J.R.R. Tolkien; Christopher Tolkien (Hrsg.) – Die Legende von Sigurd und Gudrún

Tolkiens Wurzeln: Von Sigurds Ursprüngen und Gudrúns Liebesleid

Professor Tolkien übertrug die nordische Vorlage für das Nibelungenlied im authentischen Stil der isländischen Sagen ins moderne Englisch. Die deutsche Übersetzung versucht das Gleiche und bietet so dem Literaturfreund Zugang zur Sagenwelt, die das Nibelungenlied ebenso beeinflusste wie Richard Wagners Opern.

Ergänzt wird die eigentliche Dichtung von zahlreichen Anmerkungen des Autors Tolkien selbst, aber auch vom Herausgeber Christopher Tolkien und schließlich auch vom Übersetzer Hans-Ulrich Möhring. Wohl dem, der diesen Verhau aus Anmerkungen links liegen lässt und sich gleich auf die Saga stürzt: Es geht in einem irren Tempo los!

Inhalte

Wie in der „Völuspa“ tritt schon zu Anfang die Seherin auf, um die folgenden Lieder um Sigurd und Gudrún in einen kosmischen Zusammenhang zu stellen. Sie prophezeit den Untergang der Asen (Götter) um Göttervater Odin, sollte nicht ein großer Recke gefunden werden, der den Asen beiseitesteht, gegen die Riesen aus Jötunheim, gegen die Midgardschlange und den Fenriswolf, am Tag von Raganrök.

Odin wandert mit Loki und Hönir durch die Pampa, als Loki einen Otter erschlägt. Dummerweise handelt es sich nicht um ein echtes Tier, sondern um den Sohn von Hreidmar, dessen zweiter Sohn der später allseits bekannte Fafnir ist. Hreidmar verlangt Gold, um die Erschlagung von Otr zu sühnen: Wergeld. Dieses Gold klauen Odin & Co. dem Zwerg Andwari, der darüber nicht sonderlich erbaut ist. Aber sie können Hreidmar beschwichtigen. Beide Seiten ergehen sich in Vorhersagen blutigen Unheils.

DAS NEUE WÖLSUNGENLIED

Signys Rache

Königin Signy, die Tochter von König Wölsung, einem Nachkommen Odins, hat zehn Brüder, unter denen ihr Zwilling Sigmund ihr der liebste ist. Als sie dem Gautenkönig zur Frau gegeben wird, kommen schon bald Hass und Zwietracht auf: Objekt des Zwistes ist das Schwert Grimnirs Gabe, das vermutlich Odin in einen Stützbalken stößt – und das nur von Sigmund gezogen werden kann. Neid ist die Folge. Die Gauten erschlagen neun von Signys Brüdern, so dass nur Sigmund entkommt. Getarnt als Schmied der Zwerge, entgeht er den Verfolgungen.

Signy jedoch plant ihre Rache und führt sie aus: Mit ihrem Bruder Sigmund zeugt sie einen Sohn, Sinfjötli, der zusammen mit seinem Vater und Onkel einen Guerillakrieg gegen die Gauten beginnt, bis sie schließlich deren König Siggeir erschlagen. Doch Signy gibt sich den Freitod, um ihren Tabubruch zu sühnen.

Sinfjötlis Ende

Mit Sinfjötli unternimmt König Sigmund zahlreiche Eroberungs- und Plünderungszüge. Doch eine Beute soll sich als verhängnisvoll erweisen: Sigmund geraubte, neue Königin verabreicht Sinfjötli einen Becher Äl, den dieser nicht ausschlagen kann, ohne als feige zu gelten. Nach dem Schluck fällt er tot um. Sigmund bringt den Leichnam zur Küste, wo bereits großer, grimmiger Fährmann (Odin?) auf ihn wartet. In Walhall freut sich Wölsung bereits, aber auch er harrt der Ankunft des größten aller Recken …

Sigurds Geburt

Der alte Sigmund nimmt sich die schönste der Frauen seiner Zeit, Sigrlinn, und zeugt mit ihr einen Sohn. Doch vor der Geburt kommen seine ausgestochenen Rivalen und besiegen das Königreich der Wölsungen. Schuld an seiner Niederlage ist ein großer, grimmiger Krieger, der das Schwert „Grimnirs Gabe“ zerschlägt. Nach Sigmunds Tod wird Sigrlinn in fremde Lande entführt und gebiert dort ihren Sohn, der goldene Locken und eisengraue Augen hat: Sigurd, der geweissagte Recke.

