Spignesi, Stephen – Titanic. Das Schiff, das niemals sank. Chronik einer Jahrhundertlegende

Auf dieser Welt gibt es Menschen, die müssen mindestens eines ihrer früheren Leben als Hamster geführt haben. Nach ihrer Wiedergeburt mögen sie zwar die Evolutionsleiter hinaufgestiegen sein, doch der Drang zu sammeln und zu horten prägt ihr Wesen und ihr Verhalten weiterhin überdurchschnittlich stark. Allerdings schleppen sie nun nicht mehr Maiskörner und ähnliche Esswaren in ihre Höhle, sondern Informationen. Ein Grundsatz ist freilich derselbe geblieben: Quantität geht allemal vor Qualität!

Steven Spignesi ist einer jener Zeitgenossen, die ihre Erfüllung darin finden, Daten, Fakten und Bilder zusammen zu tragen, lange Listen aufzustellen und dieses kunterbunte Gemisch dann als „Sachbuch“ zu verkaufen, ohne sich mit dem Spinnen eines roten Fadens aufzuhalten. Bevor er sich dem berühmtesten Schiffswrack der Weltgeschichte widmete, hat er wie beschrieben über den Regisseur und Schauspieler Woody Allen, die Beatles und den Schriftsteller Stephen King „informiert“. Die „Titanic“ ist längst zu einer prominenten Persönlichkeit geworden, so dass die vorliegende Kompilation recht gut in die Reihe der Spignesi-Werke passt.

Seit der Luxusliner zum wiederholten Male, aber 1997 dank James Cameron besonders spektakulär im Kino untergegangen ist, sind allerdings auch schon wieder einige Jahre vergangen. Das Interesse ist zwar noch da, das echte „Titanic“-Fieber allerdings geschwunden, die Flut der Bücher, TV-Dokumentationen und anderer profitabler Devotionalien längst abgeklungen. Spignesi kommt also eigentlich ein wenig zu spät, aber das passt gut ins Bild vom eifrigen, aber wenig inspirierten Freizeit-Autoren, der geduldig den Datenschutt seiner professionelleren Vorgänger durchsiebt und triumphierend das eine oder andere bisher übersehene oder leicht ramponierte, aber noch halbwegs präsentable Fundstück hervorzieht.

Zu den Wissenslücken, die Spignesi auf diese Weise schließen kann (ohne dass sie seinen Lesern bisher aufgefallen wären), gehört zum Beispiel der Fund der Auslaufgenehmigung der „Titanic“, die hier zum ersten Mal im Wortlaut abgedruckt wird. Wieso er gerade dieses Dokument (und einige weitere, historisch ebenfalls eher belanglose Quellen) präsentiert, darüber hüllt sich der Autor in Schweigen.

Ebenso willkürlich ausgewählt sind die weiteren Zeugnisse zur letzten Reise der „Titanic“, als da u. a. wären: eine (sehr) knappe Chronik der Ereignisse, die (lückenhaft) auch die Vorgeschichte sowie die Jahre der Suche ab 1912 erfasst und sogar einen Vorausblick bis ins das Jahr 2002 wagt (dann sollte nämlich die „Titanic II“ vom Stapel laufen, woraus bekanntlich nichts geworden ist); Kurzporträts einiger prominenter, aber auch „normalsterblicher“ Passagiere (immer eine probate Methode, Seiten zu füllen); natürlich Augenzeugenberichte vom Untergang selbst (quasi ein Blick aus jeder Perspektive auf das im Wasser versinkende Heck); Auszüge aus dem „Bericht zum Verlust der TITANIC“ des britischen Handelsministeriums (liest sich genauso spannend wie der Titel verheißt) oder eine Reihe von Artikeln aus Zeitungen des Jahres 1912 (wenig aussagekräftig, da schon die zeitgenössische Presse wilde Spekulationen der ohnehin nur bruchstückhaft bekannten Wahrheit vorzog).

In einem eigenen Kapitel raunt Spignesi verheißungsvoll von einem „Jahrhundert voller Geheimnisse“, die sich um die Tragödie ranken, doch wenn es dann gilt, Farbe zu bekennen, muss er zugeben, auch keine Lösungen parat zu haben. Kapitän Smiths letzte Worte bleiben also weiterhin ein Geheimnis, was wahrscheinlich seinem Ruf eher förderlich ist; wie peinlich, sollte sich etwa herausstellen, dass er mit einem Fluch auf den Lippen statt „Rule Britannia“ gestorben ist.

Widerstehen konnte Spignesi natürlich auch nicht der Versuchung, die gewagte Verschwörungstheorie eines wirrköpfigen „Titanic“-Chronisten aufzuwärmen, der in den 1990er Jahren der Presse behilflich war, die Sauregurkenzeit des Hochsommers zu überbrücken. Er behauptete, nicht die „Titanic“, sondern ihr Schwesterschiff, die „Olympic“, sei 1912 im Atlantik versunken bzw. im Zuge eines gewaltigen Versicherungsbetruges versenkt worden. Diese hanebüchene Mär wurde längst und mit Leichtigkeit widerlegt; Spignesi hätte gut darauf verzichten können, dies noch einmal im Alleingang zu „beweisen“, aber die Geschichte ist halt einfach zu schön!

