Mark T. Sullivan – Toxic (Lesung)

Schlangenbisse im Sumpf des Sex

Eine Serie von bizarren Sexualmorden erschüttert die schöne kalifornische Hafenstadt San Diego unweit der mexikanischen Grenze. Als Police Sergeant Seamus Moynihan zum ersten Tatort der Serie gerufen wird, findet er einen nackten Mann ans Bett gefesselt vor, gestorben am Gift der tödlichsten Schlangen der Welt.

Der Autor

Mark T. Sullivan ist Journalist und wurde bereits zweimal für den |Pulitzer Prize for Investigative Reporting| nominiert. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht und lebt als freier Autor mit seiner Familie in Montana. (Verlagsinfo)

Der Sprecher

Wolfram Koch spielte an fast allen großen deutschen Theaterbühnen und ist neben seiner Film- und Fernseharbeit ein beliebter Hörbuch- und Hörspielsprecher. (Verlagsinfo)

Textbearbeitung und Regie erfolgten durch Torsten Feuerstein, für den guten Ton sorgten die Tonmeister Ahmed Chouraqui und Max von Werder im On Air Studio, Berlin.

Handlung

In den Seaview Apartments von La Jolla öffnet Mary, die Putzfrau, die erste Wohnung des Tages. Sie findet einen nackten Mann auf dem Bett vor. Und weil er über und über mit schwarzen und roten Pusteln bedeckt ist und sie aus Afrika stammt, schreit sie: „Ebola!“ und rennt sofort wieder hinaus.

Nun, so schlimm ist es nicht, zumindest für die Stadt La Jolla und das nahe San Diego, aber für den Toten auf dem Bett sicher schlimm genug. Als er gerade seinen Sohn Jimmy beim Baseball trainiert, wird Sergeant Seamus Michael Moynihan vom San Diego Police Department an den Tatort in La Jolla gerufen. Weil Seuchenverdacht besteht, müssen er und sein Kollege Rico ABC-Schutzanzüge tragen, die sie aussehen lassen wie Astronauten auf dem Mond. Moynihan war mal Baseballstar in Boston und ist 1,92 m groß. Er lebt auf einer Hochseeyacht im Hafen.

Nummer 1

Der Tote im Bett sieht tatsächlich aus wie ein Ebola-Opfer und jagt ihm Entsetzen ein. Mit Hilfe der Dokumente in der Brieftasche identifiziert er die Leiche als Morgan Cook jr. Der Gerichtsmediziner sagt, das ist kein Ebola, sondern das sind Schlangenbisse. Mit Luminol können die Spurensucher Worte auf dem Spiegel sichtbar machen: „Welch unsagbare Freude, den Tod in Händen zu halten.“ Klingt ganz schön durchgeknallt.

Moynihan fragt den neuen Verlobten seiner Ex-Frau Faye. Walter ist Arzt und weiß Bescheid über Schlangenbisse. Das Opfer hat stets große Schmerzen, und zwar sowohl körperliche wie auch seelische. Man glaubt, man müsse gleich sterben, und zwar durch das archetypische Böse: durch eine Schlange. Morgan Cook wurde also gefoltert, bevor man ihn sterben ließ, und zwar sechs bis sieben Stunden lang, wie der Gerichtsmediziner sagt.

Nummer 2

Der zweite Mord mit Schlangenbissen geschieht nur eine Woche später, an einem „Künstler“ namens Haines. Wieder finden sich bei ihm ein Spruch, diesmal aus der Apostelgeschichte der Bibel. Darin hat es der Apostel Paulus mit einer Schlange zu tun, doch er überlebt und wird von seinen Gefährten gefragt: „Bist du ein Gott?“ Moynihan fragt sich, ob sich der oder die Täter für einen solchen Gott halten. Das würde auch den ersten Spruch erklären: Er oder sie hält sich für einen Gott, der über Tod oder Leben entscheidet. Was diese Sprüche zu bedeuten haben, will Mahoney von einer superattraktiven Bibelforscherin namens Susan Dahony erfahren, d. h. sie hat sich der Mordkommission dafür angeboten. Die verführerische Endzwanzigerin hat ein Buch über Lilith, die erste Frau Adams geschrieben. Lilith sei die Herrin der Dämonen, meint sie. Aber über die Zitate müsse sie erst nachdenken.

