Thiesler, Sabine – Kindersammler, Der

Der zehnjährige Felix macht mit seinen Eltern Anne und Harald Urlaub in der Toskana. Eines Abends kommt er nicht vom Spielen nach Hause. Die Suche der Polizei bleibt ohne jede Spur und seine verzweifelten Eltern kehren alleine nach Deutschland zurück. Während sich Harald auf eine Affäre einlässt und sich ein neues Kind wünscht, gibt Anne über all die Jahre hinweg die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihrem Sohn nicht auf.

Niemand ahnt, dass der Mörder zuvor bereits in Deutschland aktiv war. Wie in Italien verschwand dort regelmäßig alle drei Jahre ein kleiner Junge, doch da hier die missbrauchten Leichen gefunden wurden, zieht kein Ermittler eine Parallele. Erst zehn Jahre später, als wieder ein Junge in Deutschland ermordet wird, erkennt die Kommissarin Mareike die Zusammenhänge mit der Toskana. Seit zwanzig Jahren hofft sie auf eine heiße Spur, da der Fall ihr keine Ruhe lässt. Um ihren Verdacht zu prüfen, reist sie mit ihrer Lebensgefährtin und den adoptierten Kindern nach Italien.

Zur gleichen Zeit beschließt auch Anne, wieder in die Toscana zu fahren, um dort nach einer Antwort auf Felix‘ Verschwinden zu suchen. Gegen den Willen ihres Mannes kauft sie spontan ein malerisches, abgelegenes Anwesen, beginnt eine Romanze mit dem ausgewanderten Makler Kai und forscht weiter nach ihrem Sohn – und kommt dabei dem Täter, ohne es zu wissen, gefährlich nahe …

Thrillern über Kindermörder gelingt es besonders leicht, Aufmerksamkeit zu erregen, selten aber so intensiv wie in diesem Fall.

|Ausgefeilte Charaktere|

Ein großes Verdienst des Romans liegt in den gelungenen Charakteren. Neben dem Täter steht dabei vor allem Anne im Vordergrund, die auch nach zehn Jahren die Hoffnung nicht aufgegeben hat, eine Spur ihres verschwundenen Sohnes zu finden. Man bekommt Einblicke gewährt in das zerrüttete Leben einer Frau, die sich von ihrem Mann entfernt und ihn beim Seitensprung mit der besten Freundin erwischt und die sich schließlich selber auf die Suche nach ihrem Kind macht, auch wenn sie dafür in ein anderes Land fahren muss. Eine interessante Nebenfigur ist Allora, eine scheinbar alterlose Frau, die als Dorfmaskottchen gilt und außer ihrem erklärten Lieblingswort „Allora“, das ihr schließlich ihren Namen einbrachte, keinen Ton spricht. Die temperamentvolle Kindfrau schwebt zwischen Hysterie und Ergebenheit und ist, was lange Zeit niemand ahnt, eine wichtige Zeugin, was die verschwundenen Jungen in der Toskana angeht.

Im Gegensatz zu Anne werden die Familiengeschichten der anderen Opfer nur kurz angerissen, dennoch gelingt es der Autorin überzeugend, das Leid dieser Menschen greifbar zu machen. Vor allem der Beginn, der schildert, wie der kleine Benjamin in die Hände von Mörder Alfred fällt, ist so grausam realistisch gestaltet, dass selbst abgehärteten Thrillerlesern das Schlucken schwerfällt. Man bekommt schmerzhaft vor Augen geführt, wie man selbst aufgeklärte Kinder, die von ihren Eltern vor fremden Erwachsenen gewarnt wurden, dazu überreden kann, mit ihnen zu gehen. Gerade dadurch, dass das Martyrium des Jungen nicht bis zum Schluss ausgeführt wird, malt sich der Leser die grauenvollen Details automatisch selber aus.

|Spannung trotz bekanntem Täter|

Im Gegensatz zu den anderen Figuren ist der Leser von Beginn an darüber informiert, wer der Mörder der Kinder ist. Abwechselnd beschäftigt sich die Handlung mit seinem Leben und mit dem der anderen Seite, die aus den Familien der Opfer und den Ermittlern besteht. In Rückblicken erfährt man viele Details über Kindheit und Jugend des Mörders Alfred, welche fixen Ideen seinen Taten zugrunde liegen und erhält das Psychogramm eines Menschen, der glücklicherweise nicht nur aus Klischees besteht, was bei solchen Thrillern naheliegt. Trotzdem bleibt der Roman hochspannend, da man bis zum Schluss im Ungewissen bleibt, ob Anne oder die Ermittler den Mörder identifizieren, ob es noch weitere Opfer geben wird und was mit ihm selber geschieht.

