht absehbar. Aber er befürchtet das Schlimmste.

Wie Recht der Oberst mit seinen Befürchtungen hat, zeigt sich schon binnen zwei Tagen. Wieder fällt der Strom aus – 39 Tage lang, und das mitten im Winter. Zudem setzen die Außerirdischen eine biologische Waffe ein, der binnen eines halben Jahres drei Milliarden Menschen zum Opfer fallen, also die Hälfte der Weltbevölkerung.

Der Oberst und seine Familie harren in seiner Hügelfestung aus, doch wie lange können sie sich noch halten? Und wie kann irgendein Mensch jemals so nahe an ein „Wesen“ herankommen, um es zu töten, wenn doch die telepathischen Kräfte des Wesens die feindlichen Gedanken des Angreifers wahrnehmen können und so das Wesen rechtzeitig vor einem Angriff warnen? Es sieht nach einer Weile so aus, als seien unantastbare Götter auf die Erde herabgestiegen, um sie sich vollständig untertan zu machen.

Doch da wird im englischen Salisbury ein Junge geboren, der zur Nemesis für die Wesen werden wird. Allerdings werden lange Jahre vergehen, bis der Widerstand ihn entdeckt und zu nutzen versteht. Denn Khalid Burke ist ein ganz besonderer Mensch. Er selbst sagt natürlich, er sei nichts Besonderes. Doch im Schoße der Familie Carmichael erweist sich seine Besonderheit als wertvoller als Gold: Er ist der einzige Mensch, dem es gelungen ist, eines der Wesen zu töten …

_Mein Eindruck_

Der Roman beginnt wie mit einem dieser apokalyptischen Tage, die in der amerikanischen Science-Fiction so beliebt sind: Die Aliens landen, ein Asteroid nähert sich der Erde, eine Epidemie, ein Erdbeben oder eine Riesenwelle, die Eiszeit oder tropische Glut – wieder einmal ist der Weltuntergang angesagt. Nun ist es offensichtlich an der Zeit, dass der Mensch zeigt, aus welchem Stoff er gemacht ist – auch ein Stephen King hat dieses Spiel durchexerziert, so etwa in „Puls“ und davor schon in „The Stand – Das letzte Gefecht“.

|Armageddon A-Z|

Das Spiel dient dazu, die aktuelle Zeit auf den Prüfstand zu stellen und herauszufinden, was funktioniert und was nicht. Wie sich zeigt, funktionieren nur Liebe und Sex wie eh und je, aber wehe, irgendjemand zeigt, dass Liebe und Sex auch zwischen zwei Männern oder zwei Frauen funktionieren können. Das würde eindeutig den Fortbestand der Menschheit bedrohen. Folglich zeichnen sich die meisten Endzeitszenarien nicht gerade durch progressives Gedankengut aus. Was nicht heißen soll, dass es in den USA keine progressiven SF-Autoren gäbe – man denke nur an Octavia Butler und Samuel Delany (zufällig beides Schwarze).

|Macht euch die Erde untertan!|

Silverbergs Roman ist keine Ausnahme von dieser Regel, und so überleben die Carmichaels in ihrer Bergfestung, indem sie jede Menge Kinder in die Welt setzen – es ist ja auf der halb leer gefegten Erde wieder genügend Platz dafür. Aber sich zu mehren und die Welt zu bevölkern, wie es das AT vorschreibt, ist noch lange keine Methode, die Außerirdischen zu besiegen. Vielmehr erweist es sich als Möglichkeit, auf lange Sicht zu überleben und in alle möglichen Positionen hineinzukommen.

