James Tiptree jr. – Warme Welten und andere

Coole Storys: respektlos, witzig, spannend und ganz anders

Diese klassische Geschichtensammlung der amerikanischen SF-Erzählerin versammelt ein Dutzend Erzählungen, die aus der Zeit stammen, als Tiptree alias Sheldon für gehörig Furore sorgte. Unter anderem bildete ihre Geschichte „Paradiesmilch“ den krönenden Abschluss von Harlan Ellisons legendärer Tabubrecher-Anthologie „Again, Dangerous Visions“ aus dem Jahr 1971. Die vorliegende |Heyne|-Ausgabe umfasst eine aufschlussreiche Einleitung von Robert Silverberg, in der er darüber spekuliert, wer dieser geheimnisvolle „Mister Tiptree“ sein könnte.

Die Autorin

Alice Hastings Bradley Sheldon alias James Tiptree jr. alias Raccoona Sheldon wurde 1915 in Chicago geboren. Ihre Mutter war eine Reiseschriftstellerin, ihr Vater Anwalt. Sie lebte in ihrer Jugend in Afrika und Indien, aber anscheinend war sie lange Jahre für die Regierung, die CIA (bis 1955) und das Pentagon tätig. Im Jahr 1967 machte sie ihren Doktor in Psychologie. Obwohl sie bereits 1946 ihre erste Story veröffentlicht hatte, machte sie die Schriftstellerei erst 1967 zu ihrem Hobby, und nach ihrer Pensionierung schrieb sie weiter bis zu ihrem Tod 1987. Sie beging Selbstmord, nachdem sie ihren todkranken Gatten erschossen hatte.

Obwohl sie einige Romane schrieb, wird man sich an sie immer wegen ihrer vielen außergewöhnlichen Erzählungen erinnern. Ihre besten frühen Storys sind im |Heyne|-Verlag unter dem Titel „10.000 Lichtjahre von Zuhause“ (1973) und „Warme Welten und andere“ (1975) erschienen. Unvergesslich ist mir zum Beispiel die Story „Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod“, die den |Nebula Award| 1973 errang. Weitere Geschichten sind in „Sternenlieder eines alten Primaten„, „Aus dem Überall“ und schließlich „Die Sternenkrone“ gesammelt. Ihr Roman „Die Feuerschneise“ (Up the walls of the world, 1978, dt. bei |Heyne|) erhielt ebenfalls viel Lob.

Hinweis: Bei Golkonda ist eine Monographie über die Autorin erschienen, die ich hier vorgestellt habe.

Erzählungen

1) All die schönen Jas

Die Aliens haben die Erde entdeckt, aber ihre Xenologen schätzen ihre Attraktivität als Nistplatz als recht gering ein. Nach mehreren (unbemerkten) Besuchen materialisiert sich schließlich ein reicher Jüngling, der auf der Flucht ist und sich eine Menschengestalt hat geben lassen: mitten in Washington, unweit des Weißen Hauses. Das wäre an sich nichts Besonderes, wäre er dabei nicht völlig nackt und fünf Meter groß!

Die ausgelöste Panik unter den Erdlingen sagt ihm, dass etwas nicht stimmt. Ein Rundblick lässt ihn sich verkleinern und ein paar Klamotten anziehen. Nun sieht er aus wie ein junger Dandy aus dem Fernsehen. Sofort schnappt ihn sich eine junge Frau: Filomena. Ein kurzer Blick in ihren Geist verrät ihm ihren Namen. Er fragt sie, ob sie mit ihm nisten will. Nicht gleich an Ort und Stelle, signalisiert sie ihm, aber sie brauchen auf jeden Fall einen Wagen – den einer Freundin. Zusammen mit dieser und anderen Studenten fahren sie zum Arlington-Heldenfriedhof. Am Kennedy-Grab holt der Fremdling sein „Gepäck“: eine silberne Kapsel. Unterdessen versinkt Washington in Chaos …

Der Fremdling und seine vier Begleiter finden einen Unterschlupf, wo sie ungestört sind. Die beiden Frauen, Filomena und Greg, machen ebenso Liebe mit ihm wie RT, der Marxist und UFOloge, der schon immer an Außerirdische glaubte. Der Vierte im Bund ist zufrieden mit geistiger Übereinkunft. Danach kommuniziert der Fremde mithilfe seines „Gepäcks“: mehrere Aliens antworten und es wird den Erdlingen klar, dass die Alien-Invasion bereits in vollem Gange sein muss. So etwa sinkt der Sauerstoffgehalt in New York City zusehends zu jenem Wert, an dem er für anaerobe Wesen freundlich genug ist …