Die Opfer werden an drei strategisch wichtigen Körperteilen gebissen. Und zwar von einer schwarzen Mamba und einer wertvollen Diamant-Klapperschlange. Solche Viecher findet man nicht in der Wüste. Deshalb sucht Mahoney zwei Experten auf, die für den berühmten San Diego Zoo arbeiten: Nick Foster, ein australischer Schlangenbändiger mit einer eigenen Show, und seine bildhübsche Assistentin Janice Hood, mit der Moynihan ein Techtelmechtel anfängt.

Nummer 3

Der dritte Tote mit Schlangenbissen am ganzen Körper ist ein gewisser Spruills, und auch bei ihm findet die Polizei einen Spruch: „In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben.“ Aus dem Markus-Evangelium. Doch Moynihan kommt nicht mehr dazu, sich mit diesem Toten näher zu befassen – er wird vom Dienst suspendiert.

Denn seine „Eskapaden“, wie sein weiblicher Boss Helen Adler behauptet, bei der Verfolgung eines verdächtigen Drogendealers und Schlangen-„Beschwörers“ namens Big Jah haben nicht nur den Verkehr in und um San Diego gefährdet, sondern auch fast den Tod seines Kollegen Rico durch einen Schlangenbiss herbeigeführt. Dass Moynihan Big Jah gefasst hat, scheint niemanden zu interessieren. Seine Proteste sind vergeblich.

Wenigstens, so denkt er, kann ich jetzt mit Susan ausgehen und mit Janice vögeln. Denkste! Mit beiden gibt es Streit und sie schicken ihn in die Wüste. Was vielleicht keine schlechte Idee wäre. Neue Hinweise, die ihm seine Kollegen klammheimlich zukommen lassen, weil ihr Big Boss Fraser strohdumm sei, führen ihn nach Alabama, in die hinterste Provinz. Dorthin, wo Schlangenbeschwörung zum Gottesdienst gehört …

Mein Eindruck

Der Autor hat eine wirkungsvolle Mischung aus Erotik und tödlicher Gewalt angerührt und mit cleverer Erzählweise serviert. Was zunächst wie eine ganz normale Mordserie mit Schlangengift als Waffe aussieht, entpuppt sich als religiöser Rachefeldzug einer Psychopathin. Sie ist im letzten Drittel die eigentliche Hauptfigur, eine auch namentlich identische Verkörperung von Lilith, der ersten Frau Adams und späteren „Herrin der Dämonen“. Dass Lilith von einer Bibelforscherin auch noch als Kains Frau identifiziert wird, verleiht der Sache noch zusätzliche Pikanterie: Ein Ruch von Inzest liegt über der Bibelgeschichte, und wie sich herausstellen soll, bleibt es auch in der Realität nicht beim Ruch, sondern wird ziemlich handfest umgesetzt.

Holiness

Die eigentlich geniale Idee des Autors besteht in der Einführung der „Holiness“-Gemeinde. Damit meint er die Schlangenbeschwörer in den Appalachen-Bergen, die es offenbar wirklich gegeben hat. (Sie waren Splittergruppen der bekannteren Pfingstbewegungen.) Obwohl „Schlangenbeschwörer“ keineswegs die zutreffende Bezeichnung ist für das, was der Gemeindevorsteher tut. Er setzt Schlangen, die biblische Verkörperung Satans, als Probemittel ein für den Mut und die Glaubenstreue der Gemeindemitglieder (und mit „Gemeinde“ ist hier immer die Kirchengemeinde gemeint).

Bei dieser „Kommunion“ legt er Giftschlangen um die Arme des Gemeindemitglieds, um zu sehen, ob die Schlange zubeißt. Nur Mitglieder, die fest im Glauben sind, sind nicht so nervös, dass die Schlange zum Biss gereizt wird. So lautet zumindest die Annahme. Moynihan kann es mit eigenen Augen mitansehen, wie es funktioniert. Allmählich kann er sich vorstellen, was Lucas Stark, von 1967 bis 1976 der Reverend der Holiness-Gemeinde im Alabamastädtchen Hettisburg, mit seinem Schlangenkult anrichtete. Das konnte nicht gutgehen und gipfelte in einer blutigen Katastrophe.

