Sittenfeld, Curtis – Eine Klasse für sich

|“Ich war nicht unbeteiligt, ich war nicht desinteressiert, Aspeth wollte mir ganz bestimmt nicht näherkommen, und ich war einer der uncoolsten Menschen, die ich kannte – alles, was ich tat, war, meine Mitschüler zu beobachten, mich über sie zu wundern, über ihre Unbekümmertheit zu staunen und an der gähnenden Kluft zwischen uns, an meiner elenden Verklemmtheit und totalen Unfähigkeit, mich locker zu machen, zu verzweifeln. Und mir nichts zu Herzen nehmen? Ich nahm mir alles zu Herzen – nicht nur die Reaktionen der anderen, ihre Gesten und ihren Tonfall, sondern auch Sinneseindrücke, den Geruch des Windes, die Deckenleuchten im Mathetrakt, die Lautstärke des Radios im Badezimmer, wenn ich mir die Zähne putzte.“|

|“Großartig! ‚Eine Klasse für sich‘ macht so süchtig wie M&Ms“| verkündet der |Boston Globe| und bringt es auf den Punkt: Curtis Sittenfelds Erstlingsroman wurde nicht nur von der |New York Times| zu einem der zehn besten Bücher des Jahres 2005 gekürt, dieses Buch erzählt auf hervorragende Weise die etwas andere Internatsgeschichte und macht dabei schon jetzt mehr als neugierig auf Sittenfelds zweiten Roman, der im nächsten Jahr im |Aufbau|-Verlag erscheinen wird.

_Eine nicht ganz alltägliche Internatsgeschichte_

Im vorliegenden Roman erzählt uns Lee Fiora, die mit 14 Jahren ihre Familie verlässt, um auf das Elite-Internat Ault zu gehen, ihre Geschichte. Obwohl Lees Vater ein einfacher Matrazenhändler aus der Provinz ist, hegt Lee schon einige Jahre vor ihrer Highschoolzeit den Wunsch, auf ein angesehenes Internat zu gehen, auf das auch reiche und erfolgreiche Eltern ihre Kinder schicken. Eigenhändig bewirbt Lee sich an verschiedenen Internaten und entscheidet sich schlussendlich für Ault, weil sie dort gleichzeitig ein Stipendium erhalten kann, das den Großteil ihrer Schulgebühren decken wird.

Angekommen in Ault, stellt Lee fest, dass es dort nicht so ist, wie die Hochglanzprospekte glauben machen wollen. Lee kämpft um ihre einst guten Noten und sehnt sich nach echten Freunden. Doch von Beginn an wird Lee Fiora zur Außenseiterin; man scheint es ihr anzusehen, dass ihre Eltern nicht im Geld schwimmen und ihr Vater eben nicht bei der Bank arbeitet. Je einsamer Lee wird, umso genauer beobachtet sie ihre Schulkameraden und umso größer wird ihr Wunsch, akzeptiert zu werden und dazuzugehören. Als es eines Tages überraschungsfrei gibt, beschließt Lee spontan, in die Stadt zu fahren, um sich dort Ohrlöcher stechen zu lassen. Beim Stechen wird Lee ohnmächtig, findet sich allerdings kurz darauf in den Armen des bestaussehenden Mitschülers ihrer Jahrgangsstufe – Cross Sugarman – wieder, der sich liebevoll um Lee kümmert und sie abends auch zu einem Kinoabend mit seinen Freunden einlädt. Auf dem Rückweg legt Cross wie selbstverständlich im Taxi seinen Arm um Lee und streichelt ihre Haare. Lee schwebt im siebten Himmel, weiß jedoch nicht, dass es lange dauern wird, bis sie Cross wieder so nahe kommen wird.

Über eine Mitschülerin lernt Lee die hübsche Martha Porter kennen, die Lee ebenfalls für eine Außenseiterin hält. Lee und Martha werden beste Freundinnen und teilen sich fortan das Zimmer. Die beiden Mädchen werden praktisch untrennbar; als Martha jedoch zum Senior Prefect gewählt wird, bricht für Lee eine Welt zusammen, denn sie muss erkennen, dass sie doch alleine dasteht in ihrer Rolle als Außenseiterin. Doch damit nicht genug, warten noch weitere bittere Erkenntnisse auf Lee, die ihr weiteres Leben prägen werden…

_Lebensbeichte_

Curtis Sittenfeld ist mit „Eine Klasse für sich“ ein beachtliches Debüt gelungen, das von der ersten Seite an mitzureißen weiß. Das gesamte Buch ist aus Lee Fioras Sicht erzählt, die den Leser an all ihren Gedanken teilhaben lässt. Schon von Beginn an wird deutlich, mit welcher Traurigkeit und Sehnsucht Lee an ihre Highschoolzeit in Ault zurückdenkt. Vielleicht hat alles seinen Anfang genommen, als ein Mitschüler ein Referat über das gleiche Thema hält, auf das auch Lee sich vorbereitet hat. Ab dieser Stunde scheint alles schief zu gehen. Lees Noten werden schlechter und als Lee eine Diebin identifizieren kann, fühlt sie sich mitschuldig, als dieses Mädchen das Internat verlassen muss.

