Charles Stross – Singularität. SF-Roman

Ironische Space-Opera: Die Viktorianer bekämpfen die Zukunft

400 Jahre in der Zukunft: Die Menschen der Neuen Republik leben 250 Lichtjahre entfernt von der Erde unter der Knute eines totalitären Feudalregimes, das alle modernen technischen Erfindungen, von Künstlicher Intelligenz über Nanos bis zur Zeitreise, ächtet.

Doch eines Tages regnet es auf einer der Kolonien der Neuen Republik Telefone vom Himmel und wenn man fragt, wer da anruft, erhält man die Aufforderung: „Unterhaltet uns!“ Es ist das „Festival“. Und im Austausch für Geschichten und Ideen bekommt man das Neueste vom Neuesten. Cool! Von da an ist nichts mehr so wie zuvor.

Der Autor

Charles Stross, geboren 1964 im englischen Leeds, studierte Pharmakologie und Informatik. Danach arbeitete er in den verschiedensten Berufen, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. „Singularität“, sein erster Roman, wurde ein beachtlicher Erfolg und wird heute zu den bedeutenden Werken der New Space Opera gezählt.

Inzwischen ist auch Stross’ zweiter Roman [„Supernova“ 1735 bei |Heyne| veröffentlicht worden und der dritte, „Accelerando“, ist bereits angekündigt. Hoffentlich wird es auch mal eine Storysammlung von Stross geben, denn die kürzeren Werke sind ebenfalls beachtlich und haben bereits internationale Preise eingeheimst.

Handlung

Burija Rubenstein, politischer Journalist auf Rochards Welt, freut sich ob des Wunders: Telefone sind vom Himmel gefallen, und wenn man fragt, wer da angerufen werden will, erhält man die Aufforderung: „Unterhaltet uns!“ Das „Festival“ ist angekommen, ein Teil einer menschlichen Kultur, die sich als mobiler Informationsdienst allen möglichen Welten anbietet. Die „Unterhaltung“, die es fordert, ist sein Herzblut: Geschichten und Ideen. Damit handelt es. Und als Rubenstein und seine Freunde Geschichten liefern, liefert das Festival mit seinen Nanomaschinen all das begehrte Zeug, das den Kolonisten auf Rochards Welt von der Neuen Republik bislang verweigert wurde: Werkzeuge, Nylonstrümpfe, Berettas, Jagdbomber usw.

Es dauert nur wenige Tage, und das Volk von Nowij Petrograd schüttelt das Joch der Neuen Republik ab. Die Garnisonssoldaten laufen zu Rädelsführer Rubenstein und seinen Genossen über, die Festungen brennen, und der Gouverneur schickt einen Hilferuf an seinen Dienstherrn, den Kaiser der Neuen Republik. Der totalitäre Feudalherr erklärt umgehend den Krieg, doch da die Kolonie ein paar Lichtjährchen von New Austria entfernt liegt, muss man erst einmal eine Flotte dorthin in Marsch setzen. Das Flaggschiff ist die „Lord Vanek“.

Der neue Bordingenieur Martin Springfield kommt zwar von der dekadenten Erde, ist aber der einzige Mann, der den Antrieb der „Lord Vanek“ so erweitern kann, dass das Schiff überlichtschnell fliegen kann. Natürlich wird von der paranoiden Gestapo des Kaisers sofort ein Spitzel auf Martin angesetzt, aber ihm kommt eine unverhoffte Agentin von der UNO zu Hilfe: Rachel Mansour.

Monatelang hat sie sich, als leichtlebige Schauspielerin getarnt, in den Städten und Werften der Neuen Republik herumgetrieben. Doch da nun der Krieg erklärt wurde und die UN benachrichtigt worden sind, wirft sie ihre Maske ab. Die UNO besteht darauf, dass sie als Beobachterin mitfliegt. Rachel interessiert sich lebhaft für Martins Aufgabe, denn irgendetwas ist daran faul. Sie verliebt sich in den anständigen Kerl, obwohl sie das eigentlich gar nicht vorhatte, denn es widerspricht ihrer Agentenaufgabe.