Regins Verrat

Das junge Kind wird in die Obhut des Schmiedes Regin gegeben und wächst dort, im Wald, zu einem starken Mann heran. Doch Regin ist der Bruder Fafnirs und des erschlagenen Otr, folglich giert er nach Hreidmars Gold, das Fafnir für ihn in Drachengestalt hütet. Regin tötet seinen Vater und stiftet Sigurd an, auch Fafnir zu töten. Wegen des Goldes oder wegen des Bruderhasses, fragt ihn Sigurd. Wie auch immer: Sigurd schmiedet die zwei Bruchstücke von Sigmunds berühmtem Schwert Gramr wieder zusammen und besorgt sich von Odin den Hengst Grani. So gerüstet erschlägt er Fafnir, den Drachen. Doch dieser warnt ihn in seinen letzten Worten vor dem Fluch, der auf dem Gold liegt. Und tatsächlich: Regin neidet Sigurd das Gold und muss selbst erschlagen werden, bevor er Sigurd tötet.

Verlobung mit Brynhild

Auf seinem Weg von der wüsten Gnitaheide zurück zum schönen Rhein erblickt Sigurd einen daliegenden Mann. Doch nein, es ist eine gerüstete Frau; Brynhild, eine Walküre Odins, soll nicht kämpfen, sondern heiraten. Und wenn besser, fragt sie sich, als den Recken, der den Drachen erschlug und das Gold errang? Sie verloben sich. Doch vor der Vermählung fordert sie stolz von ihm, er solle erst ein Königreich erringen, um ihrer würdig zu sein. Gebongt.

Begegnung mit Gudrún

Sigurd gelangt an König Gjukis Hof in Burgund, den Gatten der Zauberin Grímhild. Er hat drei Kinder: Gunnar, Högni und die wunderschöne, hellsichtige Gudrún. Welch ein Recke, denken die Niflungen, und als Sigurd ihnen sein Schwert zum Bund gegen die Hunnen bietet, schlagen sie ein. Sie machen die Hunnen Budlis, Atlis Vater, nieder, dann töten sie den Dänenkönig, schließen erobert Sigurd das Wölsungenland zurück. Dort mahnt ihn Odin, an die wartende Braut zu denken. Sigurd nimmt sich vor, gleich nach seiner Rückkehr nach Burgund ins Nordland zu Brynhild aufzubrechen. Doch Grímhild will den Krieger an ihren Hof binden und mit Gjukis Zustimmung reicht sie Sigurd einen Trank des Vergessens. In diesem Zustand erblickt er erstmals Gudún, und es ist um ihn geschehen.

Brynhild betrogen

Nachdem Sigurd Gudrún geheiratet und ihren Brüder Bluteide der Treue geschworen hat, sinnt die Zauberin Grímhild auf eine Frau für ihren Ältesten, Gunnar. Sie hat von Brynhild gehört und dass viele die Königin vergeblich zu Freien versucht haben. Jetzt wird ihr Lager von einer Waberlohe umgeben, die nur den rechtmäßigen Freier durchlassen soll. Und so macht sich Gunnar mit Sigurd und Högni auf, Brynhild zu gewinnen.

Gunnar und erst recht sein pferd erweisen sich als Feiglinge vor der wabernden Flammenwand. Deshalb appelliert er an Sigurds treue Hilfe. Dieser weiß einen vom Grímhilds Verwandlungszaubern und gibt sich die Gestalt Gunnar. In dieser durchdringt er die Waberlohe und bittet Brynhild um ihre Hand. Er beruft sich auf das Versprechen, dass derjenige sie zur Frau haben soll, der zu ihr gelangt. Sie teilen das Lager, getrennt nur durch Gramrs gierige Klinge. Danach führt der echte Gunnar sie heim nach Burgund und heiratet sie.