Lilith

Das Ergebnis seiner Nachforschungen bringt Moynihan auf die Spur der wahren Identität des Mörders in San Diego. Doch natürlich ist es nie so einfach, einen früheren mit heutigen Namen zur Deckung zu bringen. Und so tappt er unversehens auf einer falschen Fährte in eine tödliche Falle. Dieser finale Showdown ist ebenfalls äußerst wirkungsvoll und intensiv gestaltet, so dass der Leser bzw. Hörer keine Chance hat, der Story zu entkommen. Er muss alles bis zum bitteren Ende miterleben. Natürlich gibt es ganz am Schluss noch eine unerwartete Wendung als Pointe, aber das fand ich dann schon nicht mehr so glaubwürdig.

Sexualpanorama

Ein wichtiger Aspekt der Geschichte – und vielleicht der erste Grund, diese Story zu erzählen – ist das Panorama an sexuellen Spielarten in einer amerikanischen Großstadt des angehenden 21. Jahrhundert. Sgt. Moynihan und seine mehr oder weniger abgebrühten Kollegen ermitteln im Privatleben der Schlangenbissopfer und stoßen auf: Chatforen für „experimentellen“ Sex, Vermittlungsagenturen für Prostituierte, gefilmte Sexabende bei bekannten Schauspielern oder Politikern (oder beides), kurzum: auf einen Sumpf, in dem alles an Sex und Drogen ausprobiert und konsumiert wird, was einen Kick bringt. Natürlich ist auch Bondage dabei, aber ist das schon das, was man als Gewalt bezeichnen würde? Die Grenzlinie ist fließend und verläuft subjektiv.

Der Rächer

Angesichts dieses Sumpfes der Amoral könnte man nachvollziehen, was einen fundamentalistischen Christen der Holiness-Sekte zu den Morden treibt. Die Frage dabei ist, wie sehr sich der Autor auf die Seite von Mörder (= strenge Moral) oder Polizei (Gesetzeshüter) schlägt. Der Autor tut weder das eine noch das andere, sondern zeigt auf, was passieren könnte, wenn sich der Gesetzeshüter, hier: Moynihan, auf die „falsche“, d. h. lebensgefährliche Seite verirrt, einfach dadurch, dass er Sex mit relativ Unbekannten hat. Durch diese Methode überlässt es der Autor dem Leser bzw. Hörer, sich sein eigenes Urteil zu bilden. Das Publikum wird ohne Zweifel fasziniert sein, sowohl von den sexuellen Abarten, die ihm vorgesetzt werden, wie auch von der tödlichen Gefahr, in die der Held dabei gerät.

Eine Lehre

Tja, und wenn man eines mit Sicherheit mit nach Hause nehmen kann, so ist es das Wissen, dass ein Schlangenbiss, selbst der einer gewöhnlichen Klapperschlange, noch längst nicht tödlich sein muss. Mit Mambas und Taipans sieht es dann schon wieder kritisch aus, aber wer wird denn gleich in den Dschungel gehen?

Der Sprecher

Man merkt Wolfram Koch seine langjährige Bühnenerfahrung an. Er kann seine Stimme flexibel einsetzen und wird dadurch sowohl wechselnden Situationen als auch den individuellen Figuren gerecht. Zwischen den Kapiteln macht er stets eine kleine Pause und spricht sehr deutlich. Zwar ist an ihm kein Rufus Beck verloren gegangen, doch er hilft zumindest, Frauen und Männer auseinanderzuhalten. Männer sprechen entweder ganz normal wie der Ich-Erzähler Moynihan oder so tief wie der „Arsch mit Ohren“ Fraser oder Morgan Cooks Vater. Witzfiguren wie der Reptilienhändler haben eine hohe Stimme wie Ben Stiller und wirken allein schon dadurch, als seien sie nicht ganz ernst zu nehmen.

Frauen fallen ebenfalls in verschiedene Kategorien. Da ist zunächst die ganz normale Hausfrau Faye, Moynihans Ex. Eine ernstere, strengere Stimme ist der Polizeipräsidentin Helen Adler zugewiesen. Doch dann gibt es noch die Lilith-Typen: verführerische Frauen, die Moynihan das Leben entweder versüßen oder zur Hölle machen. Wenn Janet Sex mit ihm hat, hören wir auch den Sprecher entsprechend keuchen, seufzen und stöhnen. Wenn die Putzfrau ihren „Ebola“-Fall findet, hören wir sie – und später auch andere Figuren – rufen.