Als er ihr verrät, um was es bei seinem Auftrag, geht, ist sie entsetzt. Die „Lord Vanek“ ist nun in der Lage, die Kausalität von Ursache und Wirkung, den geordneten Ablauf der Zeit zu umgehen, ja, womöglich lokal außer Kraft zu setzen. (Der Schlachtplan sieht vor, die Rebellenwelt überraschend in deren Vergangenheit anzugreifen und so das „Festival“ zu besiegen.) Dieses Vorgehen wäre ein eklatanter Verstoß gegen das im menschlichen Siedlungsbereich erlassene und durchgesetzte Verbot, die Kausalität zu verletzen. Das Verbot wurde vom „Eschaton“ bzw. Großen E erlassen. Das Eschaton ist eine aus der Zukunft kommende Entität. „Ich bin nicht euer Gott. Ich stamme von euch ab und existiere in eurer Zukunft.“ Wie mächtig das Eschaton ist, hat es gleich bewiesen: Es vernichtete neun Milliarden Menschen, verstreute die Menschheit über tausende von Welten – eine davon ist Rochards Welt.

Rachel und Martin erkennen die Gefahr, die der Angriff der „Lord Vanek“ darstellt. Sollte deren Kausalitätsverletzung das Eschaton herausfordern, so könnte dies weitere Milliarden Menschenleben fordern. Sie müssen das Schiff irgendwie aufhalten, sabotieren oder sonstwas unternehmen. Doch beide werden scharf beobachtet. Ein junger Geheimpolizist macht ihnen das Leben schwer.

Und Rachel weiß noch nicht, dass Martin für einen geheimen Auftraggeber arbeitet, der sich „Hermann“ nennt. Für ihn hat er in die Software des Antriebs einen geheimen Befehl eingespeist. Und noch etwas passiert am Horizont der Neuen Republik, unbemerkt vom „Festival“, den Menschen auf Rochards Welt und der Neuen Republik: die Ankunft der „Kritiker“. Sie haben eine sehr eigentümliche Auffassung von „Kritik“. Denn sie sind nicht menschlich …

Mein Eindruck

Es ist, als würde H.G. Wells eine Zeitreise mit seiner Zeitmaschine machen und im 24. Jahrhundert landen, um dort den Bewohnern zu zeigen, was er unter einer Harke versteht. Die jedoch lachen nur müde darüber. Genauso dumm guckt denn auch die Kriegsflotte der „Neuen Republik“ aus der Wäsche, als sie merkt, worauf sie sich mit ihrer „kleinen Strafexpedition“ eingelassen hat.

Die Viktorianer

UNO-Agentin Rachel hat es den Kommandeuren zwar ständig gesagt, aber da die paranoiden Republikaner inklusive senilem Admiral sie für eine Spionin halten, hört natürlich keiner auf sie – bis alles zu spät ist. Denn einen Verein wie das „Festival“, das nur Informationen und Technologie kauft und weiterverkauft, kann man nicht angreifen. Jedenfalls nicht mit Kanonen.

Die Revoluzzer

Der Autor kennt sich also sowohl mit Soziologie und Physik wie auch mit der Geschichte der Science-Fiction aus. Er findet zahlreiche Gelegenheiten, ironische Seitenhiebe auszuteilen. Das lässt sich gut auch an der Entwicklung der Revolution auf dem vom Festival beglückten Planeten Rochards Welt ablesen. Durch die auffällige Ähnlichkeit der Namen zeigt der Autor mit dem Finger auf die Parallele der russischen Oktoberrevolution. Die Erstürmung des Winterpalastes in Petersburg ist das Vorbild für den Beginn der Revolution.

Doch diese frisst bekanntlich zuweilen ihre Kinder, und so gerät auch Rubenstein immer wieder in Gefahr, wegen zweifelhafter Linientreue in die Mangel genommen zu werden. Es ist schon ein Kreuz: Die Ideologen unter sich – sie müssen sich ständig kabbeln, worin denn der richtige Weg besteht. Die Ankunft der „Kritiker“ ist der ironische Kontrapunkt zu dieser Entwicklung. Dass die Kritikerin „Siebente Schwester“ ausgerechnet im Hexenhäuschen der menschenfressenden Hexe Baba Yagá unterwegs ist (die Hütte bewegt sich auf Hühnerbeinen fort), kann man witzig oder putzig oder einfach nur doof finden – es ist mal was anderes als das ewige Raumkreuzereinerlei.

