Smit, Eric – Supercode, Der

_Die Superposse der Computerindustrie_

In seiner Dachstube entwickelt der niederländische Fernsehreparaturtechniker und Computeramateur Jan Sloot ein revolutionäres Verfahren, das die Elektronikindustrie völlig auf den Kopf stellen würde. Einen ganzen Videofilm im Speicher von 1 Kilobyte unterbringen – unmöglich, oder?

Fachleute sind überzeugt, dass Sloots Erfindung Milliarden wert ist. Doch zwei Tage, bevor das große Geschäft abgeschlossen werden soll, fällt der Erfinder auf seiner Terrasse tot um: Herzinfarkt. Fieberhaft sucht man nach seinem Supercode, doch das Bankschließfach mit den Unterlagen – ist leer! Ein Riesenschwindel?

_Der Autor_

Der Niederländer Eric Smit, geboren 1967, bereiste einige Jahre lang als professioneller Squash-Spieler die Welt. Danach machte er seinen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften und begann ein neues Leben als Journalist, zuletzt als stellvertretender Chefredakteur von „Quote“, einem Trendmagazin für Geschäftsleute. Vier Jahre hat er für dieses Buch recherchiert. (Verlagsinfo)

_Inhalte_

Die Story mutet an wie ein Spannungsroman und sollte vielleicht wie ein solcher erzählt werden. Wie konnte ein völlig unbekannter holländischer Fernseh- und Computerspezialist Silicon Valley in Aufregung versetzen und einen Top-Manager vom Weltkonzern Philips abwerben?

Jan Sloot wuchs auf dem platten Land in Groningen auf. Durch verschiedene Umstände wurde er ein Eigenbrötler, der am liebsten mit Elektronik hantierte und schon mit seinem selbstgebauten Radiosender die Nachbarn belästigte. Die Polizei nahm ihm das Gerät sofort wieder weg. Fortan passte er auf, dass ihm niemand jemals wieder etwas, was er geschaffen hatte, wegnahm. Das sollte verhängnisvolle Folgen haben.

Da er als Fernsehraparateur viel zu tun hatte, verfiel er auf die Idee, eine Datenbank – eine Knowledge Base – mit allen Lösungen zur Reparatur von Fernsehgeräten zu schreiben. Diese könnte er dann an Fernsehhändler usw. vertreiben, ja, sogar ein Netzwerk aufbauen, um die neuesten Lösungen zu verbreiten. RepaBase, wie das Produkt heißen sollte, stieß jedoch auf diverse Probleme und wurde nie fertig. Aber etwas Gutes entstand daraus: das Sloot Digital Coding System (SDCS), mit dem die Datenübertragung möglichst wirtschaftlich erfolgen sollte.

Das SDCS wird in einem Anhang ziemlich genau beschrieben. Es handelt sich nicht, wie der Name schon sagt, um eines der üblichen Datenkomprimierungsverfahren, sondern um eine Verschlüsselungsmethode für digitale Inhalte: Video, Audio, Text. Das klingt paradox, denn wie soll eine Kodierung Inhalte kleiner machen? Um es kurz zu sagen: Es geht. Wer Details wissen will, sollte das Buch lesen.

Ausschlaggebend ist jedoch folgendes Leistungsmerkmal: Eines oder mehrere Videos lassen sich auf einer Chipkarte unterbringen. Eine Festplatte ist nicht im Spiel – das ist der entscheidende Unterschied. Die Größenunterschiede zu herkömmlichen Verfahren sind astronomisch. Sloot achtete penibel darauf, dass absolut niemand dahinter kam, wie genau die Sache vonstatten ging. Er beteuerte aber seinem Vertrauten und Investor Mierop, dass die Technik funktioniere und er sie in einem Papier beschrieben habe, das im Safe eines Notars oder einer Bank liege.

|Die Investoren|

Statt nun aber misstrauisch zu werden oder Sloot für verrückt zu erklären, glauben verschiedene Investoren, der Sache, die Sloot ihnen anbot, trauen zu können. Nicht wenige Selfmade-Millionäre sind darunter, denn von 1997 bis 1999, als Sloot starb, ging es auch der niederländischen Wirtschaft nicht schlecht. Die New Economy war in aller Munde. Ein paar Hunderttausend oder ein Milliönchen ließ sich da schon mal reinstecken, in die Wunderkiste des Jan Sloot. Und wegen seiner Gläubiger ist Sloot seinerseits um jede Million froh. Schon macht sich seine Frau Annie Sorgen um sein Herz, um das es offenbar nicht allzu gut steht.