Da eröffnet ihnen der Fremdling, dass „er“ schwanger sei und in ungefähr einer Minute oder so etwa 30.000 Junge bekommen werde …

Mein Eindruck

Die Story arbeitet auf indirekte Weise mit dem Hintergrund der späten sechziger Jahre: |Pink Floyd|s „Umma Gumma“ und |Gandalf| sind en vogue, und die vier Hippies stehen auf Räucherstäbchen und freie Liebe. Da erfolgt die Alien-Invasion durch den Fremdling, und es sind weder die Geheimdienste noch das Militär, die die Welt vor seiner Brut retten, sondern eben unsere vier Hippies. Nicht Hass rettet die Welt, sondern Liebe.

Die Story ist wie so viele von Tiptrees Texten voller amüsanter oder boshafter Anspielungen, mit vielen Leerstellen, die der intelligente Leser mühelos füllen kann. Tiptree schrieb einmal, dass er/sie in seinen/ihren Geschichten eines um jeden Preis vermeiden wollte: Langeweile. Das ihm ihm/ihr vollauf geglückt.

2) Das ein- und ausgeschaltete Mädchen (HUGO Award 1974)

In der Zukunft ist öffentliche Werbung außer auf dem Produkt selbst verboten. Was ist also zu tun? Natürlich Product placement. Aber bitte nicht so plump wie in den 2D-Filmen, nein, man kreiere einen Promi, mit dem sich dann ein paar Millionen der 15 Milliarden Erdenbürger identifizieren können, und lasse ihn oder sie ganz unauffällig die beworbenen Produkte benutzen. Ungefähr so wie in der „Truman Show“, nur noch etwas unauffälliger. Alles klar?

Allerdings muss das Risiko, das die Werbeträger mit diesem Promi eingehen, auf ein absolutes Minimum begrenzt werden. Die Lösung lautet „Fernsteuerung“. Man braucht also zwei Dinge: eine lebende Puppe – die lässt sich problemlos klonen oder in Fleischtanks züchten und dann verdrahten. Zum anderen muss sie von einer geeigneten Steuerperson während aller Wachzeiten kontrolliert werden. Nicht so einfach. Diese Person müsste schon ziemlich aufopferungsvoll sein und sich selbst als stark benachteiligt sehen. Das ist im Fall der jungen Frau P. (für „Philadelphia“) Burke der Fall.

Die General Transmission Corporation, kurz GTX, heuert das Mädchen, nachdem es gerade einen Selbstmord versucht hat, an und offeriert ihr, dass sie in ihrer neuen Stellung an die Promis ihrer Träume herankäme, so wie sie es sich erhofft. P. Burke ist überglücklich. Sie ist arm und hässlich und hätte nie in ihrem Leben auch nur den Hauch einer Chance, ins Götterland aufzusteigen, in dem sich ihre Idole tummeln.

Monatelang läuft alles nach Plan, und der Rubel rollt. Doch dann kreuzt der Sohn des Konzernchefs auf, Paul Isham III. Er ist unzufrieden mit seinem privilegierten Sohnesstatus. Er verliebt sich in die Puppe, die den schönen Namen „Delphi“ trägt, und glaubt doch tatsächlich, sie sei ein echter Mensch. Damit beginnt eine Tragödie, die auch P. Burke ganz persönlich treffen wird.

Mein Eindruck

Diese ganze herzergreifende Story wird von einer Person unbestimmten Geschlechts in einem solchen Schnodderton erzählt, dass man sie eigentlich nur durch die Brille der tragischen Ironie ernst nehmen kann. Unser Erzähler, der den Leser mit „Oller“ und „Döskopp“ anredet, erklärt aber zum Glück auch, wie die Dinge in der Zukunft laufen, so dass man, ein Quäntchen Grips vorausgesetzt, alles richtig schön auf die Reihe kriegt. Dem Leser bleibt die Wahl: Soll er lachen oder weinen oder beides?

