Sturgeon, Theodore – Milliarden-Gehirn, Das

_Das geschieht:_

„Medusa“ ist eine Kollektivintelligenz aus den Tiefen des Weltalls. Sie schickt Sporen aus, die durch den Raum treiben, bis sie einen Planeten erreichen, auf dem Leben möglich ist. Die Sporen nisten sich in den Hirnen ihrer Wirte ein und kontaktieren Medusa, die anschließend die geistige Herrschaft über diese Spezies übernimmt.

So funktionierte es jedenfalls, bis einer dieser Sporen die Erde erreicht. Nie hat die außerirdische Intelligenz eine Lebensform kennengelernt, die aus separat denkenden und handelnden Individuen besteht. Dieses Konzept ist Medusa völlig fremd, und sie hält es für einen biologischen Defekt, den sie zu beheben gedenkt.

Das ist leichter gesagt als getan, denn der Zufall will es, dass Medusas Spore sich ausgerechnet im Hirn des Säufers und Wirrkopfs Dan Gurlick festsetzt. Sie kann es nicht verlassen und muss sich mit den Verhältnissen arrangieren. Mit Zuckerbrot und Peitsche bringt Medusa den widerstrebenden Gurlick dazu, ihr erstens Informationen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns und zweitens Rohstoffe und Gerätschaften zu beschaffen, mit denen sie eine Apparatur konstruiert, die es ihr ermöglicht, alle Menschenhirne der Erde ‚zusammenzuschalten‘. Endlich ist es soweit. Gurlick schaltet ein. Die Menschheit verschmilzt zum „Milliardenhirn“ und wird Teil des Medusa-Kollektivs …

_Mancher Plan scheint vollkommen …_

Es beginnt als übliche Geschichte von der Invasion aus dem All, die man schon oft gelesen hat und immer wieder gern liest. Theodore Sturgeon gab ihr den Titel „The Cosmic Rape“, was ja durchaus unheilvoll klingt. Allerdings stellen sich beim Leser rasch Momente der Irritation ein, denn die Story nimmt nur scheinbar den bekannten Verlauf.

Mit „Medusa“ ist Theodore Sturgeon eine besondere ‚Figur‘ gelungen. Invasoren aus dem Weltall haben die Menschheit schon in unzähligen Romanen und Filmen überfallen. Vor allem in den 1950er Jahren stand meist böse Absicht dahinter – in Vertretung der Sowjetunion oder Chinas wollten die Eindringlinge die freien Menschen der Erde (= die Bürger der USA und ihre Verbündeten) unterjochen. Das will Medusa zwar ebenfalls, doch treibt sie eine seltsame Mischung aus Unverständnis und gutem Willen.

Sturgeon konstruiert eine Galaxis, in der das Leben als Kollektiv agiert. Man muss sich das etwa wie in einem Bienenstock oder Ameisenhaufen vorstellen: Das einzelne Insekt ist nichts; erst der Schwarm bringt Gewaltiges zu Stande. Die menschliche Individualität ist in diesem Fall das Fremde. Medusa kann nicht begreifen, dass der einzelne Mensch seine eigenen Entscheidungen trifft und gleichzeitig in der Gemeinschaft lebt, ohne seinen eigenen Willen aufzugeben. Also schafft sie Abhilfe – ihre Invasion ist eher Rettungsaktion. („Star-Trek“-Kenntnisse im Borg-Bereich sind zum Verständnis des Konzepts sehr hilfreich. Übrigens hat Sturgeon 1978 eine eigenen Roman zum Franchise beigetragen.)

Ohnehin kann von einer ‚Invasion‘ nicht geredet werden. Sturgeon macht sehr deutlich, dass Medusas ‚Opfer‘ nicht absorbiert i. S. von aufgelöst, sondern eingegliedert wurden: Ein Kollektiv ging in einem noch größeren Kollektiv auf – ein völlig normaler Vorgang, der nur im Falle der Menschheit zum „cosmic rape“, zur Vergewaltigung aus dem Weltall – so der Originaltitel – wurde.

Schon der Akt der Invasion ist untypisch. Medusas Sporen treiben im ‚Blindflug‘ durch das All; von einer gezielten ‚Eroberung‘ kann also keine Rede sein. Kein Außerirdischer wird die Erde betreten, Medusas gigantischer Kollektivkörper bleibt, wo er ist – nämlich überall und nirgends. Medusa muss nicht körperlich anwesend sein, da sie ihre ‚Glieder‘ per Gedankenkraft lenkt, die sie ungeachtet der Entfernung unmittelbar erreicht.

_… um schließlich vollkommen zu scheitern_

Medusa erleidet Schiffbruch, weil sie nie wirklich versteht, wie die Mensch funktioniert. Deshalb begreift sie auch nicht die Ungunst ihrer Ausgangslage, als sie ausgerechnet Dan Gurlick als Relais verwendet, der nicht nur ein Außenseiter, sondern geradezu der Inbegriff des Einzelgängers ist. Medusa benutzt ihn, aber er reagiert kontraproduktiv. Sturgeon verdeutlicht die Vielfalt der menschlichen Individualität, indem er die Schicksale weiterer Personen schildert: Guido ist eine Kriegswaise in Italien, Mbala ein afrikanischer Ureinwohner, Sharon Brevix ein vierjähriges Mädchen, das in der Wüste verlorengeht. Sie und andere Menschen verlieren als „Milliardengehirn“ keineswegs ihre gedankliche Selbstständigkeit. Stattdessen formen sie das Kollektiv zu einem Instrument um, das die negativen Seiten des Menschseins – Einsamkeit, Missverständnisse, Eigennutz – ausfiltert und ein weltweites Über-Ich bildet, zu dem alle Menschen Zugang haben, ohne dabei ihre Individualität zu verlieren.

