_Aus der Feuilletongesellschaft_
|Der Spannungsbogen|
Das Buch trägt den Untertitel |Nachruf auf unser Leben, wie es bisher war| und das Coverdesign gemahnt dementsprechend an eine Todesanzeige. |Das Ende der Normalität| bedeute keinen einfachen Übergang vom verklärten Gestern in ein später ebenso zu verklärendes Heute und Morgen, sondern der Autor will deutlich machen, dass etwas Grundsätzlicheres vor sich geht, eine solche Auflösung jeglicher Normen, dass der wehmütige Blick zurück gerechtfertigt erscheint.
Das ist auch sehr spannend, weil ausgesprochen kategorisch, wenn der Spannungsbogen nicht seinen Tribut forderte. Nachdem der grundsätzlichen Idee Genüge getan ist, nimmt er einige Argumente hinzu, die das Ganze nicht gar so schlimm erscheinen lassen. Dann fasst er dem Leser selbst an die Nase, indem er ihn als „entfesselten Kunden“ bezeichnet, wo wir doch gern den entfesselten Kapitalismus haftbar gemacht hätten. Da langweilt man sich schon ein bisschen, weil man sich doch selbst ganz gut kennt. In einem dritten Teil streift er die sattsam bekannte Weltpolitik, sieht auch dort nur wenige Unvermeidlichkeiten, um dann zum Schluss noch mal die Philosophen zu Rate zu ziehen, die uns wie Sloterdejk zu bescheiden haben: „Du musst Dein Leben ändern“.
Das ist leider nicht anders zu beschreiben, als ein stetig fallender Spannungsbogen, zumal bei den weltpolitischen Themen, die da sind: Terrorismus, Finanzkrise und Großmächte, dann eben die schönen Bilder und Beispiele ausgehen und man mehr in die Rolle eines nur bedingt verstehenden Betrachters gedrängt ist, ganz wie er uns gleich zweimal Büchners Danton ausrufen lässt: „Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten gezogen“. Diese unbekannten Gewalten, freilich, hätte man gern enträtselt.
Man könnte versucht sein, den Marx und den Engels, diese Gespenster des Kommunismus, immer noch für die Lösung zu halten, aber Steingart bescheinigt, dass es sich beim Kommunismus um „das freundlichste Schreckgespenst“ handelt, und im Übrigen wäre die Sache demokratisch entschieden, denn die Arbeiter „fegten das System nicht hinweg, wie Marx ihnen geraten hatte, sondern schlossen sich an die große Gewinnmaschine an“. Hier könnten dem Autor ein paar Details der Geschichte entgangen sein, die immerhin den Status von „Experimenten“ hatten, die mit dem erfolgreichen Slogan Adenauers „keine Experimente“ doch nur teilweise vermieden werden konnten.
|Brillante Fakten|
Wo wir uns wirklich an die eigene Nase fassen müssen, ist, dass wir jetzt im Schnitt vier Stunden fernsehen, während wir noch in den 70ern mit einer Stunde auskamen und dass nur noch jeder zweite Deutsche überhaupt einer geregelten Beschäftigung nachgeht. Beschwichtigen soll uns, dass jeder Zweite über Wohneigentum verfügt und 90% ein Auto haben und dass in jedem Haushalt jetzt durchschnittlich zwei Fernseher vorhanden sind, es uns also eigentlich besser geht als je zuvor. Dass noch vor fünfzig Jahren doppelt so viel Babys zur Welt kamen, haben wir wieder uns selbst zuzuschreiben. Auch dass wir als Kunden zu wählerisch seien, „frivole Bürschchen“ nennt uns Steingart da, und die Industrie entsprechend reagiert, gehört zum Thema Selbstkritik.
Dass nur noch drei Viertel der Jobs Vollzeitstellen sind und Spitzeninvestmentbanker 200 Mal so viel verdienen, wie ein Ingenieur, hält der Autor für kritikwürdig, aber es tritt vor unserem eigenen Kerbholz zurück. Denn dass wir nach vierzig Jahren im Schnitt mit 135 PS herumfahren und nicht mehr mit 50, ist wohl auch unsere eigene Kaufentscheidung. Ein Werktätiger in der Autoindustrie stellte vor dreißig Jahren jährlich zehn Autos her, heute sind es dreißig.
Als Ausweg aus unserem Überalterungsproblem hält es Steingart für eine geeignete Maßnahme ein Drittel der deutschen Bevölkerung durch Ausländer zu ersetzen, bei denen er davon ausgeht, dass sie dann widerspruchslos unsere Alten finanzieren und betun. Könnte das nicht eine Illusion sein?
_Der Autor_
Gabor Steingart, der erfolgreiche Spiegelredakteur und jetzige Handelsblatt-Chefredakteur lieferte nicht nur griffige journalistische Berichte, sondern brillierte auch mit Büchern wie 2007 |Die Machtfrage|, die nicht weniger antizipierte als das Ende der Ära der Parteien. Der Sprachwitz, die eingängigen Bilder und umfassende Bildung bieten immer wieder gute Unterhaltung, bis hin zu revolutionierenden Gedankengängen. Naturwissenschaftliche Kenntnisse scheinen da obsolet, wenn Gravitation und Magnetismus im fulminanten Eingangsbild dieses neuesten Essays, einer Reise zum Mittelpunkt der Erde, und später noch einmal, fröhlich durcheinandergebracht werden. Dass solche Ungenauigkeiten heute als verzeihlich gelten, führt manchen zu dem Schluss, dass wir in einer |Feuilletongesellschaft| leben, in der genau das zur Norm geworden ist.
_Fazit_
Es gibt eben keine Normalität mehr, und das fängt bei uns an. Es sind Zeiten in Aussicht, die die glücklichsten sein könnten, aber auch die fangen bei uns an. Also dann, wo fangen wir an?
|Hardcover: 176 Seiten
ISBN-13: 978-3492054591|
[www.piper-verlag.de]http://www.piper-verlag.de
_Christian Rempel_