Am Schluss können wir jedoch über den Drahtzieher hinter dieser Sache lachen. Nachdem das Projekt „Hirnleiher“ so schweinemäßig in die Binsen ging, kramt er ein neues Projekt heraus, das Profit verspricht: Es geht um Zeitanomalien, und im ersten Test wird er mitten in die Nixon-Ära versetzt. Gratulation zur demnächst fälligen Einberufung nach Vietnam!

Diese Novelle wurde 1974 mit dem |HUGO Award| ausgezeichnet.

3) Am letzten Nachmittag

Vor Jahren sind die ersten Siedler auf dieser Welt mit ihrem Raumschiff abgestürzt. Sie fanden zum Glück eine der wenigen Lichtungen auf der von Wald bedeckten Insel, machten sich aber keine Gedanken darüber, warum es diese Lichtung überhaupt gab. Sie bauten ihre Siedlung auf, überwanden Probleme und vermehrten sich.

Mysha ist ein Mann der ersten Stunde und hat inzwischen mit seiner Frau Bethel einen erwachsenen Sohn, Piet, und eine jüngere Tochter, die schöne Melie. Mysha ist aber auch ein Seher, der geistigen Kontakt mit einer fremden Lebensform hat, dem „noion“, das als verschrumpelter Beutel an einem Baum hängt. Mit der Hilfe des „noion“ überwand er eine gesundheitliche Krise der Siedler, entdeckte aber auch den langen Zyklus der größten einheimischen Lebensform: der Zerstörer.

Es sind Lichtungen wie diese, zu denen die im Wasser lebenden Zerstörer alle Jahre wieder ziehen, um sich zu paaren und ihre Eier zu legen. Heute ist der Tag, an dem Mysha die Herden von Zerstörern heranziehen sieht, wenn er auf seinem Hügel über der Siedlung sitzt. Die Siedlung ist inzwischen mit Palisaden befestigt, und sogar eine Laserkanone konnte aus dem Raumschiffwrack geborgen, an Strom angeschlossen und aufgestellt werden. Doch wird das reichen? Mysha fleht das „noion“ an, ihnen zu helfen. Als der „Angriff“ rollt, muss er erkennen, dass sein Preis für das Überleben diesmal sehr viel höher sein wird …

Mein Eindruck

„Am letzten Nachmittag“ liest sich, als hätte man die biblische Geschichte von Noah zu einem Actiondrama verarbeitet. Der Angriff der Zerstörer hat titanische Cinemascope-Dimensionen und ist höchst dramatisch dem Ringen eines einzelnen Mannes, Mysha, gegenübergestellt, der das „noion“, ein Ersatz für den alttestamentarischen Gott Jahwe, um Beistand anfleht. Der Beistand wird zunächst auch gewährt, doch natürlich um einen Preis. Und da das „noion“ bereits selbst stirbt, ist fraglich, ob die Hilfe ausreicht. Und ob Mysha überleben wird.

Der Leser mag sich fragen, warum die Siedler nicht einfach in die Berge ausweichen und der Herde der Zerstörer ihren Willen lassen, bis sie wieder abgezogen ist. Das ist der Knackpunkt für Myshas Verhalten, seinen Pakt mit dem quasi-göttlichen „noion“. Dieses Zurückweichen würde die Vernichtung von altem Wissen, der Bibliothek, und moderner Technik, des Generators und des Labors, bedeuten, insgesamt also einen Rückfall auf eine weitaus primitivere Zivilisationsstufe.

Diesen Fall ist Mysha nicht bereit hinzunehmen. Denn er weiß, dass dann das Wissen der alten Erde verschwinden und die Entwicklung der Siedler einen ganz anderen Verlauf nehmen wird. Sie werden vielleicht in die Barbarei zurückfallen. Myshas Kampf ist ein Kulturkampf. Das macht ihn zum Helden. Seine Geschichte ist, wie gesagt, dramatisch und spannend zu lesen, wie der Auftakt zu einem Planetenroman.

