Alexej K. Tolstoi / Marc Gruppe – Die Familie des Vampirs (Gruselkabinett 3)

Vampirsaat: die Epidemie der Gewalt

1788 in einem Dorf in Serbien: Ein Wintereinbruch hindert Serge d’Urfé an der Fortsetzung seiner Reise. Im Haus des alten Gortscha findet er Schutz vor den Wölfen und Gefallen an der schönen Zdenka. Der Hausherr selbst ist vor Tagen aufgebrochen, um den berüchtigten Vampir und Räuber Alibek zu töten.

Zuvor hatte er seiner Familie eingeschärft, ihn keinesfalls mehr einzulassen, wenn er nach einer festgelegten Frist komme, da er dann selbst zum Vampir geworden sei. Mit Ablauf der Frist begehrt Gortscha Einlass in sein Haus …

Der Autor

A. K. Tolstoi (1817-1875) wurde elf Jahre vor seinem bekannteren Namensvetter Leo Tolstoi (1828-1910), dem Autor von „Krieg und Frieden“ geboren. Er ist Angehöriger einer Schriftstellersippe, die u. a. den SF-Autor Alexej Tolstoi (1882-1945) hervorgebracht hat. Zufall oder Notwendigkeit? Er veröffentlichte eine Storysammlung mit dem Titel „Vampires: Stories of the Supernatural“, deren Übersetzung 1969 in den USA erschien. Ein weiterer Abkömmling ist der britische Fantasyautor Nikolai Tolstoi (geboren 1933), der u. a. einen Roman über Merlin veröffentlicht hat.

Die Sprecher / Die Inszenierung

Die Rollen und ihre Sprecher:

Erzähler: Friedrich Schoenfelder (dt. Stimme von Davin Niven, Vincent Price)
Serge d’Urfé: David Nathan (Johnny Depp, Leonardo DiCaprio)
Gortscha: Jürg Löw
Grigori: Peer Augustinski (Robin Williams)
Polina: Daniela Hoffmann (Julia Roberts, Calista „Ally McBeal“ Flockheart)
Zdenka: Arianne Borbach (Catherine Zeta-Jones, Diane Lane)
Pjotr: Jens Hajek
Mutter Oberin: Dagmar von Kurmin
Dorfbewohnerin: Regina Lemnitz (Kathy Bates, Diane Keaton, Whoopi Goldberg)
Isabelle: Manja Doering (Reese Witherspoon, Natalie Portman)
Fürstin: Dagmar von Kurmin
Gäste der Fürstin: Lothar Didjurgis, Heinz Ostermann

Marc Gruppe schrieb wie stets das Buch und gemeinsam mit Stephan Bosenius setzte er es um. Die Aufnahme fand im Studio AudioCue, Rotor Musikproduktion, Scenario Studio und bei Kazuya statt. Die Illustration stammt von Firuz Askin.

Handlung

Wien 1815. Der Wiener Kongress, der Europa nach den Napoleonischen Kriegen neu ordnete, ist zu Ende und die meisten Teilnehmer reisen wieder nach Hause. Nur ein kleines Häuflein Diplomaten trifft sich im Schloss der Fürstin von Schwarzenberg, um einander mit Geschichten zu unterhalten. Heute Abend ist die Reihe am Marquis Serge d’Urfé, der aus Paris stammt.

Seine Geschichte beginnt im vorrevolutionären Paris des Jahres 1788, wo er die schöne Isabelle de Gramont kennen und lieben lernt. Doch die Leiden der Liebe sind zwar unzähl-, aber doch vorhersehbar, und so bleibt es nicht aus, dass Serge sich als Spielball der Launen seiner Schönen sieht und beschließt, sich ihr zu entziehen. Er lässt sich von der Regierung für eine diplomatische Mission nach Serbien einteilen und gedenkt, am nächsten Tag abzureisen.

Da tritt zu seiner Überraschung Isabelle ein und macht ihm Vorwürfe, er wolle sie im Stich lassen. Sie hat von seiner Mission gehört und weiß, dass auf dem Balkan Gefahren auf ihn warten, von denen ihr Galan nichts ahnt. Serge ist überrascht, als sie ihm ihre Liebe eingesteht und ihn bittet, als Zeichen ihrer Zuneigung ein silbernes Kruzifix anzunehmen. Es soll ihn auf seinen gefahrvollen Wegen beschützen. Er akzeptiert gerne, nicht ahnend, dass es ihm schon bald zweimal das Leben retten wird.

