Sinclair, Alison – Nachtgeboren

_Balthasar Hearne ist_ überhaupt nicht begeistert davon, dass die ehemalige Geliebte seines Bruders Lysander ausgerechnet ihn um Hilfe bittet. Sie jedoch unmittelbar vor Sonnenaufgang abzuweisen, würde ihren sicheren Tod bedeuten. Was das Ganze für ihn und seine Familie bedeutet, wird ihm allerdings leider erst zwei Tage danach klar, und da ist es längst zu spät …

_Im Zentrum des Geschehens_ stehen Balthasar, seine Frau Telmaine und der Baron Strumheller. Balthasar ist zwar adliger Herkunft, jedoch lediglich aus einer unbedeutenden Seitenlinie. Er ist weder besonders reich, noch besonders wichtig. Da ihn das von der Notwendigkeit entbindet, sich mit politischen Intrigen herumzuschlagen, konnte er sich der Wissenschaft widmen, vor allem der Medizin. Balthasar ist ein sehr sanftmütiger, friedfertiger Mensch, der seine Hilfe unterschiedslos allen Bedürftigen zukommen lässt.

Seine Frau Telmaine dagegen stammt aus dem Hochadel und hat dementsprechende Beziehungen. Dass sie so weit unter ihrem Stand geheiratet hat, hat seine Ursache in einem Geheimnis, das sie selbst vor ihrem Ehemann verborgen hat: Telmaine ist eine Magierin! Ein Skandal, wenn die gute Gesellschaft davon erführe! Doch die Folgen von Balthasars verhängnisvoller Hilfe für Lysanders einstige Meträsse sorgen dafür, dass Telmaine beginnt, sich von den gesellschaftlichen Konventionen zu lösen. Zum Vorschein kommt eine kluge, mutige und zu allem entschlossene Frau.

Baron Strumheller seinerseits ist ein Außenseiter der Gesellschaft, denn auch er ist ein Magier. Nachdem er deswegen im Alter von sechzehn Jahren von seinem Vater enterbt und verstoßen worden ist, hat er lange Zeit in den Grenzlanden gegen die Schattengeborenen gekämpft, das hat ihn wachsam, scharfsinnig und zäh gemacht. Gleichzeitig ist er aber auch einsam, und das Zusammentreffen mit Telmaine ist für ihn etwas Besonderes.

Das Angenehme an der Charakterzeichnung ist, dass der Leser es hier nicht mit Helden, sondern mit durchschnittlichen Personen zu tun hat, und vor allem, dass dies an keiner Stelle ausdrücklich betont wird. Außerdem sind sie alle sehr stimmig und plastisch geraten, das gilt selbst für Nebenfiguren wie Balthasars Schwester oder den jungen Adligen Guillaume de Mauriers.

Die Handlung von Alison Sinclairs Geschichte lebt vor allem von der ungewöhnlichen Szenerie. Vor Jahrhunderten hat eine Gruppe von Magiern einen mächtigen Fluch ausgesprochen, der dazu führte, dass sich die Menschheit in hauptsächlich zwei verschiedene Rassen teilte. Die Nachtgeborenen vertragen nichts, was heller ist als eine Kerzenflamme oder ein Kaminfeuer, alles andere verbrennt sie zu Asche. Da sie ständig im Dunkeln leben, sind sie blind, haben als Ersatz dafür aber einen zusätzlichen Sinn entwickelt, das Sonar. Dieser Sinn erinnert an Fledermäuse, ist aber viel leistungsfähiger; er ermöglicht es sogar, Gestalt, Kleidung, selbst Gesichtszüge und ihre Mimik zu erkennen und zu deuten. Die Lichtgeborenen dagegen lösen sich ohne ausreichende Lichtquelle in kurzer Zeit einfach auf.

Und dann gibt es noch die Schattengeborenen, über die der Leser aber vorerst nicht allzu viel erfährt. Sie greifen ständig die Grenzlande an, da aber alle Informationen über sie bisher nur von Nachtgeborenen stammen, die sie als Ungeheuer bezeichnen, ist das Bild höchst vage. Zunächst scheinen die Schattengeborenen auch keine allzu große Rolle zu spielen. Die Geschichte betrifft vorerst nahezu ausschließlich Nachtgeborene, allein Balthasars Nachbarin und gute Freundin Floria ist eine Lichtgeborene, und auch sie ist vorerst nur eine Randfigur.