4) Und irrend hab ich dies gefunden

Die Forscher sind auf dem Planeten Delphis Gamma Fünf gelandet, haben aber nur primitive Eingeborene gefunden. Nur Evan Dilwyn, der junge Kulturforscher, ist überzeugt, dass der Berg der Eingeborenen, den sie „Der Berg-des-Weggehens“ und „Der Clivorn“ nennen, ein Geheimnis birgt. Er bricht alle Regeln und Beziehungen ab, um Den Clivorn zu ersteigen. Selbst die Eingeborenen hindern ihn vergeblich daran, den Berg, wo sie ihre Toten bestatten, zu besteigen, denn sie glauben, er wolle dort sterben und ihnen seine Kleider vorenthalten. Weil sie ihn verletzen, verliert er an Kraft.

Er findet, was er vom Schiff gesehen zu haben glaubt: eine horizontale Linie, die eine Energiebarriere verbirgt. Doch darüber gibt es eine zweite Energiebarriere, und erst dahinter offenbart sich ihm das Geheimnis Des Clivorn. Leider zu spät …

Mein Eindruck

Diese schöne Erzählung ist in bester Le-Guin-Tradition geschrieben, und sogar die Namen Clivorn und Ardhvenne erinnern an Le Guins frühe [Hainish-Romane 328 wie etwa „Rocannons Welt“. Das Thema ist der Widerspruch zwischen moderner, computerbasierter Wissenschaft, die nur auf technische Daten vertraut, und der alten Feldforschung, die auf Erfahrungen aus erster Hand basiert.

Das Brechen der neuen Regeln hat natürlich seinen Preis: Offenbarung und Tod. Aber wir lernen daraus, dass nichts die unmittelbare Erfahrung aus erster Hand ersetzen kann. Man sollte bedenken, dass diesen Text eine Wissenschaftlerin geschrieben hat, und sie nimmt darin eine sehr kritische Haltung ein.

5) Amberjack

Eine Boy-meets-girl-Story. Amberjack, ein Arzt, hat *Rue, eine Künstlerin, kennen gelernt, aber sie weigern sich, es „Liebe“ zu nennen. Eines Tages gesteht sie ihm auf dem oberen Ende der Feuerleiter ihre Schwangerschaft und sagt, sie wolle ihn verlassen. Da passiert etwas Merkwürdiges in der Zeitstruktur, oder ist es ein Verkleidungstrick? Amberjack sieht in die Zukunft: Sein Sohn tritt ins Zimmer, aber dann kommt noch eine Frau: *Rue, wie sie als Mutter dieses Sohn ausgesehen hätte. Die Frau auf der Feuerleiter stürzt in die Tiefe, und die Frau im Zimmer zieht ihre Perücke ab …

Mein Eindruck

Noch so eine von Tiptree/Sheldons verrückten Geschichten, auf die man sich keinen Reim machen kann. Aber durch die Brechung in der Zeitstruktur qualifiziert sie sich durchaus als eine SF-Story.

6) Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod (Nebula Award 1973)

Der Ich-Erzähler ist ein Alien, eine Mischung aus Panzerechse und Spinne. Die ganze Story dreht sich um Überleben und Fortpflanzung, auf sehr ungewöhnliche Weise.

Unser junges Monster wird wie seine Geschwister von der veränderten Mutter plötzlich verstoßen. Wer nicht schnell davonläuft, wird von ihr gefressen. Vorbei sind die Tage, da sie Schutz und Nahrung bot. Unser Monster schafft es, diesem ersten Verrat zu entkommen. Doch der Plan ist groß, und so ist das stetig wachsende Monster mit effektiven Waffen und starkem Panzer ausgestattet. Das Überleben klappt, doch seine Artgenossen weisen es drohend fort.

Auf der Suche nach Gesellschaft stößt es eines Tages auf eine kleine rosa schimmernde Kreatur, die ständig „Lieliluu“ piept und gurrt.. Doch statt sie zu fressen, wickelt er sie ein, denn er hat sich in das Wesen verliebt. Damit er mit seinem Liebling überleben kann, zieht er in eine Höhle, die er mit Beute vollstopft.

Von einem alten, gebrechlichen Artgenossen hat er erfahren, was der Plan vorsieht. Dass nämlich die Artgenossen in dem kommenden harten Winter, der jährlich länger wird, einander jagen und fressen. Nur der Gierigste wird überleben. Der Plan mag zwar groß sein, doch unser Monster gedenkt, sich ihm zu widersetzen, denn es ist ja intelligent, und die Kälte des Winters macht dumm. Auf diese Weise, so hofft es, werde es zusammen mit seinem rötlichen Liebling den langen Winter überstehen, bis die Tage wieder länger werden.