Brautkrieg

Als Brynhild, die neue Königin, und Gudrún, Sigurds Frau, am Rhein ihre Wäsche waschen, meint die Königin, das Wasser von Gudrúns Haaren sei nicht gut genug für sie. Sogleich zahlt es Gudrún ihr heim: Brynhilds trage Andwaris zauberischen Ring, aber an wessen Finger hänge denn wohl der Ring, den sie einst ihrem Freier gab? Nicht an dem von Gunnar, wohlgemerkt. Da erkennt Brynhold, dass man sie betrogen hat. Sie stellt erst Sigurd zur Rede, dann Gunnar, und fordert Vergeltung, um diese Schande abzuwaschen. Schließlich fordert sie Sigurds Blut.

Sigurds Tod

Gunnar ist, wie schon an der Waberlohe, zu schwach, um seine Frau zurechtzuweisen und fragt seinen Bruder Högni um Rat. Den verlangt es sowohl Ruhe in diesem unseligen Streit als auch nach Sigurds Drachengold. Und so beschließen die beiden, da sie ja dem Recken Blutsbrüderschaft geschworen haben, den Mordauftrag an jemanden zu vergeben, der dieses Handicap nicht hat. Es handelt sich um einen weiteren Sprössling Grímhilds und um ihren verschlagensten: Gotthorm.

Nachdem Gotthorm den Recken im Wald verspottet und verärgert hat, ersticht er ihn des Nachts in seiner Kammer. Doch mit seiner letzten Kraft wirft Sigurd sein Schwert Gramr, das den Mörder durchbohrt. Gudrún erwacht in einer Lache aus Blut und bricht in Wehklagen aus. Da ahnt Brynhild, was ihre neuen Verwandten angerichtet haben und verflucht sie. Indem sie sich in ihr Schwert stürzt, verlangt sie, auf einem großen Scheiterhaufen neben ihrem geliebten Recken Sigurd bestattet zu werden. So geschieht es. Zurück bleiben eine trauernde Witwe und zaghaft bangende Niflungen. Atli naht!

DAS NEUE GUDRUNLIED

Grímhilds Plan

Gudrún hat sich in eine Hütte zurückgezogen, wo sie das Gewebe der Sage gefertigt hat: von Andwaris Gold bis zu Wölsung, Signy, Sigmund, Siggeir und schließlich Sigurd. Da kommen Grímhild, die graue Königinmutter, Gunnar und Högni zu ihr: Sie solle Atli, der den Osten erobert hat, heiraten, um auf diese Weise Unheil von Burgund fernzuhalten. Als Gudrún sich weigert, zwingt ihre Mutter sie mit finsteren Drohungen.

Atlis List

Im siebten Jahr nach der Vermählung, als Gudrún kalten Herzens Atli bereits zwei Kinder geboren hat, siegt die Gier über Atlis Treueschwüre: er will das Drachengold, das am Rhein nützlich lagert, für sich. Haben die Niflungen schließlich nicht auch seinen Onkel gemeuchelt, und ist nicht Gjuki ein tattriger Greis?

Also schickt er Wingi, seinen Herold, nach Burgund mit einer heiter täuschenden Einladung zum Fest am Fluss. Sicher wollen die beiden Brüder doch sehen, wie gut es ihrer Schwester geht? Doch die listige Gudrún hat Högni einen Ring geschickt, der mit einem Wolfshaar umschlungen ist: eine ernste Warnung. Und als Grímhild die Runen der Einladung liest, so erscheinen sie ihr zweideutig und unheilvoll. Doch Wingi fordert den Mut der Niflungen heraus und der betrunkene Gunnar nimmt an.

Der Niflungen Not

Schon am Tor von Atlis Burg enthüllt Wingi den Verrat: Nicht Wonnen des Weins erwarten die Niflungenfürsten hier, sondern blanke Klingen. Sie hängen ihn als Ersten, dann erobern sie die Burg, die die Treppen vor Blut glitschig sind. Letzten Endes bittet Gudrún für ihren Gatten um Gnade, und so schicken sie ihn bloß fort – in Weibergewändern.