Einer der Höhepunkte in der Intonationskunst ist der Gottesdienst der „Holiness“-Kirchengemeinde in Alabama. Hier kann er mal salbungsvoll klingen, dann wieder deklamieren und vieles mehr. Schauer jagten mir hingegen seine langsam ausgestoßenen Drohungen über den Rücken, wenn der Mörder seinem Opfer vorhersagt, was ihm nun blühen wird. Dies wiederholt sich in noch stärkerem Maße im finalen Showdown zwischen Moynihan und dem Mörder, nur vielfach intensiviert. Tolle Leistung.

Schwächen

Leider hat Koch auch eine Schwäche. Er hätte sich nach der korrekten Aussprache von Namen erkundigen sollen. So heißt sein Sgt. Moynihan nicht [schejmäs] mit Vornamen, sondern [si:mäs], und das, obwohl sein Spitznamen korrekt Shay, [schej], lautet. Auch den Namen des Städtchens La Jolla spricht Koch völlig anders aus, nämlich englisch statt spanisch. Bei ihm hört sich La Jolla wie [la’dscholla] an statt wie im Spanischen [la’choia].

Dass er aber auch den Cache eines Web-Browsers nicht zu kennen scheint, ist schon ein wenig besorgniserregend. Statt [käsch] klingt das bei ihm wie [kejdsch], also genauso wie das englische Wort „cage“ für Käfig. Nur dass ein Cache eben ein Pufferspeicher ist. Das sind aber die einzigen Schwächen in einem ansonsten makellosen Vortrag, und man bemerkt sie auch nur, wenn sich mit Sprachen gut auskennt.

Unterm Strich

Das aktuelle |PLAYBOY|-Titelbild zeigt eine junge Frau, die von einer Pythonschlange umschlungen wird – Inbild der gefahrvollen Versuchung und Verlockung für den (meist) männlichen Betrachter. Auf der gleichen Schiene, nur noch um einige Grade gefährlicher, bewegt sich auch der Mörder in Sullivans Thriller. Er oder sie macht seine Opfer erst wehrlos, als ob er ein sexuelles Spiel treiben wolle, doch in Wahrheit ist dies eine Glaubensprobe, und wer sie nicht besteht, bezahlt mit einem Biss des „Richters“, nämlich der Giftschlange. Sullivans Mörder stellt die amerikanische Gesellschaft auf den Prüfstand seines eigenen, extrem strengen Glaubens, und da die amoralisch gewordene Gesellschaft den Test nicht besteht, gibt es eben reihenweise Opfer.

Der Polizist hat den heiligen Georg zu spielen und die Schlange in Menschengestalt zu besiegen, heiße sie nun Schwarze Mamba (man denke an Die Braut Kiddo in Tarantinos „Kill Bill“), Lilith oder ganz anders. Wird unser Ritter die Probe bestehen? Nägelkauen ist mal wieder angesagt, während der Autor uns mit Actionsequenzen und unaussprechlichen Geheimnissen (Inzest) in den Strudel seiner Geschichte lockt, als wäre er selbst eine männliche Lilith (die Verlockung hat viele Gesichter).

„Toxic“ ist sicherlich einer der tadellosesten Thriller, die ich in letzter Zeit genossen habe. Es ist schwer, überhaupt einen Makel zu finden.

Das Hörbuch wird von Wolfram Koch ausgezeichnet vorgetragen. Wenn auch an ihm kein Rufus Beck verlorenging, so schafft er es doch, die Figuren unterscheidbar zu machen, sie zum Leben zu erwecken und bestimmte Szenen wie etwa den Showdown mit dem Mörder sehr intensiv zu gestalten. Das ist eine große Leistung, die ich bewundere. Was ich weniger bewundere, ist die falsche Aussprache von bestimmten Namen und Bezeichnungen (La Jolla, Seamus und Cache).

Originaltitel: The serpent’s kiss, 2003
Aus dem US-Englischen übersetzt von Sonja Schuhmacher und Thomas Wollermann
459 Minuten auf 6 CDs
ISBN-13: 978-3866100909

www.argon-verlag.de

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