Als es so aussieht, als sei der Plan überwunden worden, beginnt sich der kleine Liebling zu verlieben, und es kommt zu einer Paarung und Befruchtung. Auf eine geradezu unheimliche Weise verändert sich der Liebling. Und da er nun Junge zu versorgen hat, braucht er viel Nahrung …

Mein Eindruck

Wenn es je so etwas wie eine antike Tragödie für Aliens geben sollte, so ist dies sicherlich der Prototyp dafür. Unser Jüngling hofft, mit seiner Intelligenz dem Diktat des „Plans“ widerstehen zu können. Doch das Diktat der Liebe macht ihm einen dicken Strich durch die Rechnung, und so wird des Monsters Intelligenz ausgehebelt, um der Herrschaft des Plans, d. h. der Triebe und des Instinktes, zur Geltung zu verhelfen.

Die Story ist sowohl ironisch, weil unser junger Held allen Illusionen der Jugend von Größe und Intelligenz erliegt, als auch tragisch, weil die Herrschaft des Triebes jedes Lernen, Weiterdenken und die Entwicklung der Art verhindert. Es ist ein ewiger Kreislauf, aus dem es keine Chance auf Entkommen gibt. Das ist einer der Gründe, warum die Story zeitlos wirken kann und in ihrer Emotionalität und subjektiven Darstellung den Leser direkt anspricht.

7) Paradiesmilch

Das Imperium des Menschen hat sich ausgebreitet und dabei den Lebensraum der Crots vereinnahmt, die zwar Zweibeiner sind, aber geistig sehr unterbelichtet. Nun taucht auf einer Orbitalstation der junge Timor auf, der Sohn eines bekannten Pioniers der Erdflotte. Er verhält sich recht seltsam, so möchte er beispielsweise keinen Sex mit dem Mädchen Seoul haben, und die Anspielungen zweier gleichaltriger Jungen versteht er nicht. Daher nimmt sich ein Erwachsener seiner an, um herauszufinden, was mit ihm los ist.

Der Erwachsene ist ein Schwarzer, Santiago, und wie Timor – es ist nicht sein richtiger Name – zu spät erkennt, verfügt Santiago über ausgeklügelte Verhörmethoden. Die braucht er auch, denn Timor wurde offenbar geistig konditioniert. Er setzt sogar Hypnose ein, um aus Timor herauszuholen, wo er in den letzten sieben Jahren war. Auf „Paradies“, gesteht Timor, und dort gebe es tolle Städte, in denen elfenhafte Wesen leben. Aber von einer solchen Alienrasse hat niemand etwas gehört. Seltsam, nicht?

Timor ist unter Hypnose in der Lage, die ungefähre Lage von „Paradies“ anzugeben. Santiago fliegt mit ihm hin. Als sie auf dem Strand vor dem Dschungel landen, ist von Städten nirgendwo etwas zu sehen, und von Elfen schon gleich gar nicht. Doch da tauchen wirklich Wesen aus dem Dschungel aus, und nun schlägt Timors Herz höher – allerdings ekelt es Santiago nun wirklich …

Mein Eindruck

Man sollte berücksichtigen, dass Alice Sheldon einige Jahre für die CIA als Psychologin tätig war. Daher ist sie mit Techniken wie Gehirnwäsche, Hypnose und Dekonditionierung (also das Gegenteil von Gehirnwäsche) vertraut. Alle Techniken kommen in dieser Story am jungen Timor zum Einsatz. Die Gehirnwäsche wurde ihm auf „Paradies“ verpasst, ebenso die Konditionierung für das Überleben unter Menschen (aber von wem, verrät die Story nicht).

Santiagos Aufgabe besteht darin, den Weg Timors zurückzuverfolgen – eine in Tiptrees Storys häufige Richtung der Handlung. Ob sich die Thematik der Gehirnwäsche à la [„The Manchurian Candidate“ 1069 auch auf damalige Vietnameinsätze der CIA (ca. 1969) anwenden lässt, wäre eine Frage der guten Recherche, aber die Assoziation wird nahegelegt, so etwa durch das Dschungelambiente am Schluss der Geschichte.