Atli kehrt zurück und berennt fünf Tage lang seine eigene Burg. Bis sein Berater ihm rät, sie in Brand zu stecken. Das Feuer endlich treibt die Niflungen heraus, bis schließlich die beiden Fürsten als letzte der Niflungen gefangengenommen werden. Bei den Verhandlungen kommt es zu erneutem Verrat und Betrug. Atli verspricht Gunnar die Freiheit im Austausch für das Gold. Doch es handle sich nur um seine Hälfte des Goldes, daher müsse Högni sterben …

Atli prüft ihn, indem er einem Leibeigenen, dem Schweinehirten Hjalli, das feige Herz herausschneiden und Gunnar vorsetzen lässt. Der erkennt den Betrug sofort – dies sei nicht das wackere Herz seines Bruders. Deshalb lässt Atli auch Högni das Herz herausschneiden und Gunnar servieren. Es ist das rechte Herz wohl, meint Gunnar, doch der Schatz, der liege schon längst am Grunde des Rheins. Also landet er in der Schlangengrube. Mit Gudrúns Harfe rühmt Gunnar die Taten seines Bruders, bis ihn eine alte Natter beißt. So enden die Niflungenfürsten auf dem Scheiterhaufen.

Gudrúns Rache und Ende

Atli könnte eigentlich triumphieren und feiert deshalb ein Fest. Gudrún kredenzt ihm einen edlen Trunk, den er sogleich hinunterstürzt. Sie offenbart ihm die furchtbare Wahrheit: Im Becher sei das Blut seiner zwei Kinder gewesen, der Becher sei ihr Schädel und um ihre Knochen raufen sich die Hunde. Da hebt ein Heulen und Wehklagen an, und Atli verliert die Besinnung. Später jagt sie dem Schlafenden ein Messer in die Brust.

Gudrún verlässt die Burg des Hunnenfürsten und wandelt elend durch fahle Wälder und Felderm, bis sie endlich ans öde Meer gelangt. Sie will sich hineinstürzen, doch das Meer weist sie zurück. Sie erklärt, welche „fünf schlimme Schmerzen des Schicksals“ sie beklagt und warum sie letzten Endes hier ihr Leben beenden müsse. Das Meer hat endlich ein Einsehen und nimmt sie auf. Denn keine Frau, die keine Walküre ist, gelangt nach Walhall zu Odins Recken. Und so gibt es für Gudrún kein Wiedersehen mit Sigurd, dem sonnenhell Strahlenden, dem ihre einzige Liebe galt.

Mein Eindruck

Demjenigen, der das eigentliche Nibelungenlied kennt und nicht dessen Jugendversionen, Opernfassungen und mehrfache Verfilmungen (z. B. von Fritz Lang), dem werden schon bald etliche Abweichungen neben all den Übereinstimmungen auffallen. So ist beispielsweise kein böser Hagen daran schuld, dass Sigurd / Siegfried hinterrücks im Wald erschlagen wird, sondern es ist offenbar ein Bastard der Königin Grímhild, der, nachdem er die Waldszene hat verstreichen lassen, den Helden in dessen Kammer angreift. Postwendend findet der Meuchler seine gerechte Strafe.

Müßiger Vergleich

Doch all das Vergleichen mit dem Nibelungenlied ist müßig, denn die erhaltene Handschrift stammt aus dem Spätmittelalter, die islandischen Sagen, auf die sich Tolkien stützte, stammen aber schon aus der Epoche um die Jahrtausendwende, noch bevor alle Stämme des Nordens christianisiert waren.

Deshalb kommen in Tolkiens Fassung, die sich auf die Lieder-Edda stützt, auch noch die ursprünglichen Göttergestalten sowie die komplette Mythologie vor, als da wären Walküren, Drachen, Zwerge, Gestaltwandler, Riesen und natürlich Seherinnen mit ihren Runen und Knochenorakeln. Mit Grímhild tritt sogar noch eine echte und ziemlich grimmige Zauberin auf. Solche kernigen Gestalten sucht man im zahmen Nibelungenlied vergebens. Dort muss man sich mit einem einzigen Zwerg und einem Drachen zufriedengeben.

Odins Spiel

Tolkien wollte ganz klar herausarbeiten, dass erstens Odin überall seine Hand im Spiel hatte, wenn es um Wendungen im Schicksal der Wölsungen ging, und zweitens, dass der Fluch des Goldes Andwaris von Anfang an mit diesem Schicksal verknüpft war. Später führte er Ähnliches mit den Silmaril-Edelsteinen aus, mit denen das Schicksal der Noldor-Fürsten unauflöslich verknüpft war, bis der letzte der Steine von Morgoths Haupt geraubt und der Welt entrückt wurde. Stets führt die Gier nach dem Gold zum Untergang von Liebe und Treue, und so auch zum Ende der Niflungen.