Die Letzten Dinge

Der Autor kommentiert also die Viktorianer und ihre Großmachtfantasien, obendrein auch noch die Revolution an sich, und nun schickt er sich an, auch noch Gott zu kritisieren. Gott tritt offensichtlich als das Eschaton auf. Der DUDEN verriet mir, dass unter „Eschatologie“ die „Lehre von den Letzten Dingen“ verstanden, das heißt vom „Endschicksal des einzelnen Menschen und der Welt“. Alles Roger, oder was? Ich ziehe es der Einfachheit halber vor, kurz und bündig von Gott und der letzten Bestimmung zu reden. Wahrscheinlich fand es der Autor überaus witzig, diesem Eschaton-Wesen einen urdeutschen Namen zu geben: „Hermann“. Warum nicht gleich Schopenhauer oder Schelling? Vielleicht weil sich „Herman“ im Englischen auf „German“ reimt.

Witze für Insider

Das ist ein sprachlicher Insiderwitz. Es gibt jede Menge Insiderwitze im Buch. Zum Beispiel auch für Physiker. Die kompetente Übersetzerin Usch Kiausch war so fleißig und schlau, diesen Dingen auf den Grund zu gehen und sie in Fußnoten anzugeben. Mitunter musste sie auch mit dem Autor korrespondieren, um den Witz hervorzulocken, wo er doch schon umzingelt war (der Witz, nicht der Autor).

Space Opera

„Singularität“ wird allgemein von der SF-Kritik der New Space Opera zugerechnet, und das scheint mir eine angemessene Klassifizierung zu sein. Diese Sternenoper hat sich lichtjahreweit von den martialischen Schaukämpfen der 1930er Jahre, als das Subgenre durch E.E. ‚Doc‘ Smith und andere geschaffen wurde, entfernt.

Der Autor greift auf den Fundus der SF selbst zurück, nämlich auf H.G. Wells, um dessen Viktorianer sogleich den künftigen Möglichkeiten der Informations- und Nanotechnologie gegenüberzustellen. Kanonen und Raketen, die auf Nano- und Biotechnologie losgelassen werden – das kann wohl nicht gutgehen. Die vom Festival bescherte Revolution auf Rochards Welt geht aber offenbar ebenfalls in die Hose – es scheint keine allein seligmachende Technik geben zu können. Übrig bleiben im Hintergrund ein Gott, der sich nur über Agenten einmischt, und ein Heer von Figuren, die sich halt so durchwursteln.

Satire

Das heißt aber nicht, dass der Autor keine Werte verträte und alles in Jux und Tollerei enden würde. „Singularität“ ist keine Parodie, sondern weist mehr Züge einer Satire auf. Eine Satire ist eine Methode, um bestimmte Werte zu verteidigen oder zurückzufordern, die als verloren oder angegriffen betrachtet werden. Der Begriff „Singularität“ wird gemeinhin als Bezeichnung für ein Schwarzes Loch verwendet, doch der Autor verwendet ihn in einem weiteren Sinne: Es ist der Urknall einer zivilsatorischen und technischen Umwälzung gemeint. Dies wird in der Vorvergangenheit der Handlung durch das Eschaton verursacht, welches neun Milliarden Siedler von der Erde vertreibt. Und auch die Ankunft und das Wirken des „Festivals“ könnte man in diesem Sinne als „Singularität“ bezeichnen.

Der Schluss liegt nahe, dass sich der Autor auf ein Phänomen bezieht, dass sich unter seinen zeitgenössischen Lesern vollzieht und von diesen nur allzu selten bemerkt wird: Der umfassende Einfluss des Internets und der Telekommunikation auf fast alle Bereiche des menschlichen Miteinanders. Inzwischen gibt es fast zwei Milliarden Handybenutzer auf dem Planeten – ein globales Dorf, dessen Teile sich paradoxerweise dennoch erbittert bekämpfen. Das Aufkommen der Virtualität durch das Internet ist noch längst nicht in ihrer vollen Tragweite erkannt worden – der Kulturschock kommt nur ganz langsam, wurde aber schon Anfang der Neunziger von Nicholas Negroponte in seinem Klassiker „Being digital“ vorhergesagt.