Es ist bereits Winter, als er nach Warschau, Böhmen und Ungarn endlich Serbien erreicht. Am Abend bedrängen ihn zunehmend heulende, hungrige Wölfe, doch zum Glück findet er noch ein kleines Dorf neben einem Kloster, von dessen Bewohnern er Obdach und Schutz erbittet. Eine Alte weist ihn ab, gibt ihm aber den Tipp, er könne mal die Familie des alten Gortscha fragen. Als ihm dort die Tür geöffnet wird, glaubt er seinen Augen nicht zu trauen: Die junge Frau ist das Ebenbild Isabelles und ebenso schön und freundlich. Sie nennt sich Zdenka und bittet ihre Brüder Grigori und Pjotr, dem Fremden Obdach zu gewähren. Obwohl die Brüder aus irgendeinem Grund misstrauisch sind, lenken sie ein. Grigori ist mit Polina verheiratet und hat mit ihr einen kleinen Sohn namens Sascha.

Aber wo ist ihr Vater? Zdenka erzählt Serge, ihr Vater sei auf der Verfolgung des Räubers Alibeg, der nicht nur ein Räuber, sondern auch noch etwas anderes sei. Seine Familie solle genau zehn Tage auf ihn warten, aber keinesfalls länger, und sollte er doch danach zurückkehren, so solle sie ihn nicht mehr als einen der Ihren betrachten. Serge ist verblüfft. Was hat es damit auf sich? Zdenka erklärt, dass Gortscha in diesem Fall dann wahrscheinlich ein Wurdelak sei, ein untoter Wiedergänger.

Ach so, ein Vampir, kapiert Serge und ist höchst amüsiert. Doch Zdenka bleibt todernst. Ein Wurdelak unterscheide sich von den Vampiren insofern, als er nur das Blut seiner Liebsten trinken wolle. Durch den Biss würden sie selbst zu Wurdelaks und ebenfalls ihre Angehörigen beißen wollen. Nur ein Pfahl aus Hagedornholz, durch das Herz getrieben, könne einen Wurdelak töten und die Epidemie stoppen.

Genau zu dem Zeitpunkt, als die Frist endet, schlägt die Kirchenglocke des Klosters zum zwölften Mal: Mitternacht. Da pocht es an der Tür des kleinen Hauses. Grigori bewaffnet sich, Zdenka betet, Pjotr öffnet schließlich die Tür: Es ist der alte Gortscha. Mensch oder Wurdelak? Niemand bittet ihn herein, und er wird wütend, befielt, den Hund zu töten, der ihn nicht mehr erkennt. Zudem sei er verwundet und bedürfe der Pflege. Schließlich geben die Söhne nach und gehorchen, der kleine Sascha bittet Gortscha herein.

Er berichtet, er habe Alibeg getötet, und die Erleichterung ist offensichtlich, doch eine gewisse Beklemmung bleibt. Als der Alte den Kopf des Räubers präsentiert, löst er Entsetzen aus. Dann bringt ihn Zdenka auf sein Zimmer. Doch die anderen beschließen, Wache zu halten. Grigori ist besonders misstrauisch und berichtet, er habe für alle Fälle einen Hagedornpfahl bereitgelegt. Später hört Serge jedoch die beiden Frauen vor seiner Zimmertür sprechen: Polina hat den Pfahl versteckt, weil sie glaubt, Gortscha sei ein Mensch und man dürfe seine Angehörigen nicht mit Pfählen traktieren. Das soll sich als verhängnisvoll erweisen.

