Uschmann, Oliver – Überleben auf Festivals

Jeden Sommer kommt es in ganz Europa zu einer wohl einzigartigen Rudelbildung. Tausende Fans der härteren musikalischen Gangart treffen sich bei einer Vielzahl stilistisch genau definierter Festivals zum Party-Wochenende und genießen zu leider immer weiter steigenden Preisen Musik, Drinks und das alljährlich-einzigartige Treiben. Doch was genau veranlasst den Liebhaber über seine musikalischen Interessen hinaus, Teil eines solchen Events zu sein? Warum treibt er sich über drei und mehrere Tage dazu, auf verdreckten Campingplätzen, in beengten Zelten und bei bedenklicher Nahrung seinem Dasein zu fristen, wo der Solo-Gig des Lieblingskünstlers doch weitaus entspannter zu genießen ist? Gründe für den Festivalbesuch gibt es schließlich zahlreiche. Doch wer sind diese Personen, die man auf einem Festival antrifft? Und welche eigenwilligen Rituale bestimmen ihr Leben während der heimischen Abstinenz?

Diesen Fragen ist Oliver Uschmann in seinem neuen Buch „Überleben auf Festivals“ recht intensiv nachgegangen. Und selbst wenn seine skurrile Darstellung über Typen, Personen, Persönlichkeiten und Gegebenheiten satirischer Natur ist, so wird man sich doch vor allem als Verfechter des sommerlichen Treibens sehr schnell in irgendeiner Form wiederfinden – oder gleich in vielfältiger Ausprägung.

Uschmann unterteilt sein Buch in mehrere Kapitel, deren einzelne Episoden nicht nur allzu typische Charakteristika jener Events beschreiben, sondern auch weit hergeholte Thesen über das Seelenleben der jeweiligen Besucherspezies aufstellen. Besonders experimentierfreudig gibt sich der Autor bei der Darstellung der Gattung der Besucher, die vom Barbaren über den Kümmerer bis hin zum modernen Twitterer reicht. Beschrieben werden typische Verhaltensmuster, die musikalisch-äquivalenten Vorlieben, prägende Erlebnisse aus der Vergangenheit und ihre ganzheitliche Konsequenz für den Aufenthalt.

Uschmann beweist dabei Fachkenntnis und Mut, lehnt sich manchmal bewusst sehr weit aus dem Fenster, übertreibt gerade bei der Verhaltensanalyse maßlos, verschafft sich und seinen Umschreibungen dabei aber wachsende Sympathiewerte, weil hier gelegentlich auch Schmerzgrenzen und Tabus überschritten werden, ohne den unteren Sektor der Gürtellinie zu streifen. Wenn hier beispielsweise eigenwillige, aber völlig normale Beziehungsgeflechte zwischen den einzelnen Besuchertypen analysiert werden, ist man erstaunt, dass selbst die völlig überspitzten Ausführungen einen gewissen Wahrheitswert haben, die „Überleben auf Festivals“ nicht bloß als Comedy-Werk wichtig machen. Fakten und Phantasie vermischen sich zu einer urkomischen Einheit, die gerade in den Zusammenfassungen über Menschen wie den Retro-Rocker und den Fachmann einen richtig tollen Unterhaltungswert aufbieten. Und dabei ist hier erst der Anfang gemacht …

In den weiteren Kapiteln werden einem die unterschiedlichen Musikergattungen nahegebracht, man erfährt von Riten und Bräuchen am Zeltplatz und bekommt auch einen ziemlich analytischen Einblick in die Wahl der Bauten und Siedlungen, in denen sich der Festivalbesucher während seines Wochenendausflugs einquartiert. Darüber hinaus widmet sich ein sehr spezieller Teilabschnitt den teils ekelerregenden kulinarischen Genüssen(?), denen man auf dem Gelände begegnet und die zum größten Teil wohl jedweder Hygieneprüfung zum Opfer fallen würden.

Interessant wird es schließlich, wenn sich die einzelnen Inhalte vermischen und beispielsweise bestimmte Rituale mit den dazugehörigen Charakteren in Verbindung gebracht werden. Oder wenn sich offenbart, warum diverse Speisen lediglich von einer bestimmten Gattung des Festivalgastes konsumiert werden. Hier greift Uschmann dann zum äußersten Extrem, würzt seine Darstellungen mit sehr pikantem, trockenem Humor und erreicht am Ende noch weitaus mehr Lacher als der umschriebene Menschentyp im Bierrausch vor der Hauptbühne – und das will ja schon mal einiges bedeuten!

Insofern wäre es eigentlich schon fatal, dieses Buch abzulehnen, weil Festivals und die Menschen, die sich dort Sommer für Sommer aufhalten, ordentlich durch den Kakao gezogen werden. Denn gerade diejenigen, die hier am ehesten betroffen sind, werden staunen, wie perfekt sie in manchen Abschnitten satirisch getroffen werden, welche Eigenbrödlereien sie selber ausleben, ohne sie als solche zu erkennen, und wie – plump gesagt – bescheuert man sich doch gerne schon einmal verhält, wenn man sein Haus für ein Wochenende verlässt und sein Leben in dieser Zeit in die Dienste des Rock ’n‘ Roll stellt. Von daher gehen für diesen ironischen, humorvollen und absolut gelungenen Beitrag zu einem Teil der zeitgemäßen Kultur beide Daumen absolut senkrecht nach oben!

|Paperback, Flexobroschur, 368 Seiten
ISBN: 978-3-453-26808-1|
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