Besagter Fluch hatte letztlich zur Folge, dass Nacht- und Lichtgeborene, obwohl sie nebeneinander in derselben Stadt leben, so gut wie keinen Kontakt mehr zueinander haben. Dadurch hat sich auch die Kultur in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Während die Nachtgeborenen Magie ablehnen und dieses Tabu durch technische Erfindungen kompensieren, ist bei den Lichtgeborenen Magie ein völlig normaler Bestandteil des Alltags. Auch sind die Frauen der Lichtgeborenen emanzipiert und selbstständig. Floria ist Leibwächterin und Agentin des Lichtprinzen. Undenkbar für eine nachtgeborene Frau, von der erwartet wird, dass sie zu Hause bleibt und sich um Haushalt und Kinder kümmert.

Zwangsläufig führen solche gegensätzlichen Lebensweisen gelegentlich zu Konflikten, die von einem Gremium aus Vertretern beider Gruppen behandelt und beigelegt werden. Ein System, das lange Zeit gut funktioniert hat. Bis zu dem Tag, an dem Balthasars Leben aus den Fugen gerät. Die Ereignisse, die zunächst nur nach einem Adelsskandal riechen und vornehmlich Balthasars Familie zu betreffen scheinen, ziehen mit der Zeit immer größere Kreise. Spätestens, als Unschuldige zu Schaden kommen, wird klar, dass der Drahtzieher hinter all dem ausgesprochen skrupellos ist. Die Frage ist nur, wer ist der Drahtzieher und worum geht es ihm bei der ganzen Sache überhaupt?

Genau das weiß die Autorin über das gesamte Buch hinweg vor dem Leser zu verbergen. Stattdessen lenkt sie ganz beiläufig den Verdacht des Lesers in unterschiedliche Richtungen, manche davon erweisen sich als falsch, manche nur als nicht ganz richtig. Und je weiter die Nachforschungen kommen, desto komplizierter scheint die Situation zu werden.

Außerdem ist es der Autorin gelungen, die Handlung zunehmend spannend zu gestalten. Obwohl es hier keine Action im Sinne von rasanten Verfolgungsjagden oder handfesten Auseinandersetzungen wie Schwertkampfduellen und Hinterhalten in dunklen Gassen gibt, geraten die Figuren doch immer wieder in brenzlige Situationen, aus denen sie nur knapp entkommen. Das könnte einfach zu das schlichte Auf und Ab einer Huckelpiste führen, wie es durchaus des Öfteren der Fall ist. Durch die Ausweitung des Komplotts, in das die Familie Hearne da hineingeraten ist, wird dieser Effekt vermieden. Stattdessen führt die Wellenbewegung der Gefahren stetig bergauf bis zum Showdown, der allerdings bei Weitem nicht alle Fragen klärt. Am Ende des Buches stellt der Leser fest, dass er gerade mal den Anfang der Geschichte kennt, und dass der eigentliche Kampf jetzt erst richtig losgeht.

_Mir hat das Buch_ ausnehmend gut gefallen. Es bot lebendige Charaktere, einen faszinierenden Hintergrund und eine Handlung, die angenehm ausgewogen die Balance zwischen bewegteren und ruhigeren Passagen hielt und mit einem intelligenten Plot und stetig steigender Spannung aufwarten konnte. Die Titel der Folgebände lassen außerdem vermuten, dass die Fortsetzung der Geschichte aus den Perspektiven anderer Beteiligter erzählt wird – eine vielversprechende Aussicht. Ich bin schon gespannt, wie es weitergehen wird.

_Alison Sinclair_ stammt ursprünglich aus Schottland, lebt inzwischen aber in Montreal, wo sie an der Universität McGill unterrichtet. Mit dem Schreiben begann sie Mitte der neunziger Jahre, zunächst im Bereich Science-Fiction. „Nachtgeboren“ ist ihr erster Fantasy-Roman. Die Folgebände erschienen unter den Titeln „Lichtgeboren“ und „Schattengeboren“.

|Taschenbuch: 406 Seiten
Originaltitel Darkborn
Deutsch von Michaela Link
ISBN-13: 978-3-802-58335-3|


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