Dublin in den siebziger Jahren: Die stille, intelligente fünfzehnjährige Rebecca Dunville besucht mit ihren Schwestern das katholische St. Martins, die angesehenste Schule der Gegend. Becky bringt nur Bestnoten nach Hause, fühlt sich aber dennoch unter ihren Schwestern zurückgesetzt. Die fast achtzehnjährige, strahlend schöne Bella intrigiert gerne, die jüngere Brona neigt zu Sticheleien. Bella ist der Liebling der Eltern und Becky scheint die Einzige zu sein, die deren boshafte Art durchschaut.
Eines Morgens ist Bella aus ihrem Zimmer verschwunden – und kehrt nicht mehr zurück. Die Polizei vermutet zunächst, sie sei ausgerissen, vor allem nachdem sie ein paar Hanfpflanzen in ihrem Zimmer findet. Bellas Mutter dagegen ist überzeugt, dass sie verschleppt wurde, der Rest der Familie weiß nicht, was er glauben soll.
Kurz darauf stellt sich heraus, dass Bella in der Nacht ein heimliches Treffen plante und für ihre Rückkehr ein Fenster offen gelassen hatte. Nun sieht alles nach Entführung aus – oder nach etwas Schlimmerem. Becky beginnt, in der Vergangenheit ihrer Schwester zu forschen und stößt auf ein beunruhigendes Doppelleben …
_Ein Mädchen_ verschwindet und hinterlässt einen idealen Aufhänger für eine Mischung aus Thriller und Psychodrama, die von Mary Stanley weitgehend überzeugend umgesetzt wird.
|Spannung und Dramatik|
Vom Zeitpunkt ab Bellas Verschwinden dreht sich alles um die Frage, was mit ihr geschehen ist. Einige Punkte sprechen dafür, dass sie möglicherweise freiwillig untergetaucht ist – da wären die verbotenen Hanfpflanzen in ihrem Zimmer, ihre heimliche Liebschaft mit einem jungen Mann und ihre flatterhafte, selbstbewusste Art, gepaart mit ihrem Drang, die Welt zu entdecken. Tagelang hoffen insbesondere ihre Schwestern, dass sie wieder in der Haustür steht und eine plausible Erklärung für ihr Verschwinden liefern kann. Nur Mutter Elizabeth ist von Beginn an überzeugt, dass Bella etwas Schreckliches zugestoßen sein muss. Während sich der Vater in seinen Beruf als Arzt stürzt, bricht Elizabeth Dunville vor Sorge zusammen.
Ein weiterer interessanter Punkt im Hintergrund ist der Rückblick in Elizabeth‘ Vergangenheit, der offenbart, dass Becky durch einen Seitensprung entstanden ist. Pikanterweise spielt ihr leiblicher Vater immer noch eine kleine Rolle im Leben der Dunvilles, ohne dass er und Becky von ihrer Verwandtschaft wissen, und man wartet auf den Augenblick, in dem diese Tatsache ans Licht treten wird.
|Interessante Charakterstudie|
Der Fokus des Romans liegt auf Becky Dunville, der mittleren der drei Schwestern, deren einst behütetes Leben durch Bellas Verschwinden aus der Bahn geworfen wird. Detailgenau beschreibt die Autorin die Folgen dieses Ereignisses für die gutbürgerliche Familie. Becky steht stets im Schatten ihrer älteren Schwester, da von ihr wegen ihrer hohen Intelligenz nur Bestleistungen akzeptiert werden. Nach Bellas Verschwinden wird sie für Brona überraschenderweise zur Bezugsperson, statt Sticheleien wird nun ihr Rat gesucht. Zeitgleich entdeckt Becky ihre Gefühle für den neuen jungen Musiklehrer Mr. Jones, der auf ihre Schwärmereien eingeht und die erste Liebe des verwirrten jungen Mädchens wird.
Für Becky wird Bellas Schicksal zur Bewährungsprobe. Ihre Eltern ziehen sich vor Kummer zurück, die jüngere Schwester braucht sie als Stütze, die Nonnen an der Schule verlangen weiterhin Disziplin, und obendrein fühlt sich Becky dazu gezwungen, ihren Teil zur Aufklärung beizutragen. Sie recherchiert auf eigene Faust in Bellas Leben, macht ihren heimlichen Freund ausfindig und steht im Zwiespalt darüber, ob sie die prekären Details über Bellas Doppelleben der Familie und der Polizei anvertrauen soll oder nicht. Interessant und realistisch ist vor allem, dass Becky sich zwar einerseits ihre Schwester zurückwünscht, sie aber andererseits nicht rückblickend verklärt. Nach wie vor sind ihr Bellas Gemeinheiten sehr präsent, und das Bewusstsein darüber sorgt für eine zusätzliche innere Qual. Darüberhinaus gewährt der Roman dem Leser einen kleinen Einblick in die Welt Dublins vor ein paar Jahrzehnten und vor allem in das dortige strenge Schulwesen.
|Nur kleine Schwächen|
Unter Umständen können Leser in ihrer Erwartung getäuscht werden, denn das Thrillerelement kommt erst spät zum Tragen. Die Polizeiarbeit wird fast gar nicht thematisiert, stattdessen dreht sich die Handlung um die Krise, die das Ereignis in der Dunville-Familie auslöst. Das eigentliche Manko liegt aber im zu rasch abgehandelten Ende und einem Zeitsprung von über zwanzig Jahren. Beinah schon hat man sich damit abgefunden, dass Bellas Verschwinden nicht geklärt werden wird, als sich viele Jahre später doch noch alles aufklärt. Diese Zeitspanne hätte man aber besser auf wenige Jahre beschränkt – zu gewöhnungsbedürftig ist es, dass Beckys jüngere Schwester plötzlich schon zwei erwachsene Kinder hat, während sie wenige Seiten zuvor noch ein Schulmädchen war. Zudem bringt die Aufklärung des Falls einiges an Brisanz mit sich, sodass uns Beckys Reaktion zu knapp geschildert wird.
_Als Fazit_ bleibt ein bewegender und spannender Roman über ein verschwundenes Mädchen, der im Dublin der siebziger Jahre spielt. Vor allem die Hauptperson wird ansprechend charakterisiert, und die Auflösung kommt zwar sehr spät, ist aber plausibel. Störend sind nur der große Zeitsprung zum Ende des Buches und der etwa zu kurz abgehandelte Schluss.
_Die Autorin_ Mary Stanley wurde in London geboren und wuchs in Dublin in Klosterinternaten auf – eine ihrer Lehrerin war die irische Bestsellerautorin Maeve Binchy. Stanley studierte unter anderem in Tübingen, später arbeitete sie in der elterlichen Buchhandlung, ehe sie sich aufs Schreiben konzentrierte. Sie hat inzwischen gut ein halbes Dutzend Romane verfasst. Mehr über sie erfährt man auf ihrer Homepage http://www.marystanley.com.