Smith, Tom Rob – Kolyma

Mit [„Kind 44“ 4948 hat der Brite Tom Rob Smith einen höchst spannenden Krimi vor dem Hintergrund der Stalin-Zeit abgeliefert. Nun liegt mit „Kolyma“ der Nachfolger vor, der erzählt, wie die Geschichte um den ehemaligen KGB-Agent Leo Demidow weitergeht.

Wir schreiben mittlerweile das Jahr 1956. Chruschtschows Geheime Rede sorgt für politische Unruhe in Moskau. Leo Demidow arbeitet immer noch für das geheime Morddezernat, das in diesen Tagen wieder vor einem Haufen Arbeit steht: Zwei Geheimdienstler werden ermordet. Die Taten scheinen mit der Geheimen Rede Chruschtschows im Zusammenhang zu stehen. Überlebende der stalinistischen Säuberungen prangern die Taten vergangener Tage an, und so zweifelt niemand daran, dass die beiden ermordeten Geheimstdienstler einem Racheakt zum Opfer fielen.

Leo versucht herauszufinden, wer hinter den Taten steckt, doch ist das wie üblich nicht so einfach. Seine Abteilung muss immer noch im Geheimen operieren, und auch die alten KGB-Kollegen legen ihm Steine in den Weg.

Doch schon bald bekommt der Fall für Leo eine persönliche Tragweite, als seine Adoptivtochter Soja entführt wird. Um ihre Freiheit zu erkaufen, soll Leo den Priester Lasar aus dem Gulag in Kolyma befreien. Leo hatte ihn vor Jahren verhaftet und dafür gesorgt, dass Lasar in den Gulag geschickt wurde.

Um Soja zu retten, hat Leo keine andere Wahl als sich auf den Deal einzulassen. Und so lässt Leo sich als Gefangener getarnt in das Lager am Rand Sibiriens einschleusen. Doch die Operation verläuft anders als geplant: Schon am ersten Abend wird Leo erkannt und ist schutzlos der grausamen Rache der Gulag-Häftlinge ausgeliefert …

Bereits bei „Kind 44“ lag der besondere Reiz der Geschichte in der Verquickung von Krimi und jüngerer Historie. Smith hat sich eine Epoche der Geschichte als Bühnenbild ausgesucht, die für sich genommen schon Spannung verheißt: eine Gesellschaft, die geprägt ist von ständigem Misstrauen und der Angst davor, wegen irgendeiner Kleinigkeit bei den Behörden denunziert zu werden.

Chruschtschows Geheime Rede markiert einen wichtigen Punkt in der Sowjet-Ideologie: Erstmals kritisiert die Führung selbst Stalins Taten (auch wenn die Rede wenige Monate später massiv entschärft wird) und stellt damit die Weichen für eine Entspannung der Lage. Doch der Eindruck trügt. Noch immer sitzen überwiegend Leute an den Hebeln der Macht, deren Glaube an das System unerschütterlich ist.

Leo selbst hat inzwischen seine Zweifel an eben diesem System und diese Zweifel sind natürlich nicht neu. Noch immer eckt er allein durch die Tatsache, dass er für das Morddezernat arbeitet, überall an. In den Augen der alten KGB-Kollegen ist Leo immer noch ein Verräter. Seine KGB-Vergangenheit wird Leo auch zu Hause von Adoptivtochter Soja stets unter die Nase gerieben. Für sie ist Leo immer noch der Mörder ihrer Eltern. Dass er mit seiner Frau Raisa sie und ihre kleine Schwester Elena aus dem Waisenhaus geholt hat und ihr dank seiner Stellung ein verhältnismäßig luxuriöses Familienleben bieten kann, wiegt dagegen zu wenig. Schuld und Sühne sind das beherrschende Thema des Plots.

Leo hadert also immer wieder mit seiner Vergangenheit, und das macht eben auch den Reiz dieses so ambivalent angelegten Protagonisten aus. Er wird nie so ganz der strahlende Held sein können, und so ist eben auch für reichlich Spannung gesorgt, wenn Leo dann im Gulag seiner Vergangenheit direkt in die Augen blickt. Der Teil des Plots, der in der sibirischen Eishölle von Kolyma spielt, hat so auch seinen ganz besonderen Reiz und ist einer der Spannungshöhepunkte des Romans.

Doch auch darüber hinaus hält die Spannung bis zum Ende des Romans an. Smith schwingt sich immer wieder zu neuen Spannungsmomenten auf und garniert den Plot mit unverhofften Wendungen. Dabei kommt den politischen wie auch den gesellschaftlichen Verhältnissen stets eine nicht ganz unwichtige Nebenrolle zu. Smith spannt einen nachvollziehbaren Bogen vom Anfang bis zum Ende und beleuchtet dabei das Schicksal seiner Hauptfiguren möglichst glaubwürdig und authentisch.

Sprachlich formuliert Smith gewohnt glasklar und ohne viele Schnörkel, und so ist „Kolyma“ ein spannender Thriller, der mal ganz flott an einem verregneten Winterwochenende durchgelesen ist.

Bleibt unterm Strich ein sehr positiver Eindruck zurück. Mit „Kolyma“ hat Tom Rob Smith „Kind 44“ gelungen fortgesetzt und einen durchweg spannenden Thriller abgeliefert, der besonders auch dadurch gefällt, dass ihm komplexe Hintergründe und ambivalente Protagonisten zugrunde liegen. Dies ist kein schlichter „Junk-Food-Thriller“, sondern Unterhaltung auf durchaus hohem Niveau, die dennoch so konsequent spannend erzählt ist, dass man die Finger kaum von dem Buch lassen kann. Wer „Kolyma“ liest, sollte aber möglichst auch „Kind 44“ schon kennen, da die Figurenentwicklung auf die Geschehnisse im Vorgängerroman aufbaut.

|Originaltitel: ›The Secret Speech‹, Simon & Schuster (London) 2009
Übersetzung von Armin Gontermann
480 Seiten, Hardcover
ISBN-13: 978-3-8321-8089-8|
http://www.dumont-buchverlag.de

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