Thomas, Scarlett – PopCo

Die englische Schriftstellerin Scarlett Thomas löst, laut Autorenbeschreibung, in ihrer Freizeit gerne mathematische Gleichungen. Das ist nicht unbedingt das, was man von einer jungen Schriftstellerin erwartet. Die Frage, die sich einem nun stellt, ist: Kann ein Buch von einer Person, die in ihrer Freizeit freiwillig Mathematik betreibt, überhaupt gut sein? „PopCo“ liefert die Antwort …

Alice Butler ist neunundzwanzig und ein bisschen seltsam. Früher hat sie Kreuzworträtsel entworfen, heute arbeitet sie als Produktentwicklerin beim weltweit drittgrößten Spielzeughersteller PopCo. Sie hat eine Vorliebe für das Knacken von Zahlencodes und Chiffren, trägt Klamotten und Frisuren, die sie von ihren hippen Kollegen abheben, und hat kaum Freunde. Dementsprechend fühlt sie sich im alljährlichen Kreativcamp ihres Arbeitgebers nicht gerade wohl. Gemeinsam mit sämtlichen PopCo-Mitarbeitern muss sie auf einem alten englischen Gut wohnen und alles ist ein bisschen wie im Schullandheim. Schlafsäle, Motivations- und Ideenfindungsübungen – zum Glück hat sie ihren besten Freund Dan dabei, mit dem sie sich über diese Sachen lustig machen kann. Dann lernt sie auch noch die exzentrische Esther kennen, die kifft und auch sonst recht rebellisch ist. Gemeinsam mit ein paar anderen werden die drei in ein besonderes PopCo-Team gesteckt: Sie haben die Aufgabe, d a s Teenagerprodukt zu erfinden. Jugendliche gelten als problematische, unberechenbare Zielgruppe, doch PopCo hat sich fest vorgenommen, sie zu knacken, auch mit unlauteren Mitteln …

Gleichzeitig wird in einem zweiten Erzählstrang Alices ungewöhnliche Kindheit erzählt. Alice wächst bei ihren Großeltern auf. Ihr Großvater ist ebenfalls ganz vernarrt in Kreuzworträtsel und Chiffren, während ihre Großmutter eine große Mathematikerin ist. Als ihr Großvater einen Code knackt, der zu einem Schatz führt, zerstreitet er sich mit Alices Vater, da er die Lösung für das Rätsel nicht herausrücken möchte. Der Schatz soll seiner Meinung nach dort bleiben, wo er ist. Alices Vater verschwindet daraufhin, doch Alice erfährt nie, wohin und warum. Allerdings bekommt sie von ihrem Opa ein Medaillon mit einem Code vererbt …

Zuerst einmal die gute Nachricht: Scarlett Thomas‘ merkwürdiger mathematischer Zeitvertreib wirkt sich in keiner Weise negativ auf ihre Schreibkünste aus. „PopCo“ ist ein kleines Meisterwerk, vor allem in zwei Bereichen: den Figuren und dem Schreibstil. Die Handlung hingegen hat ihre Stärken und Schwächen. Eine der größten Stärken ist sicherlich Thomas‘ unendlicher Wissensdurst. Die Recherchearbeiten für dieses Buch müssen unglaublich aufwändig gewesen sein, da sehr viele unterschiedliche Themen darin verarbeitet werden. Da ist zum Einen alles, was sich um PopCo dreht. Spielzeugmarketing, Spielzeugentwicklung, Spielzeugarten – dieses Buch ist beinahe wie ein Praktikum in der Marketingabteilung eines Spielzeugherstellers. Danach weiß man eine Menge mehr über die unterschiedlichen Zielgruppen von Spielzeug, die Probleme damit und wie der Spielzeugmarkt aufgebaut ist. Dies erzählt die Autorin aus Alices Sicht allerdings so galant, dass die Trockenheit des Themas gar nicht auffällt. Man verschlingt Seite um Seite, ohne zu merken, dass man den Stoff einer Marketingvorlesung durch nimmt. An dieser Stelle muss man der Autorin wirklich ein großes Kompliment aussprechen. Nebenbei belehrt sie den Leser auch noch über Mathematik, Codes, den Ablauf von Ideencamps und schließlich auch noch über etwas anderes, sehr Relevantes, was an dieser Stelle nicht verraten werden soll. „PopCo“ ist damit eins der wenigen Bücher, nach deren Lektüre man deutlich schlauer ist – und es hat sogar Spaß gemacht!

Ein wenig Interesse an diesen Themen – oder zumindest sehr viel Durchhaltevermögen – muss man als Leser jedoch mitbringen. Thomas beschreibt vor allem Alices Aufenthalt auf dem Gut in sehr vielen Einzelheiten. Das ist zwar schön zu lesen, trägt zu der eigentlich Handlung nur wenig bei. Überhaupt ist die Handlung der Knackpunkt der Geschichte. Es gibt zwei Erzählstränge: einen mit der älteren und einen mit der jüngeren Alice. Beide verfolgen unterschiedliche Ziele, vermengen sich am Ende aber. Trotzdem flacht die Spannungskurve gegen Ende dramatisch ab. Die Geschichte hätte definitiv Potenzial für eine Vielzahl von kleinen Spannungskurven gehabt, doch Thomas lässt diese Gelegenheiten ungenutzt verstreichen. Ein Ereignis folgt dem nächsten und ist mal mehr, mal weniger relevant. Das große runde Ende, in dem sich alles in Wohlgefallen auflöst, sollte man jedenfalls nicht erwarten. Stattdessen präsentiert die Autorin dem Leser einen platten Schluss, der mit der eigentlichen Geschichte nur wenig zu tun hat.

Enttäuschte Erwartungen sind nicht unbedingt ein Garant dafür, Leser und Rezensenten in Begeisterung zu versetzen. Dass man Thomas diesen handlungstechnischen Fehltritt trotzdem verzeiht, ist Alice zu verdanken, die bereits jetzt eine der besten Protagonisten des Jahres ist. Von der ersten Seite an fesselt sie den Leser mit ihren kleinen Neurosen, Komplexen und Geheimnissen. Ihre teilweise skurrilen Gedankengänge, ihre Ticks – all das macht sie zu einer überaus spannenden Person. Zusammen mit Thomas‘ humorvollem, leichtfüßigen Schreibstil entsteht eine Ich-Erzählerin, die man gerne begleitet und die selbst die langweiligsten Mathematikerklärungen spannend macht. Auch an dieser Stelle muss man der Autorin hohes Lob zollen. Die Verbindung zwischen Hauptperson und Erzählstil ist seltengut und wertet die Geschichte unglaublich auf.

Auf der einen Seite steht eine etwas enttäuschende Handlung, auf der anderen eine grandiose Hauptfigur und ein toller, humorvoller Schreibstil. Zum Glück sind letztere so stark und originell, das sie die Macken von „PopCo“ überstrahlen. Dieses Buch ist überaus lesenswert. Scarlett Thomas legt die Messlatte für Romane, die im Jahr 2010 erscheinen, bereits im Januar verdammt hoch!

|Aus dem Englischen von Tanja Handels
700 Seiten, Taschenbuch
ISBN-13: 978-3499252532|
http://www.rowohlt.de

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