8) Nachts blüht der Saurier

Eine Museumsdirektorin erzählt einem befreundeten Besucher von ihrer ersten Zeitreise-Expedition, die sie vor vielen Jahren nach Ostafrika zu den Hominiden führte. Sie waren sieben Leute und hoffnungsvoll, doch als ihr Techniker von einem Kurztrip in die Gegenwart zurückkehrte, erfuhren sie, dass man ihnen die Gelder streichen werde – einfach zu teuer. Doch Fitz, der Techniker, hat eine irrwitzige Lösung des Problems. Er hat dem maßgeblichen Senator, der im Bewilligungsausschuss das Sagen hat, vorgeflunkert, es gäbe hier einen riesigen Saurier zu schießen!

Natürlich sind die Saurier schon 80 Millionen Jahre ausgestorben, aber herrje, man könne ja einen echten Saurier in dessen Zeit erlegen und die Beute nach Ostafrika transferieren. Dann müsse man aber dafür sorgen, dass alles echt aussieht: die Spuren am Ufer des Sees, ja, und vor allem der Dung des Dinosauriers, der den Senator von dessen Echtheit überzeugen soll. Tja, und von da an futterten die Expeditionsmitglieder jede Menge Grünzeug …

Mein Eindruck

Die Saurier-Story ohne Saurier ist natürlich ein einziger riesiger Witz, eine Schnurrpfeiferei, wie sie nur erzählt werden kann, wenn eine Menge Alkohol im Spiel ist. Andererseits aber belegt sie mehrere Aspekte. 1) Senatoren lassen sich leicht auf den Arm nehmen. 2) Selbst eine Zeitreise garantiert nicht, dass die „wissenschaftlichen Ergebnisse“ echt sind, z. B. versteinerte Exkremente. 3) Wissenschaftler sind für ihre Forschungsgelder zu absolut allem bereit. Und obendrein macht die Story irrsinnig Spaß.

9) Doktor Ains letzter Flug

Dies ist der Bericht von Dr. Ains Flug und den bemerkenswerten Umständen seines Todes. Schon als er von Omaha/Nebraska nach Chicago flog, will man eine Frau neben ihm gesehen haben. Jedenfalls sprach er mit einer. Und er redete ständig mit ihr, als habe er sie direkt vor sich. Doch niemand kann sich später an sie erinnern. Auf allen Zwischenstationen fütterte er die Vögel auf den Flughäfen aus einer Futtertüte.

Er flog von Chicago über New York und Glasgow nach Moskau auf eine Konferenz von Mikrobiologen. Dort hielt er erst eine miese Rede mit unwissenschaftlichen Klagen über den schlechten Zustand der Erde und brach dann auch noch alle Geheimhaltungsvereinbarungen, als er von seiner Arbeit erzählte. Er habe, so sagte er zum Erstaunen der Zuhörer, ein Leukämievirus mutieren lassen, so dass nur höhere Säugetiere davon betroffen würden. Deren Immunsystem würde ausgeschaltet.

Als er in Hongkong landet, nehmen ihn die Amis fest und bringen ihn wieder nach Omaha, ins Militärhospital. Da ist es aber bereits zu spät, für ihn und für die Welt. Die Menschen überall auf seiner Reiseroute und zusätzlich auf den Wanderrouten der Zugvögel, die er gefüttert hatte, beginnen zu sterben …

Mein Eindruck

„Dr. Ain“ ist eine der erstaunlichsten Geschichten der SF überhaupt. Sie enthält mehrere Rätsel. Was verfüttert er an die Vögel? Wer ist er überhaupt? Und wer ist die Frau, mit der er sich ständig unterhält? Die Antwort: Diese Frau ist die Erde: Gäa Gloriatrix, seine erotische Geliebte, die er retten will, indem er den Menschen ausrottet. Und der Flug dient der Aussaat dieses Mittels zur Ausrottung. Im Grunde ist Dr. Ains Flug also ein Horrortrip … Hinweis: Die Autorin hat noch einige weitere Storys über die Reinigung der Erde von der menschlichen „Pest“ veröffentlicht.

10) Fehler

Bei einem Frachtflug zum Planeten der Shodars rastet der Matrose Mitchell leider aus. Captain John, unser Chronist, hätte den impulsiven Mann nie mitnehmen sollen, aber nun ist es zu spät: Mitchell reißt einem der Shodars die Fühler ab! Es kommt zu einem Prozess, zu einer Verurteilung wegen Kastration und zu einer Strafe.