In der Nacht glaubt Serge im Traum Gortscha an sein Bett treten zu sehen, doch Serge greift instinktiv zu seinem Kruzifix und vertreibt den ungebetenen Gast, der vor geweihten Gegenständen zurückzuckt. Das Wesen begibt sich ins nächste Zimmer. Dort liegt der kleine Sascha …

Mein Eindruck

Wider Erwarten handelt es sich hier nicht um eine gewöhnliche Vampirgeschichte, sondern um eine politische Parabel. Ganz am Schluss, als Serge wieder nach Vollendung seiner Mission aus Serbien und jenem Dorf nach Paris zurückkehrt, hat sich während des Jahres 1789 die Revolution ereignet, und die liebe Isabelle wurde, als Angehörige des verhassten Adels, in den Kerker der Bastille geworfen. Allenthalben muss Serge erschüttert feststellen, dass seine früheren Freunde ebenso in Lebensgefahr schweben wie Isabelle, und er sieht die Schöne erst wieder, als ihr Kopf unter der Guillotine liegt …

Ihm kommt es vor, als hätten sich die Menschen in Paris allesamt in Wurdelaks verwandelt, die auf ihre nächsten Verwandten losgehen und gerade diejenigen töten, die ihnen am liebsten sind. So hat es ihm Zdenka erklärt und genau so hat er es während seines zweiten Besuches in dem Dorf Kisolova erlebt. Das Dorf ist von allen lebenden Menschen verlassen; die letzten Überlebenden kauern sich im Kloster der Nonnen furchtsam zusammen. Es ist die gleiche Atmosphäre der Angst, die er nun in Paris vorfindet. Und er kann keinem einzigen Menschen mehr vertrauen.

Eine schleichende Furcht macht sich in ihm breit, doch sie rührt nicht nur von den Revolutionären und ihren Guillotinen her. Er denkt an Zdenka, der er bei seinem zweiten Besuch seine Liebe gestand. Sie sah blass, aber lebendig aus, als sie ihn im alten Gortscha-Haus besuchte, das er von allen verlassen vorfand. Doch statt der zurückhaltenden, auf Ruf und Moral bedachten jungen Frau seines ersten Besuchs in jener verhängnisvollen Nacht sieht er nun eine hemmungslose und zudringliche Frau vor sich, die ihn unbedingt küssen will. Sie ist selbst zu einem Wurdelak-Vampir geworden und will ihn zu einem der Ihren machen. So hat sich also die Vampirepidemie ausgebreitet, denkt er.

Serge ist der Vampir-Zdenka zwar entkommen, als er nun in Wien von ihr erzählt, doch er denkt an ihre letzten Worte, dass durch das Liebesband, das er zu ihr geknüpft hat, sie für immer an ihn gebunden sei und ihn eines Tages besuchen werde. Das liefert eine hübsche Schlusspointe dieser Geschichte. Doch das Liebesband ist symbolisch und bezeichnet auf der sozialen Ebene den natürlichen Zusammenhalt zwischen den Menschen. Nun ist es pervertiert worden, ein Krankheitskeim, der sich als Epidemie ausbreitet und immer weitere Opfer findet.

Doch wie mit allen Parabeln gibt es auch hier ein kleines Problem. Die Symbole der Romantik, dieses Mal sind es Vampire, können nur bis einem gewissen Punkt reale soziale Phänomene erklären. So muss sich der Hörer selbst zusammenreimen, worin der auf der politisch-sozialen Ebene die Entsprechung zum „Vampirvirus“ bestehen könnte. Darüber lässt sich trefflich spekulieren, und Erklärungen sind wohlfeil.

Ist es die Zügellosigkeit, die bei Missachtung der Gesetze losbricht? Oder ist es die Gewalt an sich, die sogar vor den Gesetzeshütern nicht halt macht und ihre eigene illegitime Herrschaft errichtet? Betrachtet man die Französische Revolution ohne ihre Wurzeln, aber mit Blick auf ihre Folgen, so könnte man zu diesem Eindruck gelangen. In jedem Fall lehnt der Autor mit seiner Parabel – und da befindet er sich in guter Gesellschaft – die Gewaltherrschaft der Revolutionäre ab. Auch Goethe hat sich ja mehrfach mit der Französischen Revolution befasst (in „Novelle“ und „Die natürliche Tochter“) und lehnte sie stets ab.