Der Erste, der mit dem SDCS das große Ding drehen will, ist ein zwielichtiger Abenteurer namens Leon Sterk. Wenn Mierop an diesen Weltverbesserer denkt, wird ihm schlecht und er schüttelt bloß den Kopf. Doch Sterk versteht es, mit ausgefallenem und großspurigem Marketing weitere Investoren anzulocken, um Sloots Erfindung zur Industriereife entwickeln zu können. Aber als ihm die Schulden über den Kopf wachsen und das SDCS noch nicht fertig ist, taucht Sterk unter.

|Der neue CEO|

Über Umwege lassen die wichtigsten Investoren ihre Beziehungen spielen. Zu einer die Beziehungen gehört Roel Pieper, um die vierzig Jahre alt und „Kronprinz“ beim niederländischen Weltkonzern Philips Electronics. Pieper ist in Kreisen der Informationstechnologie kein unbeschriebenes Blatt, war er doch mal der Vorstandsvorsitzende (CEO) von Tandem Computers, bevor er das Unternehmen an Compaq verkaufte. Bill Gates und Charles Wang (von Computer Associates) zählen zu seinen guten Bekannten. Pieper ist der eigentliche Held dieser Geschichte.

Aber seine Tage bei Philips sind gezählt, agiert er doch offenbar etwas zu selbstherrlich für die Unterfürsten im Königreiche Philips, und dass er den König vom Thron stoßen will, ist diesem sicherlich nicht willkommen. Nach nur einem Jahr verlässt Pieper den Konzern, um sein eigenes Unternehmen zu steuern: Dipro. Dipro entwickelt Sloots Erfindung. Sobald er sich von den phänomenalen Fähigkeiten des SDCS hat überzeugen lassen, steigt Pieper mit großen Plänen ein: aber nur als CEO. Die Anteilseigner sind einverstanden.

|Widerstand und Falltüren|

Er benennt Dipro in Fifth Force um und nimmt sich vor, die Niederlande – so viel Patriot steckt schon in ihm – auf die Landkarte der IT-Industrie zu setzen. So groß wie Cisco oder Sun Microsystems soll Fifth Force werden. 30 Mio. Gulden gibt ihm die ABN Amro Bank als Starthilfe. Nur zwei stehen ihm stets kritisch gegenüber: der stets von seiner Paranoia beherrschte Jan Sloot und sein bodenständiger Vertrauter Mierop. Pieper gedenkt beide auszubooten und Alleinherrscher des Unternehmens zu werden.

Es gibt nur einen Haken: Für das SDCS gibt es bislang weder ein angemeldetes Patent noch den Quellcode. Sollte Sloot den Löffel abgeben, wird es bald lange Gesichter geben – auch in Silicon Valley, wo man auf Pieper große Stücke hält. Am 11. Juli 1999 ist der Tag X gekommen …

_Mein Eindruck_

Dass er sich die Story und alle ihre zahlreichen Verästelungen nicht aus den Fingern gesogen, sondern vielmehr aus dem „prallen Leben“ geschöpft hat, belegt der Autor mit zahlreichen Zitaten. Vielfach sind die Zitate grau unterlegt und entsprechend hervorgehoben. Alle Textstellen, sogar die Motti, sind in den Endnoten des Anhangs belegt.

Sollte es also zu einer Verleumdungsklage kommen, so legt hier der Autor schon mal seine Karten auf den Tisch. Eine Zeittafel erleichtert dem Leser die zeitliche Orientierung. Die Beschreibung des SDCS habe ich bereits erwähnt. Sie ist leicht zu verstehen, zumindest für Leute, die schon mal einen Computer angefasst haben.

|Comédie humaine|

Dies ist keine der üblichen Entdecker- und Erfindergeschichten, die als Abenteuer inszeniert werden und in Glanz und Gloria enden oder mit einer Tragödie. Die Art und Weise, wie sie erzählt wird, hat mehr mit der gewöhnlichen comédie humaine zu tun. Es ist eine Farce, eine Posse, jedoch ohne dass sich die Mitspieler dessen bewusst sind, dass sie eine derartige Rolle spielen. Vielmehr scheint es den meisten ziemlich ernst mit dem zu sein, was sie da tun. Aber sie tun es nach Regeln, die nicht sie aufgestellt haben, sondern die Industrie, in der sie agieren.

|Die Regeln der Posse|

Allein schon der Auftritt des „Kronprinzen“ Roel Pieper ist ein Paradebeispiel für das Geschäftsgebaren, dessen sich die Techno-Könige befleißigen – oder denken, dies tun zu müssen. Die üblichen Präsentationen und Demos sind ja Usus, aber dass Pieper auch mit Risikokapitalgebern ebenso umspringt wie mit seinen Anteilseignern, mit Bankern ebenso wie mit Wirtschaftsministern, geht schon etwas weiter. Er macht jedem klar, dass er weiß, wovon er redet. Dabei ist dies gar nicht der Fall. Es ist das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, nur dass diesmal keiner die Wahrheit sagt. Und Jan Sloot schweigt zu all den Possen. Er fürchtet lediglich eines: dass ihm die großen Konzerne und deren Forscher seine Entwicklung wegnehmen könnten.