Zunächst spürt Mitchell nichts, und Captain John ist schon froh, aber dann erweist sich die Strafe als unvorstellbar grausam. Die Shodars haben nicht seine Haftung im Raum verändert, sondern seine Haftung in der Zeit. Folglich erfolgt seine Reaktion immer eine Sekunde zu spät. Zu anfangs jedenfalls. Zwei Jahre später sind aus den Sekunden 20 Stunden geworden. Maggie, Mitchells Frau, unternimmt heldenmütig – oder liebevoll – alles, um ihrem Mann in diese 20-Stunden-Vergangenheit (oder Zukunft?) zu folgen …

Mein Eindruck

Die Story enthält eine verblüffend geschickt ausgeformte Idee, auf die man erstmal kommen muss. Ein Rutschen in der Zeit, dessen Ausmaß allmählich anwächst. Bis die Liebe zwischen Mann und Frau tragische Ausmaße annimmt und sie an Orpheus und Eurydike erinnern, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen: Sie folgt ihm in die Unterwelt des time-slips. Bewegend und mit einer netten Pointe versehen.

11) Ein Kommen, ein Gehen

Maltbie Trot ist ein Mitarbeiter bei einem Zeitungsverlag, der Leserbriefe an die „Liebe Candy“ beantwortet, sollte sich also mit Beziehungsfragen auskennen. Aber mit dem Mädchen, das aus dem Nichts bei ihm erscheint, ist er mit seinem Latein am Ende. Sie stammt aus dem 22-69, sagt sie, stammt aus Shago (= Chicago?) und hat schon einige Beziehungsformen ausprobiert. Aber weder Kommune à la Gangbang noch Harem noch Multikulti-Ehe sind etwas für sie. Da verschwindet sie wieder, aber wenigstens sah sie gut aus. Maltbies Stuhl hat sie mitgenommen. Sauerei.

Mein Eindruck

Die superkurze Story von gerade mal sechs Seiten nimmt satirisch die Leserberatungsseiten der Zeitungen und Frauenzeitschriften auf die Schippe. Nicht nur, indem ein männlicher Schreiberling sich als „Candy“ ausgibt – das kann man schon vermuten, wenn man Dr. Sommer in „Bravo“ liest. Nein, auch die komplizierten Beziehungsformen im 23. Jahrhundert sind eine Nummer zu schwierig für unseren 08/15-Ratgeber. Das Mädel redet in einem schnoddrigen (Berliner?) Gossenjargon, der mir sehr sympathisch ist. Und eigentlich willse ja gar nich zu Candy, sondern bloß aufn Lokus …

12) Die Einleitung von Robert Silverberg und Wolfgang Jeschke

99 Prozent dieses Textes stammen von Silverberg, von Jeschke kommen nur wenige Zeilen der Erläuterung hinzu. Erst 1977 wurde das Geheimnis um „James Tiptree jr.“ gelüftet, doch weil Silverbergs Text bereits 1974 (in „Phantasmicom“) erschien, spekuliert er noch, der Autor von „Paradiesmilch“ und anderen irren Geschichten müsse wohl ein Mann sein. Weil ja der Stil irgendwie „maskulin“ sei.

Was ich am ehesten aus seinem Text mitzunehmen bereit war, sind seine kurzen Wertungen der Erzählungen und besonders der Sammlungen, in denen sie zusammengefasst veröffentlicht wurden. So fehlt beispielsweise „Your haploid heart“ in der ersten Sammlung „10.000 Lichtjahr von Zuhause“ aus dem Jahr 1973, wohl weil die Novelle dafür zu lang war. Sie erschien erst in „Sternenlieder eines alten Primaten“ (ebenfalls bei Heyne). Silverberg weist auf diesen bemerkenswerten Umstand hin.