Außerdem stellen sich in der dritten und vierten Generation nach dem Oberst beachtliche Abweichungen heraus: Andy Gannett, der Held des letzten Romandrittels, ist zwar der beste Hacker der Welt, aber mit den Interessen der Carmichaels und ihrer Widerstandsorganisation hat er nichts am Hut. Sein Onkel nennt ihn sogar einen „Mutanten“. Zu etwas muss die Genetik ja gut sein.

|Werft das Joch ab!|

An Andy Gannett lässt sich die Hauptthese des Autors ziemlich genau ablesen. Ob die Menschheit unter der Besatzung der Außerirdischen überlebt, ist zwar schon eine Frage der Fortpflanzung. Aber ob sich die Menschheit jemals wieder von diesem Joch befreien kann, ist von einer ganz anderen Fähigkeit abhängig. Wie der Oberst nie müde wird zu betonen, ist es dem Menschen bestimmt, sich selbst zu bestimmen, in Freiheit, Würde und Gerechtigkeit. Das sind keine ideologischen Worthülsen, sondern sind vom Oberst und seiner Familie immer wieder mit Inhalt gefüllt worden, weil diese Werte gelebt wurden. Die Carmichaels sind keine Ideologen und gehören keiner Partei oder Sekte an. Sie sind einfach nur so, wie man sich den idealen Amerikaner vorstellt.

|Die Kehrseite der Medaille|

Aber Ideale zu erkämpfen, ist eine schwere Bürde, und es ist sogar noch schwerer, sie zu befolgen und ihren Verlust zu verkraften. Das ist die dunkle Seite in der Familiengeschichte der Carmichaels, der wir durch mehrere Generationen folgen. Sie ist der Preis, den die eifrigsten Verfechter dieser Ideale zahlen müssen. Der erste, der bezahlte, ist der mutige Feuerbekämpfer Mike: Als seine Frau Cindy zu den Aliens überlief, sah er sich verraten und flog sein Flugzeug in den Freitod.

In den nachfolgenden Patriarchen nagt ebenfalls das Gefühl der Unzulänglichkeit: Anse wird zum Trinker und säuft sich in ein frühes Grab. Seinen Posten übernimmt sein Bruder Ron, danach dessen Sohn Anson (dieser Vorname ist ein Erbteil des Obersts). Anson schließlich gelingt es, mit Khalid Burke und Andy Gannett die entscheidenden Mitglieder des Widerstandes für sich einzuspannen. Anson hat bereits seinen Bruder Tony auf ein Himmelfahrtskommando geschickt und ihn an die Aliens verloren. Daher nagt die Schuld ständig an ihm, ebenso wie die Angst, noch ein Familienmitglied auf eine sinnlose Mission zu schicken.

Doch in Khalid hat Anson einen Mann gefunden, der keine Fehler duldet, denn das Leben seines Sohnes Raschid sei ihm heilig. Der Autor legt hier große Sympathie für Anhänger des Islam an den Tag, eine Sympathie, die heute, nach den Ereignissen des 11. September, verwundern würde. Es ist der Glaube an einen unerkennbaren Gott (unergründlich außer durch seine Offenbarung im „Koran“) und nicht etwa der Existentialismus à la Camus, der die Widerständler durchhalten lässt. Ich verrate nicht, ob der Anschlag im 52. Jahr nach der Landung der Wesen gelingt oder nicht.

|Die „Wesen“ und ihre Helfer|

Ebenso wichtig für die Geschichte wie die Angehörigen des Widerstands sind die Wesen und die Diktatur, die sie auf der Erde errichten. Die Aliens sind nicht hässlich, keine insektenäugigen Ungeheuer (bug-eyed monsters) wie in der Pulp Fiction der 1930er und 1940er SF. Für Khalid sind sie sogar schön, zumindest die 5 m große Rasse, die offenbar den Ton angibt. Die anderen Spezies – die „Nilpferde“ und die „Gespenster“ – sind ihnen untergeordnet.

Wie schon eingangs erwähnt, erzwingen die Wesen die Mitarbeit der Menschen. Ganz konkret erfolgt dies durch eine telepathische Übernahme, die „der Stoß“ genannt wird, und durch „den Druck“ ergänzt wird, der das Opfer veranlasst, etwas Bestimmtes zu tun. Die Kohorten an Helfern werden ebenso organisiert, wie dies in einem totalitären Staatssystem der Fall wäre, etwa in marxistischen (Stalin) oder nationalistischen Sozialismen (das 3. Reich). Die Carmichaels nennen diese Menschen Quislinge und Borgmanns (s. o.), also Verräter und Kollaborateure.