Der Symbolgehalt tut der Story aber keinen Abbruch, im Gegenteil. Sie funktioniert sowohl als Liebesdrama wie auch als Wiedergänger- und Vampirstory. Es gibt einige Szenen, die sehr bewegend sind, so etwa die Rückkehr des untoten Sascha oder die Rückkehr Serges in das ausgestorbene Dorf Kisolova. Sehr sinnlich wird es dann bei seiner Begegnung mit dem buchstäbliche zum Vamp gewordenen Wurdelak Zdenka, die seiner Geliebten Isabelle so unglaublich ähnlich sieht. Sie ist ihr genaues Negativbild – das Ende aller romantischen Blütenträume.

Die Sprecher / Die Inszenierung

Ganz besonders gefiel mir diesmal wieder die weibliche Besetzung. Arianne Borbach klingt ebenso sexy wie ihre synchroniserende Stimme, wenn Catherine Zeta-Jones auftritt. Dies gilt besonders für jene Szene, da Zdenka dem armen Serge auf die Pelle rückt, um ihm den Kuss des Vampirs zu verpassen.

Mindestens ebenso bemerkenswert ist jedoch Daniela Hoffmann in der Rolle der Polina. Polina ist ein reines Gefühlswesen, das nur in den Kategorien von Zu- und Abneigung empfindet. Polina hat ihre erste Krise, als sie Sascha verliert. Sie heult und weint und lacht in einem hysterischen Anfall, der einem Schauder über den Rücken jagt. Noch eine Nummer heftiger ist ihre zweite Krise, als der untote Sascha zurückkehrt und zu seiner Mami will … Hoffmann liefert hier eine wirklich eindrucksvolle Vorstellung.

Geräusche und Musik

Die Musik ist wie fast jede andere Filmmusik nach konventionellem Muster gestaltet, und niemand, der auf alte Dracula-Filme steht, wird sich daran stören. Die Musik lenkt die Emotionen auf subtile, aber wirkungsvolle Weise. Anders als bei „Das Amulett der Mumie“ drängt sich die Musik nicht in den Vordergrund, sondern bleibt stets dezent im Hintergrund. Ab und zu hören wir ein verträumtes Glockenspiel und eine Menge von Percussion-Instrumenten.

Einmal wird ein Filter eingesetzt, nämlich in der Szene, als Serge die beiden Frauen in Gortschas Haus belauscht. Solche Filter sind selten im Einsatz zu finden und in späteren Gruselkabinett-Episoden fehlen sie ganz. Der Grund ist einleuchtend: Sie dämpfen das gesprochene Wort derart, dass der Zuhörer den Text nur noch mit Mühe versteht.

Unterm Strich

„Die Familie des Vampirs“ ist eine dramatische Bearbeitung eines alten Textes aus dem 19. Jahrhundert. Die Vampirstory an sich ist vollständig zufrieden stellend, indem sie sowohl spannende als auch sinnliche und dramatische Szenen zur Genüge liefert. Doch die symbolische Bedeutungsebene wird erst nach Serges Rückkehr nach Paris deutlich, wo die Revolutionäre gleichsam wie Wurdelaks wüten und sich Gewalt und Furcht wie eine Epidemie ausbreiten. Was sich in der kleinen Familie Gortschas im hintersten Serbien zuträgt, das wiederholt sich in einem riesigen Maßstab nun auf der Weltbühne, so will es Serge erscheinen. Und damit wird auch die politische Aussage der Geschichte deutlich (siehe oben).

Die Sprecher, Geräuschedesigner und der Komponist haben hier hervorragende Arbeit geleistet. Keiner der Teile will sich besonders hervortun, sondern befindet sich im Gleichgewicht mit den anderen Elementen des Werks. Hervorzuheben sind die Leistungen von Daniela Hoffmann und Arianne Borbach, die Polina und Zdenka sprechen. Auch Jürg Löw als der furchteinflößende Gortscha bleibt in Erinnerung. Und ganz am Schluss gibt es noch eine hübsche Pointe, die einen überraschten Schauder erzeugt.

Dieses Hörspiel wurde laut Verlag von der |Dracula Society| mit dem |Nyctalus|-Preis 2005 ausgezeichnet, zudem mit dem Kritiker-Hörspiel-Award in Gold und Publikums-Hörspiel-Award in Silber als „Beste Serienfolge 2004“.

69 Minuten auf 1 CD
ISBN-13: 9783785732427

http://www.titania-medien.de

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

_Das |Gruselkabinett| auf |Buchwurm.info|:_

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