Zu gerne hätte Tolkien sicherlich das Schicksal Sigurds und Gudrúns zu einem Aufbäumen gegen den Fluch gestaltet und so Luthien und Berens Schicksal nachgeformt. (Die Namen von Luthien und Beren stehen auf dem Grabstein Tolkien und seiner Frau Edith.) Aber die isländische Vorlage lässt dies nicht zu. Unerbittlich wie eine antike griechische Tragödie muss sich der Fluch des Goldes und der falsch angewandten Treue seinen Weg bahnen, bis alle Wölsungen und Niflungen ausgelöscht sind.

Brynhild

Eine höchst interessante Figur ist in diesem Zusammenhang die Figur der Brynhild. Man muss sich mal vorstellen: Eine Königin und auserwählte Walküre Odins wird von ihrem Chef gezwungen, sich dem Weltenretter Sigurd anzubieten, als wäre sie eine gemeine Metze, die er am Wegesrand vernaschen könnte. Aber was tut man nicht alles für den Chef? Wenigstens kann Brynhild noch so viel Stolz durchsetzen, dass sie von Sigurd einen Königstitel fordert, um ihr ebenbürtig zu sein.

Wie finstere Ironie mutet es deshalb an, dass es der frischgebackene König Sigurd von Wölsungenland ist, der sie an einen anderen verkuppelt, nämlich an Gunnar Niflung von Burgund. Wenn also Sigurd, der von Odin Auserwählte, als Einziger in der Lage ist, die von Odin geschaffene Waberlohe um Brynhilds Lager zu durchdringen – ist das dann eine Selbstüberlistung des Obergottes? Oder hat er einfach mal nicht aufgepasst?

Wie auch immer, auch Brynhild ist in ihren Forderungen nach Rache nicht sonderlich konsequent – oderr ganz besonders fies. Erst verlangt sie das Blut des Recken, der sie betrog, und als sie es dann endlich bekommen hat, klagt sie die Ausführer ihres Willens des treubruchs und Verrats an. Schließlich bekommt sie auch noch ein Staatsbegräbnis neben jenem Mann, den sie dessen Frau ausgespannt hat – eine letzte Verhöhnung der ehelichen Treueide, die Gudrún und Sigurd einander schworen.

Gudrún

Wie der Herausgeber Christopher Tolkien in den diversen Einleitungen anmerkt, verwendete sein Vater sehr viel Sorgfalt auf Gudrúns Psychologie, Schicksal und Ende. Ihr Lied ist das mit Abstand anrührendste und bewegendste Stück im ganzen Buch, und am Schluss sollte man sich seiner Tränen nicht schämen. Immer wieder setzt Tolkien geschickt ein Leitmotiv ein: Sie war einst eine träumerische Maid ohne Sorgen, doch ihre Mutter tröstete ihren Schmerz nur mit einem Wolf – ein einschneidendes Bild, in dem der Wolf den Eroberer Atli meint, aber auch die vier anderen großen Schmerzen, mit denen das Schicksal Gudrún schlägt.

Die nordischen Ursprünge

Was die Fassung Tolkiens so wertvoll macht, sind nicht nur die ausgewählten isländischen Quellen, sondern auch die Gestaltung des Stoffes. Tolkien greift mit der Weissagung der Seherin („Völuspa“) bis auf die Ursprünge der Welt, der Götter und des Menschengeschlechtes selbst zurück. Das macht die Sage um Sigurd und Gudrún nicht zu einem individuellen, sondern zu einem exemplarischen Schicksal. Diese beiden Figuren verkörpern die neue Rasse der Menschen, und in ihrem Schicksal demonstrieren sie, wie fehlerbehaftet, den Launen Odins unterworfen und schwach der eigene Wille ist, seines Glückes Schmied zu sein. Diese Aussage findet sich auch im „Silmarillion“ wieder.