Von Anfang an kapselt Lee sich von ihren Mitschülern ab, sie verteilt Absagen, bis sie von niemandem mehr Einladungen zu Partys oder Ausflügen erhält. Lee gerät in einen Teufelskreis, und das nur deshalb, weil sie gedacht hatte, sie wäre nur dann erwünscht, wenn alle anderen in hysterische Begeisterung ausbrechen würden. So kommt es schließlich, dass Lee die meisten Gelegenheiten verpasst, um Freunde und Anerkennung zu finden. Stattdessen zieht sie sich immer mehr zurück, um ihre Mitschüler genau zu beobachten und zu analysieren. In der Zeit, in der Lee Fiora uns ihre Geschichte erzählt, hat sie ihre verpassten Gelegenheiten bereits erkannt, was dem ganzen Buch einen Hauch von Traurigkeit und Bitterkeit anhaften lässt, weil Lee darüber nachsinnt, wie ihr Leben in Ault hätte verlaufen können, wenn sie sich in manch einer Situation anders verhalten hätte.

In der Rückbetrachtung hat Lee bereits viele Situationen ausgemacht, in denen es nur eine Winzigkeit erfordert hätte, um ihrem Leben eine positive Wendung zu geben. Während uns Lee ihre Lebensgeschichte erzählt, weiß sie bereits, welchen Ausgang die Dinge in Ault für sie genommen haben, deswegen erhalten auch alle positiven Erlebnisse einen Hauch drohenden Unglücks. Schon als Cross seinen Arm um Lee legt und diese im siebten Himmel schwebt, kann man erahnen, dass die Beziehung zwischen Lee und Cross keinen guten Ausgang nehmen kann.

_Schreibweisen_

Mit unglaublich viel Liebe zum Detail, Fingerspitzengefühl und einem sehr feinen Gespür für Sorgen und Nöte von ganz gewöhnlichen Teenagern deckt Curtis Sittenfeld die kleinen und großen Dramen des Lebens an einer Eliteschule auf. Sittenfeld erzählt uns von Lee, die einfach nur akzeptiert werden möchte und um Anerkennung kämpft, von Dede, die sich verzweifelt an die beliebte Aspeth klammert, um vielleicht einen Teil der Aufmerksamkeit abzubekommen, und wir lernen die stille Sin-Jun kennen, die eines Tages völlig überraschend versucht, sich das Leben zu nehmen.

Curtis Sittenfeld beschreibt das Leben in Ault so lebendig, als wäre man selbst dabei. Stets dringt sie in die Tiefe, nie beobachtet sie die Menschen oberflächlich oder nachlässig. Sie versucht immer, uns die Handlungen und Gedanken der Figuren näher zu bringen und schafft dieses auf hervorragende Weise. Wir können die Mädchen und Jungen sehr gut verstehen, auch wenn sie eigentlich noch so widersinnig handeln mögen. Vor allem Lee wird beim Lesen zu einer guten Freundin. Immer ist sie bemüht, sich möglichst unauffällig zu benehmen, dabei wünscht sie sich so sehr echte Freunde. Ihre Wünsche und Gedanken sind so menschlich, nachvollziehbar und dabei aber auch so verzweifelt, dass man Lee Fiora am liebsten in den Arm nehmen und trösten möchte. Wie gut kann man selbst doch noch die Nöte eines Teenagers nachvollziehen, der um Freundschaft ringt und später vielleicht feststellen muss, dass in entscheidenden Situationen etwas schief gegangen sein muss. Zwischendurch würde man Lee gerne die richtigen Worte einsoufflieren, weil man ihr so sehr ihr kleines bisschen Glück wünscht, aber immer wieder muss man hilflos mit ansehen, dass Lee in ihr eigenes Unglück rennt und sich dabei selbst immer trauriger macht.

Curtis Sittenfeld verleiht in ihrem Debütroman all den Kindern und Jugendlichen eine Stimme, die um Anerkennung kämpfen, aber im Schulalltag – aus welchen Gründen auch immer – nicht bestehen können. Bei diesen Jugendlichen ist es nicht alleine die Pubertät, die für Kummer sorgt, sondern es ist die fehlende Akzeptanz und es sind die fehlenden Freunde. Im Nachhinein überrascht mich Sittenfelds Erfolg in den USA doch ein wenig, da sie Lees Unglück größtenteils an ihrem zu geringen sozialen Status festmacht, der sie an einer Eliteschule automatisch zu einer Außenseiterin werden lässt. Umso erfreulicher aber, dass ein so nachdenklich stimmender Roman seine verdiente Anerkennung erhält.

_Eine Elite unter den Büchern_

„Eine Klasse für sich“ ist nicht nur inhaltlich ein sehr schönes Leseerlebnis, Curtis Sittenfeld überzeugt auch mit ihrem flüssigen und angenehm lesbaren Schreibstil, der es ermöglicht, dass sich die Seiten praktisch von alleine lesen. Was das Buch aber in erster Linie zu einem absoluten Vergnügen macht, ist die gefühlvolle Schilderung Lee Fioras, von der man sich beim Zuklappen des Buches regelrecht verabschieden muss, weil sie einem so ans Herz gewachsen ist. Man freundet sich beim Lesen so sehr mit Lee an, dass man es nicht erwarten kann, endlich zu erfahren, was alles in Lees Schulzeit geschehen ist, das sie zu einem so traurigen Menschen gemacht hat. Curtis Sittenfeld hat mit ihrem Debütwerk einen beachtlichen und überaus lesenswerten Roman vorgelegt, dem man auch hier in Deutschland einen großen Verkaufserfolg wünscht – schwer vorstellbar, dass man von diesem Buch nicht tief berührt werden könnte.

http://www.aufbau-verlag.de

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