In der Abhängigkeit von den Aliens liegt eine große Gefahr, wie die Carmichaels nach 50 Jahren erkennen müssen. Nun leben kaum noch Menschen, die das System davor – also unseres – kennen, aber jede Menge Menschen, die nur die Herrschaft der Aliens kennen. Sie sind unselbständig und völlig abhängig davon, dass ihnen die Aliens und ihre weltweite Organisation sagen, was sie als nächstes zu tun haben. Es gibt weder Privatbesitz noch Bewegungsfreiheit, aber auch keinen Hunger, keine Armut, keinen Krieg. Wären die Aliens von einem Tag auf den nächsten fort, so wüssten diese Menschen nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen könnten: Als hätte man den Marionetten die Fäden durchschnitten. Unter diesen Massen nehmen sich die Carmichaels wie die große Ausnahme aus. Kein Wunder, dass es zur Konfrontation kommt.

|Die Grauzone der Hacker|

Der interessanteste Teil des Romans spielt 30-50 Jahre in der Zukunft, also Mitte des 21. Jahrhunderts. Zwischen Widerstand und Kollaboration gibt es einen grauen Bereich, den Untergrund. Hier tummeln sich die Hacker. Und Andy Gannett ist der beste unter ihnen. Leider aber nicht der klügste, denn sonst wäre er den Häschern der LACON-Organisation nicht in die Falle gegangen. Die LACON-Bürokratie vertritt in Los Angeles die Interessen der Außerirdischen. Andy arbeitet illegal als „Begnadiger“. Durch seine Manipulation der Alien-Computer macht er negative Beurteilungen und Versetzungen rückgängig, lässt sich das aber auch gut bezahlen.

Hacker und andere „moderne“ Menschen besitzen ein Bioimplantat, das einen kleinen Computer darstellt, mit dem sie sich per Funk (WLAN und ähnliches) untereinander und mit Rechnern austauschen können. Auch Spracheingabe ist an manchen Computern möglich, so etwa im Auto. Was 1998 noch Utopie schien, ist heute schon Realität: WLAN und Wifi sowie Spracheingabe und implantierte Chips. Es gibt eine schöne Szene, in welcher der verhaftete Andy es schafft, sich in den Zentralrechner der Aliens einzuloggen und darin allerlei Unfug zu treiben. Ich fühlte mich an den ersten Virtual-Reality-Film namens „Tron“ erinnert – und in der Cyberpunk-SF Anfang/Mitte der 1980er Jahre waren solche Szenen gang und gäbe.

|Entwicklungen|

Man sieht also, dass nicht nur die Entwicklung der Sippe der Carmichaels und ihrer Gesellschaft voranschreitet, sondern auch die Technik, die es sowohl Aliens als auch Hackern und Widerständlern (Hacker sind nicht automatisch Rebellen) erlaubt, sich gegenseitig zu unterdrücken oder zu sabotieren, je nach Standpunkt. Ideologie spielt dabei keine Rolle, nicht einmal Religion.

Die Aliens wollen – ja, was wollen sie eigentlich? Auch am Schluss fragen sich die Menschen immer noch, was die Besucher von den Sternen hier eigentlich wollen bzw. wollten. Ein neues Siedlungsgebiet vielleicht, ohne die Einheimischen als Lebensform völlig auszulöschen. Es ist nicht gesagt, dass sich menschliche Kolonisatoren auf einer fremden Welt besser benehmen würden. Wahrscheinlich wäre das Gegenteil der Fall: die Ausrottung der Eingeborenen. Es wäre nicht das erste Mal.

|Die Übersetzung|

… erfolgte diesmal nicht durch Silverbergs Standardübersetzer Roland Fleissner, sondern durch Walter Brumm. Er ist einer der langjährigen |Heyne|-Übersetzer im Bereich SF. Zum überwiegenden Teil macht Brumm seine Sache sehr gut und bleibt durchweg verständlich. Fremdwörter und Jargon sind seine Sache nicht, aber auch mit neuer Technik hat er keine Probleme.