Auffallend ist jedoch, dass kein einziges Mal eine der Figuren mit dem Geschick, das die Götter über alle verhängt haben, hadert oder gar länger über das Wesen der Götter nachdenkt. Der Name Jesus oder Weißer Jesus fällt kein einziges Mal, und so bleibt dieses Universum ein künstliches, ein künstlerisches – in sich abgeschlossen, aus sich selbst heraus gerechtfertigt und somit eine unkritisierbare Botschaft. Kein Wunder, dass deshalb der Sänger oder Skalde an die Zuhörer, edle Damen und Herren appelliert, sich diese Sage zu Herzen zu nehmen.

Der Stabvers

Das zweite wichtige Merkmal, das Tolkien umsetze, ist natürlich der Stabreim – nicht irgendeiner, sondern das älteste Format desselben. Nach drei allitterierenden Lauten (wohlgemerkt: nicht Buchstaben!) auf den Vershebungen wie „wogende Wellen wüteten“ kommt stets als vierte Hebung eine Abweichung: „an den Strand“. Einem Aufvers folgt stets eine zweite Hälfte als Abvers. Und die ganze Einheit aus vier Hebungen kommt erst durch zwei Auf- und zwei Abverse zustande, als wären es vier Stützpfeiler. Jede Strophe besteht aus zwei solchen Vierer-Einheiten. Das bedeutet: Die Handlung kann sehr rasch voranschreiten und mitten in der Strophe den Schauplatz und den Sprecher wechseln. Da heißt es: aufpassen!

Um dem Leser ein wenig zu helfen, haben Tolkien und der Übersetzer bei jedem Dialog die jeweiligen Sprechernamen angegeben und einmal sogar eine Regieanweisung. Diese Verse sind dazu gedacht, LAUT gesprochen, ja, deklamiert zu werden. Deshalb spielen nicht Buchstaben, sondern Laute die entscheidende Rolle. Der Übersetzer erklärt und entschuldigt sein Verfahren ausführlich in seinem Vorwort.

ANHANG

A) Der Ursprung der Sage

Von Atli und Gundahari

Dass den Vorgängen um die Hunnen, Burgunder, Dänen und Gauten realhistorische Ereignisse zugrundeliegen, belegt der Anhang A „Zum Ursprung der Sage“. Bekanntlich zogen im 4. und 5. Jahrhundert die Gauten ebenso nach Süden wie die mit ihnen verwandten Burgunder. „gund“ bedeutet „Schlange“ im Altgotischen. Die Burgunder unter Gundahari (Gunther, Gunnar) siedelten, wie im Nibelungenlied, am Oberrhein, und in diesem Lied heißt ihre Hauptstadt Worms.

Als die realen Hunnen im frühen 5. Jahrhundert Westeuropa zu erobern begannen, überrannten sie im Jahr 437 auch Worms (siehe dazu auch Tilman Röhrigs Roman „Ein Sturm von Mitternacht“). Nach dem Ende dieses Reiches zogen die Überlebenden weiter nach Süden, wo sie im Tal von Rhone und Saone (Savoyen) ein neues Reich gründeten, das 1000 Jahre später als Herzogtum Burgund an Frankreich fiel.

Doch die Hunnen unter Attila / Atli mussten auch aufgehalten werden. Dies erfolgte in der römischen Provinz Gallia durch den Feldherrn Aetius und seine westgotische Koalition – auf den berühmten Katalaunischen Feldern nahe dem heutigen Troyes (451 n.Chr.). Das war wahrscheinlich die ruhmreichste Tat in den letzten Tagen Westroms. Allerdings wurden die Hunnen nicht vernichtet, sodass sie Oberitalien verwüsten konnten. Erst 453 starb Attila im Bett an Trunksucht und Nasenbluten, im Beisein einer germanischen (burgundischen?) Braut namens Ildiko.

Selbst Geoffrey Chaucer wusste 800 Jahre später in seinen „Canterbury Tales“ noch davon zu berichten und stützte sich dabei auf byzantinische und oberitalienische Autoren. Deshalb sind die Zusammenhänge zwischen historischen Burgundern (alias Niflungen) und den Hunnen ziemlich gesichert.

