Stefánsson, Jón Hallur – Eiskalte Stille

Als der Architekt Björn Einarsson mit schweren Kopfverletzungen in der Nähe seines Sommerhauses gefunden wird, ahnt Valdimar Eggertsson von der Kriminalpolizei Reykjavik noch nicht, mit was für einem verzwickten Fall er es zu tun hat. Einarsson ist nachts zuvor Hals über Kopf nach einem Anruf in Richtung Sommerhaus aufgebrochen, wo ihn sein Sohn Marteinn am anderen Morgen leblos auffindet.

Marteinn ahnt, warum sein Vater ins Sommerhaus der Familie gefahren ist, und vermutet einen Zusammenhang zu der Affäre, die Einarsson mit seiner jungen Mitarbeiterin Sunneva pflegt. Wenig später macht Marteinn eine weitere grausame Entdeckung: Im Schlafzimmer des Sommerhauses liegt Sunnevas Leiche. Um seinen Vater und vor allem auch seine Familie zu schützen, schafft Marteinn die Leiche aus dem Weg, ohne zu ahnen, welch folgenschweren Fehler er damit begeht.

Valdimar Eggertsson steht in diesem Fall vor einem Rätsel. Was im Sommerhaus geschehen ist, lässt sich nicht rekonstruieren, und das Auffinden von Sunnevas Leiche in einem entfernten Waldstück stiftet weitere Verwirrung. Eggertsson ahnt, dass er über den Architekten noch längst nicht alles weiß und dass auch Personen aus seinem Umfeld offenbar etwas zu verbergen haben. Da wäre nicht zuletzt Marteinn, der sich zunehmend verdächtig verhält und ganz offensichtlich mehr weiß, als er zugibt …

Jón Hallur Stefánsson rückt in seinem Debütroman die Figuren in den Mittelpunkt des Geschehens und liefert damit einen Krimi ab, der sich zum größten Teil auf rein psychologischer Ebene abspielt. Ganz in Ruhe beobachtet Stefánsson seine Protagonisten, lässt ihre Persönlichkeiten auf den Leser wirken, so dass man bei der Lektüre schon fast vergisst, dass man es mit einem Krimi zu tun hat.

In gewissem Maße ist das einer der Vorzüge von „Eiskalte Stille“. Der Leser bekommt das Gefühl, ganz nah am Geschehen zu sein, ganz tief in die Seelen der Figuren zu blicken, und folgt dadurch gespannt dem Plot. Der Plot selbst funktioniert ein Stück weit wie ein Puzzle. Jede Figur liefert eine neue Sichtweise, eine neue Facette der Geschichte, ohne dass das große Ganze sich offenbart. Der Fall bleibt bis zum Schluss spannend, da der Leser nicht weiß, was wirklich in der Nacht von Sunnevas Tod und Einarssons schwerer Verletzung passiert ist.

Am Ende bleibt Stefánsson somit noch Raum für einen Knalleffekt, der im ersten Moment vielleicht etwas überzogen scheint, weil man nicht damit rechnet, sich aber im weiteren Verlauf dann doch aus der Handlung heraus erklärt. So gelingt Stefánsson ein überraschender Schluss, der obendrein in einem rasanten Showdown inszeniert wird. Dessen Tempo und Actionreichtum stehen zwar in einem ziemlichen Kontrast zum Rest des Romans, dennoch schafft Stefánsson es so, die Spannungskurve noch einmal steil nach oben zu ziehen.

Die psychologische Herangehensweise an den Plot, das Konzentrieren auf die Figuren, ist aber ein sicherlich schwieriges Unterfangen. Der Roman erreicht dadurch eine Komplexität, in welcher der Leser sich erst einmal zurechtfinden muss. Es tauchen viele Figuren auf, die erst einmal im Geiste sortiert werden müssen. Stefánsson springt von einer Figur zur nächsten und meint es dabei manchmal fast schon zu gut.

Aufwändig skizziert er seine Figuren und legt seine Charaktere wunderbar ambivalent an, aber so kann er eben auch nicht mit letzter Konsequenz die Ermittlungen im Fall Einarsson/Sunneva voranbringen. Valdimar Eggertson verschwindet zwischenzeitlich völlig aus dem Blickfeld des Lesers und man ist drauf und dran zu vergessen, dass hier ja in einem Mordfall ermittelt wird. Und so erscheint die Aufklärung dann auch ein bisschen holprig. Alles geht sehr schnell und man ist als Leser etwas verwundert, dass Valdimar mit den sich überschlagenden Ereignissen noch Schritt halten kann.

Doch dafür kann sich der Leser eben an den sehr ambivalent dargestellten Figuren erfreuen. Stefánsson verzichtet auf klischeehafte Gut- und Böseschattierungen und zeigt jede Figur mit ihren dunklen Seiten. Da wäre Marteinn, der Sunnevas Leiche beiseite schafft, um damit die Aufklärung eines Mordes zu verhindern. Dann wäre da Valdimar, dem schon mal die Hand ausrutscht, wenn er rot sieht. Oder Hallgrímur, Marteinns Freund, der auch nach Jahren noch immer das Gefühl hat, Marteinn nicht ebenbürtig zu sein und in dessen Schuld zu stehen, obwohl diese längst abgetragen ist. Bei Stefánsson ist keine Figur ohne Makel.

Jeder Figur schreibt Stefánsson eine interessante Geschichte auf den Leib. Immer wieder schweift er vom eigentlichen Plot ab und blickt in die Vergangenheit, in Kindheit und Jugend seiner Protagonisten, und macht sie damit begreiflicher. Das Buch gewinnt dadurch eindeutig an Tiefe. Die vielen kleinen Geschichten, die innerhalb dieses Krimis erzählt werden, sind ein Gewinn für das Gesamtwerk, auch wenn sie immer einen gewissen Balanceakt darstellen. Stefánsson entwirft recht akkurate psychologische Profile seiner Protagonisten und ausgefeilte Facetten einer Geschichte, die mit jedem Kapitel verzwickter und undurchdringlicher zu werden scheint. Und so bereitet er die Bühne für den Showdown, in dem er den Leser mit dem unerwarteten Ausgang der Geschichte konfrontiert.

Bleibt unterm Strich ein insgesamt positiver Eindruck zurück. „Eiskalte Stille“ ist kein Krimi von der Stange, sondern ein ausgefeiltes und feinsinniges psychologisches Kammerspiel mit interessanten Figuren. Wie ein Puzzle setzt Stefánsson ein Bild zusammen, das am Ende dann doch ganz anders aussieht, als man vermutet hätte. Spannend und mit ambivalenten Figuren kommt Jón Hallur Stefánssons Debütroman daher. Ein leiser Krimi, der erst zum Ende hin eine schnellere Gangart einlegt, aber dennoch keine Langeweile schürt. Freunde fein komponierter, psychologischer Krimis können hier getrost zugreifen.

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