Letztlich fragt man sich auch, welche Richtung Annes Leben nehmen wird, unabhängig von der Frage, ob sie das Verschwinden von Felix aufklärt. Denn obwohl sie sich ein Haus in der Toskana kauft und sich auf eine Affäre mit dem Makler Kai einlässt, hält sie den Kontakt zu ihrem Mann, der darauf baut, dass sie nach ein paar Monaten zurück nach Deutschland kehrt und sie schließlich auch besuchen kommt. Da selbst Anne lange Zeit nicht weiß, ob sie ihre Zukunft in Italien oder in Deutschland verbringen wird, ist der Leser erst recht ungewiss darüber, wie sich ihr Leben entwickelt. Der Roman bezieht seine Spannung nicht nur aus einer Mörderjagd, sondern auch aus der Konstellation eines Familiendramas heraus, das unter der Oberfläche sogar dominanter herrscht als der Thrillerfaktor.

|Einige Schwächen|

Dennoch ist der Roman nicht uneingeschränkt gelungen. Einmal kommt der Handlungsstrang um die Ermittlerin Mareike deutlich zu kurz. Mareike ist nicht nur Kommissarin, sondern gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Bettina und den beiden adoptierten Kindern eine interessante Figur, die später noch eine wichtige Rolle in der Handlung einnimmt. Während man bei ihrem ersten Auftauchen noch suggeriert bekommt, dass ihr Handlungsstrang nun regelmäßig zugeschalten wird, verschwindet Mareike lange Zeit in der Versenkung, weil sich alles Geschehen auf Anne und ihr Leben in der Toscana konzentriert. Vor allem in Anbetracht der Bedeutsamkeit, die Mareike und ihrer Familie am Ende zukommt, ist diese Gewichtung zu ungleichmäßig ausgefallen. Ein weiterer Punkt sind die etwas überstrapazierten Zufälle, die Anne den Weg zum Mörder weisen. Nicht nur die Augenzeugin Allora gehört dazu, sondern vor allem die zufällige Bekanntschaft, die Anne mit Alfred schließt. Dabei hätte man diesen Punkt umgehen können, indem man Hinweise auslegt, die Anne gezwungenermaßen in seine Nähe bringen, anstatt bloße Willkür anzuführen. Letzter wichtiger Punkt ist der Epilog, der sehr einfallslos und gezwungen wirkt. Im Schnellverlauf werden hier die Ereignisse von einigen Monaten durchgespult und der Schluss, der wohl überraschend sein soll, ist mehr aufgesetzt als alles andere. Das ist schade, da der gute Eindruck des Buches unter diesem zu sehr gewollten Finale leidet.

_Als Fazit_ bleibt ein bewegender Roman, der Thriller und Familiendrama gekonnt miteinander verbindet und nicht nur Lesern mit eigenen Kindern einen ob seiner Intensität schwer verdaulichen Lesestoff bietet. Das solide Psychogramm des Täters, die Spannung und die Charaktere überzeugen; allerdings schwächen ein paar konstruierte Zufälle und vor allem der Epilog den ansonsten sehr guten Gesamteindruck etwas ab. Dennoch insgesamt ein empfehlenswertes Buch, das noch einige Zeit nachwirkt.

_Die Autorin_ Sabine Thiesler studierte Germanistik und Theaterwisenschaften und arbeitete als Bühnenschauspielerin, ehe sie Schriftstellerin wurde. Neben „Der Kindersammler“ verfasste sie auch einige Theaterstücke und schrieb Drehbücher für Fernsehserien wie „Tatort“ und „Polizeiruf 110“. Im November erscheint ihr nächster Thriller „Hexenkind“.

http://www.heyne.de

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