Stross verlegt den aktuellen Kulturschock einfach in die Zukunft, auf eine Kolonialwelt, die aus dem frühen 20. Jahrhundert ins 24. Jahrhundert katapultiert wird. Ihre Kolonialmacht will sie zurückkatapultieren – mit inzwischen anachronistischen Methoden: einer Kriegsflotte. Die Auseinandersetzung zwischen konservativ-reaktionären Kräften und der unaufhaltsamen Innovation in Gestalt des „Festivals“ lässt sich ohne weiteres auf heutige Verhältnisse in Politik und Soziologie rückübertragen. Die SF als Zeitkritik – das war schon öfters so. Selten gelang es auch zur Zufriedenheit der Leser.

Die über den menschlichen Belangen stehende Instanz des Eschaton ist für mich jedoch problematisch. Wo bleibt denn da der freie Wille, fragt sich so mancher Leser. Aber worauf beziehen sich denn die maßgeblichen politischen Kräfte unserer Zeit? Die einen, in den USA, auf den fundamentalistisch verstandenen Christen- oder Judengott, die anderen, im Islam, auf einen Allah, der alle Ungläubige zu vernichten befiehlt, glaubt man den „Hasspredigern“. Man sieht also, dass ein Gott nicht von außen kommen muss, um wirken zu können, sondern von innen herbeigeredet werden kann. Der freie Wille? Träum weiter. Im Krieg bleiben Freiheit und Wahrheit als erste auf der Strecke.

Das Eschaton ist aber auch ein erzählerischer Trick, um die Entwicklung der irdischen Zivilisation in eine schon lange antizipierte Richtung zu zwingen (und Zwang ist es eindeutig): die Besiedlung des Weltraums. Ich habe ja schon weniger plumpe „plot devices“ gelesen.

Unterm Strich

Die Space-Opera – alte wie neue – hat den Vorteil des großen Panoramas: Der großformatige Ausblick à la IMAX-Kino fasziniert den männlichen Leser ungemein. Diese Medaille hat eine Kehrseite, die dem weiblichen Leser sofort auffallen dürfte: In der Regel kommen die Gefühle und Empfindungen der agierenden Figuren zu kurz, werden sie doch stets dem großen Panorama und dessen Entwicklung untergeordnet. Dieses Manko sorgt dafür, dass alteingesessene Autoren wie Alan Dean Foster sich selbst dann noch gut verkaufen, wenn die New Space Opera (NSO) schon zur dominierenden Form im Genre SF geworden zu sein scheint.

Bei Stross ist es in „Singularität“ das Gleiche. Das menschenähnlichste Paar sind sicherlich Rachel und Martin, und am Schluss sehen wir sie wie Philemon und Baucis in „Faust II“ ein Leben im Schatten fristen, sozusagen in der Warteschleife – bis der Ruf des Eschaton sie davon erlöst. Mir ist dieses Paar sehr sympathisch, doch die anderen Figuren, zu denen selbst Rubenstein gehört, erwachen kaum je zu einem mehr als schablonen- oder karikaturenhaften Leben.

Karikaturen deshalb, weil der Roman sich über weite Strecken wie eine Parodie auf die bekannten Wells- und Doc-Smith-Klassiker liest. Das ist wie mit den Witzen: Nur die Insider – hier Informatik und Physik, dort SF-Leser und -Autoren – verstehen sie und wissen sie als Humoreinlage zu würdigen. Das jedoch macht die NSO zu einem Orchideenfach innerhalb der SF. Aber die Orchidee ist für den, der ihre Schönheit und Eigenart zu würdigen weiß, mitunter sehr schön.

Taschenbuch: 494 Seiten
Originaltitel: Singularity Sky, 2003
Aus dem US-Englischen von Usch Kiausch.
ISBN-13: 9783453520165

www.heyne.de

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