Nur drei Fehler konnte ich finden. Auf Seite 176 (und nochmals kurz vorher) ist die Rede von „Highwayen“ statt des normalen „Highways“. Das ist eine sehr sonderbare Fügung und sieht aus, als wäre das Wort „Autobahn“ per Knopfdruck durch „Highway“ ersetzt worden, ohne auch den Plural zu ersetzen. Sieht jedenfalls total schief aus.

Auf Seite 289 ist einer der typischen Buchstabendreher zu finden, der aber diesmal besonders lustig aussieht: statt „Art und Weise“ lautet es diesmal „Art und Wiese“ … Auf Seite 540 sollte es statt „ihn“ nur „in“ heißen, dann ergibt der Satz einen Sinn.

_Unterm Strich_

Einen epischen Roman von Robert Silverberg zu lesen, ist wie in einen dicken großen Rolls-Royce zu steigen und sich dem zuverlässigsten Chauffeur der Welt anzuvertrauen. Man weiß genau, dass nichts schief gehen wird, dass man am gewünschten Ort ankommen wird und dass die Fahrt in diesem ruhig dahinrollenden Gefährt auf jeden Fall eine angenehm verbrachte Zeit bedeutet.

Hierfür braucht man keine Versicherung abzuschließen: Man bekommt hundert Prozent Unterhaltung auf hohem Niveau, höchstwahrscheinlich auch eine Menge Spannung, der Stil ist stets verständlich und nicht von oben herab – und nicht zuletzt lernt man eine paar sehr interessante und recht menschlich geschilderte Leute kennen, von denen man am Schluss nur ungern wieder Abschied nimmt.

So ist es auch mit „Die Jahre der Aliens“. Von einem Katastrophenroman kann keine Rede sein, noch nicht mal von einem Cyberpunkroman, obwohl beide Elemente enthalten sind. Auch eine Familiengeschichte ist darin eingeflochten, und das ist natürlich der menschlichste Teil daran. Als ich die neuen Erzählstränge um Khalid Burke und Karl-Heinrich Borgmann las, fragte ich mich, was die hier zu suchen hatten.

Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen. Beide spielen im letzten Drittel des Buches eine wichtige Rolle, und sogar Cindy Carmichael, Mikes Frau, taucht wieder auf. Die Fäden dieser Nebenhandlungen verschwinden nahtlos im großen Gewebe und tragen eine neue Farbe dazu bei. Das ist die Kunst eines großen Meisters. Silverberg schreibt nicht umsonst schon fünfzig Jahre lang Sachbücher und erfundene Geschichten.

Es fällt mir schwer, an dem Buch herumzumäkeln, weil es einfach so perfekt ist. Dennoch scheint mir die Alien-Invasion insgesamt etwas zu glimpflich zu verlaufen und der Autor den Leser vor den schlimmsten Gräueln abzuschirmen. Wer jedoch Phantasie und Vorstellungskraft besitzt, kann sich bereits aus dem, was am Rande erwähnt wird – etwa die gigantische Pornosammlung Borgmanns, die er sich durch die Überwachung Prager Frauen zusammengestohlen hat – zusammenreimen, was an Leid und Unrecht in dieser Welt geschieht. Auch das Leben Khalids ist keineswegs ein Zuckerschlecken, schon gar nicht, nachdem er ein Wesen getötet hat.

Ein paar wenige Szenen müssen also genügen, dem Leser eine Ahnung von den Schrecken zu geben. Wer eine härtere Gangart bevorzugt, kommt bei Autoren wie Delany, Butler (s. o.) oder auch Jack Womack und den Cyberpunks auf seine Kosten. Silverberg ist zu sehr Gentleman, um das vorhandene Sensationspotenzial auf Kosten des Feingefühls auszuschlachten. Und nur mit Gentlemen fährt man gerne im epischen Rolls-Royce.

|Originaltitel: The Alien Years, 1998
590 Seiten
Aus dem US-Englischen von Walter Brumm|