Von Sigurd und dem Gold

Ganz anders sieht es hingegen mit Sigurd aus. Die einzige vor-eddische Erwähnung scheint im altenglischen „Beowulf“ zu stehen, und zwar ist die Rede von einem Recken namens Sigemund, der einen Drachen erschlug und dessen Hort an sich nahm. Auch wie der dämonische Hagen (= Högni), der Siegfridhasser, und die Zwerge ins Spiel kommen, ist auf einer rein mythologischen Ebene begründbar. Der Verdacht, so der Herausgeber, liegt aber nahe, dass mit Hagen, einem Elbenkind und den Dunkelalben = Zwergen des Nordens dämonisch-heidnische Elemente eingeführt wurden, gegen die die hellen Asen des Nordens ebenso zu kämpfen hatten wie deren Günstling Sigurd, der Wölsung.

Verwirrend ist jedoch nach wie vor der Gebrauch der Bezeichnung „Niflungen = Nibelungen“. Während in der ersten Hälfte des „Nibelungenlieds“ die Nibelungen germanische Helfer Siegfrieds sind, so mutieren sie in der zweiten Hälfte zu den Burgundern. Der Herausgeber legt nahe, dass die Niflungen zumindest Bewohner dunkler, nebliger und somit unheimlicher Gegenden waren.

Mein Eindruck

All diese Ausführungen sind nur für denjenigen interessant, der sich mit den Ursprüngen der beiden Lieder, die Tolkien nach Edda-Vorlage schuf, auseinandersetzen möchte. Die Erläuterungen sind im Zusammenhang mit den ausführlichen Erklärungen zu den beiden Liedern zu verstehen, die als bekannt vorausgesetzt werden. Wer sich nur für die Story der beiden Lieder interessant, dürfte diese Ausführungen recht langatmig und nicht zielführend finden. Denn die Gelehrten sind sich in puncto Sigurd, Zwerge, Drachen und Gold sowie Brynhild in keinster Weise einig.

B) Die Weissagung der Seherin

Hierbei handelt es sich um eine völlig anders gestaltete Nachdichtung der Völuspa-Prophezeiung. Sie ist nicht im Stabreim verfasst, sondern in Couplets, also Paarreimen. Der Effekt ist höchste Lesbarkeit bei gleichermaßen unterhaltsamem und dramatischem Inhalt wie im „Uphaf“ (Auftakt) des Wölsungenliedes“.

C) Fragmente eines Heldengedichts über Attila auf Altenglisch

Zu Beginn seiner Lehrzeit in Oxford setzte sich Prof. Tolkien mit altenglischen Liedern auseinandern, sowohl mit dem „Beowulf“ als auch mit dem „Atlilied“. Letzteres bildet einen beachtlichen Teil des Gudrúnlieds. Der Herausgeber präsentiert zwei Stellen à 40 und 28 Verse, die im Original sowie in deutscher Übersetzung vorgelegt werden. Die Anmerkungen des Herausgebers belegen, dass hier sein Vater mit zahlreichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte und sich nicht immer für eine nachvollziehbare Lösung der Probleme entschied.

Bemerkenswert ist in diesen kurzen Textstellen bereits das Auftauchen von typisch tolkienschen Wörtern wie Mirkwood und Ent. Mit Mirkwood = Düsterwald, Nachtwald war in den alten Quellen der große Wald gemeint, der in Ostgermanien oder Westrussland die Siedlungsgebiete der Goten von dem der Hunnen trennte. Auch die Gnitaheide wird ausdrücklich in diese Gegend verlegt, und selbst vom Dnjepr ist die Rede, denn die Ostgoten siedelten bis in die ukrainische Steppe. Mit Ents sind eindeutig Riesen gemeint.

Die Anmerkungen

Jedes der zwei Lieder verfügt über einen umfangreichen Apparat von Anmerkungen. Ich habe diese Anmerkungen nicht im Einzelnen gelesen, sondern nur dort, wo es für das Verständnis unerlässlich war. Allein der Kommentar zum Wölsunglied umfasst rund 60 kleingedruckte Seiten, der zum kürzeren Gudrúnlied immerhin noch rund 25 Seiten. Diese Kommentare sind eindeutig in erster Linie für Literaturforscher interessant.