Das ist so, wie Sturgeon es schildert, ein erstaunlicher, fast poetischer Vorgang. Nicht einmal Medusa selbst kann sich dem entziehen; sie entwickelt sich gemeinsam mit der Menschheit weiter. Zum Schluss haben alle etwas von dieser seltsamen Invasion. Nationalitäten oder gar Grenzen sind obsolet und der Mensch nicht nur Mensch geblieben, sondern wesentlich menschlicher geworden. Das klingt besonders für den zynischen Leser der Gegenwart möglicherweise naiv oder sogar lächerlich, ist es aber nicht, denn Sturgeon ist ein wortgewandter Autor, der Schmalz und Gefühlsduselei durch starke Bilder und plastische Charaktere ersetzt. Die perfekte Mischung aus Ernst und Leichtigkeit hat sogar die Übersetzung überstanden.

_“Fiction“ ohne „Science“_

Theodore Sturgeon hat sich nie besonders um den Aspekt der technischen Möglichkeit von SF gekümmert; er zog „inner fiction“ vor, die den Menschen der Zukunft in den Mittelpunkt stellte. Folgerichtig drückt er sich um eine ‚logische‘ Erklärung der Mechanismen, mit denen Medusa ihr Invasionswerk vorantreibt. Allerdings zieht sich Sturgeon überaus elegant aus der Affäre: Er beschreibt, wie sich Alien-Technik quasi selbst kreiert, um dies ansonsten unkommentiert zu lassen. Was dort entsteht, ist sichtlich unwichtiger als die Folgen für die Menschheit. So verwundert es nicht, dass Sturgeon auf den „Hard-SF“-Ballast verzichten kann, mit dem die eher naturwissenschaftlich ausgerichteten Autoren des Genres ihre Werke aufblähen. Sturgeon kommt mit dem „Milliarden-Gehirn“ nach 160 Seiten (im Original und in der deutschen Übersetzung) zu einem plausiblen Ende. Greg Bear, der die Menschheit 1985 in „Blood Music“ (dt. „Blutmusik“) ebenfalls ‚verschmelzen‘ ließ, benötigte mehr als das doppelte Volumen, um nur halb so intensiv zu überraschen …

_Anmerkung_

„The Cosmic Rape“ basiert auf der Novelle „To Marry Medusa“, die ebenfalls 1958 in der August-Ausgabe des Magazins |Galaxy Science Fiction“| erschien. Sturgeon baute sie quasi zeitgleich zum Roman aus, der – nichts ist einfach auf dieser Welt – später neu aufgelegt den Titel der Novelle ‚übernahm‘ und seither gern mit dieser verwechselt wird.

_Der Autor_

Theodore Sturgeon wurde als Edward Hamilton Waldo am 26. February 1918 auf Staten Island, New York, geboren. 1929 übernahm er den Nachnamen seines Stiefvaters William Sturgeon und änderte seinen Vornamen vom ungeliebten Edward zu (es fällt schwer dies nachzuvollziehen) Theodore.

Der junge Theodore Sturgeon plante eine Karriere als Trapezkünstler. Parallel dazu wollte er das College besuchen, wurde von seinem Vater jedoch der Disziplin wegen auf eine Militärakademie geschickt. Dieser glücklich entkommen, versuchte sich Sturgeon in einer ganzen Reihe von Jobs und schrieb nebenbei Geschichten. Erste Storys erschienen 1938, und 1939 gelang ihm mit „Ether Breather“ der Durchbruch als Profi in |Astounding Science Fiction|. Sturgeon wurde eine der Größen des Genres, wobei er die zeitgenössischen Space-Operas weitgehend mied und sich auf die ‚menschliche Seite‘ der Zukunft konzentrierte, womit er die SF der 1950er und 60er Jahre vorwegnahm.

Sturgeon gilt als großer Stilist, dessen mehr als 200 Kurzgeschichten den Romanen vorgezogen werden. Allerdings gehört „More Than Human“ (1953; dt. „Baby ist drei“/“Die Ersten ihrer Art“) zu den Klassikern des Genres und wurde 1954 mit einem |International Fantasy Award| ausgezeichnet. Zu seinem Werk gehört auch der innovative Vampir-Roman „Some of Your Blood“ (1961; dt. „Blutige Küsse“).

Theodore Sturgeon erlag am 8. Mai 1985 einer Lungenentzündung. Posthum wurde er mit einem |World Fantasy Award| ausgezeichnet. Mehr über sein Leben und Werk lässt sich folgender Website entnehmen:

http://www.physics.emory.edu/~weeks/misc/sturgeon.html („The Theodore Sturgeon Page“)

_Theodore Sturgeon auf |Buchwurm.info|:_
[„Die Ersten ihrer Art“ 1402
[„Die goldene Helix“ 1721

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