Ebenfalls von Interesse, zumindest für den literaturhistorisch interessierten SF-Fan, ist sein Bericht über das Auftauchen des „Phänomens“ James Tiptree jr., denn daran lässt sich ablesen, wie sehr die alte Garde von diesen umwerfenden Storys beeindruckt, wenn nicht sogar geschockt war. Es war unausweichlich, dass Tiptree auch in Harlan Ellisons Anthologie „Again, dangerous visions“ aufgenommen wurde. Ellison wollte ja alles, was irgendwie rebellisch und ungewöhnlich aussah, aufnehmen. Schon 1969 hatte er mit „Dangerous Visions“ die Leser aufgeschreckt. Wir warten heute noch auf seine Anthologie „Last dangerous visions“: Die Beiträge sind alle bezahlt, aber das Buch noch nicht erschienen. Vielleicht klappt’s ja, wenn Ellison unter der Erde ist. (Was inzwischen der Fall ist, aber die Anthologie ist immer noch nicht da.)

Die Übersetzung

… von René Mahlow ist leider nicht ganz das Gelbe vom Ei. Zwar wird man – selten genug – von Druckfehlern verschont, aber die meisten der rund ein Dutzend Zweifelsfälle sind in der Regel stilistischer Natur. „Ein delikater Augenblick“ ist zum Beispiel nicht etwas Schmackhaftes, sondern etwas Zerbrechliches, das auf der Kippe steht. Statt „Quetchuan“ sollte die Sprache der Inkas „Quetchua“ heißen. Ich wünschte, der Verlag würde die Übersetzung nochmals durchsehen und neu veröffentlichen.

Hinweis: Das hat inzwischen ein österreichischer Verlag erledigt, der leider keine Rezensionsexemplare verschickt, sonst hätte ich sie schon längst besprochen.

Unterm Strich

Von allen originellen Geschichten ist mir vor allem die kurze Story „Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod“ in Erinnerung geblieben, weiß Gott, warum; vielleicht wegen ihrer – durchaus nicht vorhersehbaren – Unausweichlichkeit, die an die antike Tragödie erinnert, aber auch wegen der intensiven sinnlichen Gefühle, die in der Beziehung der Echse zu ihrem „Liebling“ zum Ausdruck gebracht werden. Zu Recht ist die Erzählung mit einem wichtigen Preis des Genres (Nebula Award) ausgezeichnet worden.

Science-Fiction hat ihre Allgegenwärtigkeit vor allem dadurch erreicht, dass sie einerseits ein Sammelbecken für alle Arten von mythischen Helden und Heldinnen bildet, andererseits aber auch eine Literaturgattung ist, die ständig neue Ideen hervorbringt. Hervorbringen muss, denn der Wettbewerb innerhalb der SF und ihrer zahlreichen medialen Erscheinungsformen ist heute beinhart.

Anno 1970/73, als diese Erzählungen erschienen, war die SF zwar schon als TV-Serie über die Bildschirme geflimmert („Star Trek“), hatte sich aber erst nach vierzig Jahren von ihren amerikanischen Groschenheft-Anfängen (ca. 1927) entfernt – und der große Durchbruch stand mit „Star Wars“ (1977) noch bevor.

Tiptrees Erzählungen und ihre abgefahrenen Ideen trugen mit zu einer Veränderung des SF-Genres bei, nicht wie die New Wave sozialkritisch, sondern wie Le Guin in Richtung „weicher“ Wissenschaften und dabei besonders aus weiblicher Sicht – obwohl man das ihren Storys lange Zeit nicht ansah. Aber es ist auffällig, wie oft Frauen und Mädchen in diesen hier gesammelten Geschichten im Mittelpunkt stehen – oder als Gegenüber auftreten. Dass dies den männlichen Autoren der SF, stellvertretend sei Silverberg genannt, nicht auffiel, verwundert noch heute.

Für mich ist dieser Erzählband einer der persönlich wichtigsten in der SF, viel wichtiger als irgendetwas von Heinlein oder Asimov oder Herbert. Denn Tiptree alias Alice Sheldon wagt sich auf respektlose Standpunkte und und kritische Blickwinkel vor, die ihre Kollegen nie auch nur einzunehmen gewagt hätten – und die deshalb bis heute zu faszinieren wissen. SF lebt von Ideen, und die Kurzgeschichte ist von jeher die ideale Form dafür.

Taschenbuch: 220 Seiten
Originaltitel: Warm worlds and others, 1975
Aus dem Englischen von René Mahlow.
Illustriert von Thomas Heston, Titelbild von Karel Thole
ISBN-13: 9783453307247

www.heyne.de