Neben solchem Seemannsgarn dürfen natürlich einige Pfeiler des multimedialen „Titanic“-Epitaphs nicht fehlen. Spignesi fasst daher noch einmal zusammen, was ohnehin schon jede/r wusste: An Berichten über die Suche nach und die Entdeckung der „Titanic“ durch Robert Ballard und sein Team im Jahre 1986 herrscht wirklich kein Mangel, und auch Regisseur James Cameron schaute ein Jahrzehnt später die Weltpresse über die Schulter, als er sein ganz persönliches Monumentalwerk zur Tragödie drehte.

Wohl weil er nun gar nicht mehr wusste, wo er sie thematisch unterbringen konnte, auf ihre Wiedergabe aber nicht verzichten mochte, schließt Spignesi sein Werk mit einem seitenlangen Blick auf die Frachtliste der „Titanic“ – und siehe da: Was dort im Bauch des Riesenschiffs nach Amerika reisen sollte, birgt wahrlich keine Sensationen. Schön, dass man sich davon dank Spignesi selbst überzeugen kann; allerdings hätte man ihm dies durchaus geglaubt, hätte er es in ein, zwei Sätzen abgehandelt.

Obwohl der Untertitel etwas Anderes suggeriert, ist die „Titanic“ im Jahre 1912 sehr wohl im Meer versunken. Bis auf weiteres ist zu diesem Thema alles gesagt. Die echte „Titanic“ wird das nächste Mal 2012 ins Zentrum des öffentlichen Interesses rücken, wenn sich der Tag des Untergangs zum 100. Mal jährt. Wie Spignisi eindrucksvoll (wenn auch unfreiwillig) belegt, ist es ratsam, dem Schiff und seinen unglücklichen Passagieren bis dahin eine publizistische Pause zu gönnen. Doch „Titanic“ steht inzwischen nicht mehr für ein tragisches, historisch im Grunde wenig bedeutsames Ereignis: Über die Welt des Jahres 1912 sind wir so gut informiert, dass es absolut überflüssig ist, aufwändig nach Artefakten auf den Grund des Ozeans zu tauchen. Die sieben Buchstaben des Schiffsnamens bilden heute so etwas wie ein Markenzeichen, das sich aufgrund des traumhaft hohen Bekanntheitsgrades wunderbar vermarkten lässt. Leider ist es nicht möglich, den Namen gesetzlich schützen zu lassen – das muss ein Albtraum für Marketingstrategen sein.

Über das, was die „Titanic“ – im 21. Jahrhundert kaum mehr als ein Haufen rostigen Schrotts, der sehr bald in sich zusammenfallen wird – tatsächlich noch erwähnenswert macht, schweigt sich Spignesi leider aus – das Gerangel zahlreicher Interessengruppen nämlich, die sich unter dem Deckmantel vorgeblich ehrenwerter Motive erbittert darüber streiten, was mit dem Wrack geschehen soll. Ob es nun Gedenkstätten-Touristen sind, die über der Unglücksstätte ankern, Kränze über Bord werfen und Krokodilstränen im Andenken an Menschen vergießen, mit denen sie persönlich rein gar nichts verbindet, oder „Historiker“, die nach verbeulten Klosettschüsseln des Modells „TITANIC 1912“ angeln, um sie den ehrfurchtsvoll staunenden Nachfahren der versunkenen Seefahrer im Rahmen weltweit wandernder Sonderausstellungen wie Ikonen zu präsentieren, oder schlichte „Dokumentaristen“, die „nur schauen“ wollen und anschließend stolz verkünden, jedes am Wrack aufgewirbelte Sandkorn sorgsam zurück auf seinen Platz gelegt zu haben: Die wahre Lehre, die man aus diesem Trauerspiel ziehen kann (wenn man denn Wert darauf legt), ist doch wohl die, dass sich die Menschen seit 1912 nicht geändert (oder gebessert) haben. Eine fatale Mischung aus Unwissen, fehlgeleitetem Übereifer und Profitgier (abgerundet durch gute, alte Dummheit) hat die „Titanic“ untergehen lassen. Damals wie heute war und ist das Schiff unabhängig davon, ob es mit Volldampf gen USA fährt, am Meeresgrund vor sich hin rostet, durch eine Disneyland-Kopie nachgeäfft oder gar gehoben wird, nur ein Spielball divergierender Interessen. Womöglich ist das ja die wahre Tragödie der „Titanic“. (Nebenbei: Trotz aller galligen Einwände liest sich Spignesis Kuriositätenkabinett über lange Strecken durchaus flott und unterhaltsam – man darf eben nur nicht auf den Titel hereinfallen, der eine „Chronik“ oder gar „das komplette Handbuch“ in Aussicht stellt.)

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