Die Übersetzung

Hans-Ulrich Möhring hat eine monumentale Leistung vollbracht. Wie man seinem Vorwort entnehmen kann, hat er für seine Fassung, die wie jede solche Übersetzung stets eine Sammlung von Problemlösungen ist, eine ganze Reihe maßgeblicher Vorgänger konsultiert. Sei dies nun zu den Burgunder, zum „Beiwulf“ oder natürlich zu den verschiedenen Eddas in ihren Fassungen. Die Quellenlage ist alles andere als einfach, und folglich kann auch die eine, einzig wahre Übersetzung stets nur ein Kompromiss sein.

Doch wer diese Hintergründe links liegen lässt, wird mit einer Fassung belohnt, die sich flüssig, verständlich, interessant, poetisch und anrührend lesen lässt. Nach einer Weile merkt man gar nicht mehr, dass man es mit streng geordneten Stabreimen zu tun hat, sondern erfreut sich an einer kraftvoll erzählten und übersichtlich aufgebauten Dichtung in zwei Teilen. Druckfehler sind kaum irgendwo zu finden, höchstens verstreut, so etwa auf Seite 536 („Drachten“ statt „Drachen“).

Unterm Strich

Es gibt für den Literaturkenner wie auch für den Einsteiger mehrere Wege, diese zwei Epen zu lesen. Wer schon das „Nibelungenlied“ im Original und Übersetzung kennt, also nicht als gekürzte Film-, Opern- oder Jugendbuchfassung, der hat einen gewaltigen Vorteil: Er kann die bekannten Zentralgestalten und ihre Beziehungen in direkten Zusammenhang mit der Darstellung in Tolkiens Version der alten Quellen setzen. Daraus ergeben sich reizvolle Einsichten, nicht nur was die göttliche Abkunft Sigurd anbetrifft, sondern auch was das Schicksal Gudrúns anbetrifft.

Gudrún ist die innerhalb dieses Vergleichs die interessanteste und anrührendste Figur, und mit ihr hat sich Tolkien große Mühe gegeben. Sie ist nicht die ränkeschmiedende Kriemhild des Nibelungenlieds, sondern reines Opfer, das die Schläge des Schicksals zu ertragen weiß, nachdem es die Liebe kennengelernt hat. Die Ränkeschmiedin ist vielmehr ihre Mutter, die Zauberin Grímhild, die reichlich unheimliche Züge annimmt – keine gütige Nährerin, sondern die graue Eminenz hinter dem Thron.

Aufgrund solcher Verschiebungen ergeben sich reizvolle Einblick und Spekulationen darüber, was sich wohl die Autoren des „Nibelungenlieds“ bei ihren Versionen gedacht haben mögen. Warum ist der nordische Hagen so dämonisch und finster dargestellt, warum der Hunnenkönig Atli bzw. Etzel so goldgierig? Der Verdacht, dass hier ein wenig nationalistisch und süddeutsche dargestellt wurde, drängt sich auf. Die rätselhafteste Figur ist wohl Brynhild, und zu ihr habe ich oben schon einiges gesagt.

Kein Action-Epos

Dies ist kein Action-Epos nach germanisch-nationalistischem Vorbild. Sigurd erschlägt zwar den Drachen, macht dabei aber kurzen Prozess. Viel wichtiger sind die Interaktionen mit seinen Helfern und Feinden, die aufgrund des Schatzes bereits Verrat üben. Der Fluch, der auf dem Gold liegt, führt denn auch Sigurds eigenen Untergang herbei wie auch den seiner untreuen Blutsbrüder, der Niflungen – und natürlich den Atlis.

Die Ausgabe

Die vorliegende Ausgabe des Klett-Cotta-Verlags ist sicherlich eine herausragende Leistung und verdient einen Ehrenplatz im Tolkien-Programm. Nicht nur ist die Übersetzung ausgezeichnet gelungen, sondern auch die Anmerkungen wurden sämtlich überprüft, belegt und mit Querverweisungen versehen. Die Zusatztexte in den Anhängen liefern weitere Einsichten zu Tolkiens Arbeitsweise und -leistung, sind aber neben den beiden zentralen Liedern nicht so wichtig. Ausnehmend gut gefällt mir das Titelbild, das Schnitzereien an altnordischen Tempeltüren und Fürstenhallen nachahmt.

Gebunden: 560 Seiten
Originaltitel: The Legend of Sigurd and Gudrún (2009)
Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring
ISBN-13: 978-3608937954

https://www.klett-cotta.de

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