|Der hohle Kern|

So wie in Fifth Force der Kern hohl war, so traf dies auch auf die New Economy zu. Als die Blase nach dem Ende der Goldgräberzeit platzte, war der Katzenjammer groß. Sloot erlebte dies nicht mehr mit, aber der Autor weist an seiner Stelle kritisch darauf hin, welche irrealen Marktwerte und Börsennotierungen damals der Fall waren. Mit Fifth Force wollte Roel Pieper sich ein ordentliches Stück abschneiden – und fiel auf die Nase, weil er das Pferd am Schwanz aufzäumte. Er hätte als Erstes das Patent sichern sollen, bevor er die Investoren köderte. Doch „Time-to-market“ drängte ihn, als Erster durchs Ziel zu gehen, wenn der Run auf die hohen Bandbreitenkapazitäten losging. Mit SDCS wollte er den Trumpf ausspielen, der seinem Pokerblatt zum Sieg verhelfen würde.

|Sicherheitslücken wie Scheunentore|

Daraus wurde nichts, und hinterher ist das Rätselraten groß, wie das passieren konnte. Warum wurde der Quellcode für das SDCS nie gefunden? Mierop hat so seine Theorien, und eine davon stützt sich auf seine Beobachtungen. Als er merkte, dass Pieper von Datensicherheit nicht die Bohne verstand, stellte er einen Sicherheitsdienst an, um die Familie Sloot zu überwachen. Tatsächlich wurde beobachtet, wie die Tochter, die nicht gut auf ihren Vater zu sprechen gewesen war, mehrere Kartons wegschaffte und sie ihrem Bruder übergab.

Was machten sie damit? War dies der Quellcode, von dem ihm Sloot erzählt hatte? Keiner weiß es. Ja, Pieper verbietet Mierop sogar mehrmals, der Familien nachzuschnüffeln. Als er schließlich einen anderen Sicherheitsdienst auf die Sache ansetzt, ist schon alles zwecklos. Daten weg, Patent weg, Quellcode futsch.

Bis heute ist die Firma Fifth Force keineswegs liquidiert, sondern lediglich in „Winterschlaf versetzt“. Denn es gibt noch einen Banksafe, in dem einer von Sloots Teilhabern Dokumente hütet. Ist dies der heilige Gral des SDCS? Wie bei den Kreuzfahrern heißt es schließlich: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

_Unterm Strich_

Aus niederländischer Perspektive gesehen, ist dies die Geschichte eines verpassten Eintritts in die oberste Liga der New Economy. Doch ebenso wie diese Superblase des Silicon Valley musste auch die Erfolgsgeschichte von Fifth Force an ihren inneren Widersprüchen scheitern. Statt es nach alter Väter Sitte Schritt für Schritt anzugehen, machten Glücksritter und arrogante Global Player erst Schritt B nach Schritt A. Das Patent lag noch nicht vor, als es schon Kredite hagelte und Investoren mit Millionen Dollars auf der Matte standen.

Jeder wollte die Erfindung, doch den Menschen Sloot, den wollte keiner: Er war nicht kompatibel. Und als er merkte, dass der Tag der Offenbarung kommen und es entweder Millionen regnen oder ihm die Handschellen angelegt würden, da hielt es sein Herz nicht mehr aus. Oder lief es anders? War Sloot kein Betrüger, sondern Opfer der Konzerne, die um ihre Pfründe bangten und ihn daher beseitigen ließen? Man durfte ihn nicht einmal obduzieren.

Die Story, die der Autor penibel zusammengetragen hat, liest sich für einen Insider wie mich spannend, aber ich merkte auch, dass das Geschäftsgebaren und die Persönlichkeiten Kenntnisse voraussetzen, um sie als charakteristisch für die IT-Branchen erkennen und verstehen zu können. Ein Glossar fehlt; man muss wohl voraussetzen, dass der Leser den Jargon der Branche halbwegs kennt.

Sehr positiv finde ich, dass der Autor sich nie über die Figuren, die er beschreibt, lustig macht, nicht einmal über den zwielichtigen Abenteurer Leon Sterk. Das tun die Zeugen in ihren Zitaten für ihn. Diese neutrale Haltung bedeutet aber auch, dass der Leser häufig selbst werten muss, was denn nun normal und was völlig hirnrissig ist. Vielleicht ist es aber schon so weit gekommen, dass wir das eine vom anderen nicht mehr unterscheiden können, weil die Welt der Computer mittlerweile zur Luft gehört, die wir atmen. Der Wahnsinn hat Methode, und wir merken es kaum noch.

|Originaltitel: De Broncode, 2004
352 Seiten
Aus dem Niederländischen von Andrea Kalbe und Jan F. Wielpütz|