Varley, John – Voraussichten

_Ungebetene Gäste: Luftpiraten und Schwarze Löcher_

Dieser erste Band mit John Varleys SF-Erzählungen aus dem Sammelband „Persistence of Vision“ enthält folgende Geschichten:

1) Die Story vom Schwarzen Loch, das Leben und Liebe zweier Techniker bedroht, die fernab unserer Sonne arbeiten.

2) Die Story von den Luftpiraten, die aus der Zukunft kommen und Passagiere rauben – während des Fluges.

3) Die Story von jenen Phänomenen, die blinde und taube Kinder erleben. (HUGO und NEBULA Awards 1980)

_Der Autor_

John Varley, geboren 1947 in Austin, Texas, ist dem deutschen Leser vor allem durch seine Storybände (bei Goldmann) und seine „Gäa“-Trilogie (bei Heyne) ein Begriff. Eine seiner besten Storys, „Press ENTER“, wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. 1992 erschien der vorliegende Roman unter dem Titel „Steel Beach“ und landete in der Folge auf den vordersten Plätzen, als es um die Vergabe der Science Fiction-Preise ging.

Mittlerweile konnte Varley seine „Roter Donner“-Trilogie bei Heyne veröffentlichen. Wo Varley in den 70er-Jahren führend wirkte, wirkt seine an Heinlein angelehnte Ideenwelt heute altbacken. Er lebt mit seiner Familie in Eugene, Oregon.

_Die Erzählungen _

_1) Liebesfahrt zum Schwarzen Loch (The Black Hole Passes, 1975)_

Jordan Moore ist schwer selbstmordgefährdet, und das liegt daran, dass er Trimonisha liebt. Beide schweben in ihrer jeweiligen Raumstation draußen in der Kometenzone jenseits der Pluto-Bahn und können sich nicht in den Arm nehmen, um einander zu sein. Vielmehr besuchen sie einander nur per 3D-Hologramm, das sie per Laserstrahl senden. Sie haben Spiele miteinander entwickelt, aber Spiele sind nur ein sehr begrenzter Ersatz fürs Nahesein, insbesondere dann, wenn man auf die Antwort jedes Mal 20 Sekunden warten muss.

Ihr Job ist es, ein Alien-Signal auszuwerten, das permanent aus dem Sternbild Ophiuchus gesendet wird. Die Botschaften der Fremden, die Jordan mit enzyklopädischem Wissen auswertet, hat bereits mehrere wertvolle Technologien hervorgebracht, die die menschliche Kultur verändert haben, so etwa Nullfelder, Kraftfeld-Anzüge und das Beherrschen von Schwarzen Löchern. Inzwischen werden Schwarze Löcher aufgrund ihrer hohen Energie gejagt. Täglich liefert Jordan Berichte an seine Firma auf dem Pluto, per Chip und Rakete.

Eines Tages erscheinen die Botschaften der Fremden nur noch lückenhaft. Und als auch noch Trimonishas 3D-Holo bloß noch flach wie ein Pappkamerad empfangen wird, wissen beide, dass etwas nicht stimmt. Tri findet es heraus: Ein Schwarzes Loch muss ganz in der Nähe sein! Man kann es natürlich nicht sehen, sonst wärs ja nicht schwarz. Kaum gesagt, zerreißt die Annäherung der Singularität auch schon Jordans Station und reißt ihn hinaus ins All.

Vorgewarnt hat er zwar seinen Raumanzug angelegt, aber er treibt mutterseelenallein in den Trümmern seiner Station und klammert sich an eine der Postraketen. Hat er jetzt endlich eine Möglichkeit, sich umzubringen? Doch als Trishs Notruf endlich zu ihm durchdringt, lebt er noch. Und gemeinsam fassen sie einen verzweifelten Plan …

|Mein Eindruck|

Wie in fast allen seinen Erzählungen in der Sammlung „Persistence of Vision“ geht es auch hier um die Liebe und wie man sie erfüllen kann. Jordan und Trimonisha sind Millionen Kilometer voneinander entfernt, doch der Chaosfaktor in Gestalt eines vagabundierenden Schwarzen Loches weckt ihren Erfindungsgeist – äh, zumindest den der Frau, denn der Kerl will sich ja permanent wg. Hoffnungslosigkeit umbringen.

Am Schluss dürfen wir uns wie stets über ein Happy-End freuen. Sehr hübsch sind übrigens die erotischen Spiele, deren sich die beiden befleißigen, um sich die Zeit zu vertreiben. Am Schluss sind diese alternativen Egos jedoch nicht mehr nötig und werden entsorgt. Auf diese Weise wird ie Story trotz aller Dramatik noch humorvoll und entspannt.

Für den SF-Kenner ist interessant, dass das hier geschilderte Szenario auch in Varleys erstem Roman „The Ophiuchi Hotline“ verwendet wird. Dort tauchen aber unsere zwei „Helden der Liebe“ nicht mehr auf, soweit ich weiß.

_2) Luftpiraten (Air Raid, 1977)_

Die Erde des Jahres 2190 ist durch Seuchen schier unbewohnbar geworden. Es gibt nahe Alpha Centauri eine kolonisierbare Welt – doch woher die Kolonisten nehmen? Durch den Einsatz einer Zeitmaschine, dem Portal, holt man sich die notwendigen gesunden Menschen aus der Vergangenheit. Aber nicht beliebig, sondern so, dass es keiner merkt. Denn schließlich darf es keine Paradoxa geben. Also bleiben als einzige Möglichkeit Unglücke, bei denen niemand überlebt hat. Beispielsweise Flugzeugabstürze.

Die Ich-Erzählerin hat Para-Lepra und ihre Tochter bereits an ein Gehirnsuche verloren. Deshalb hat sie sich den Fängertrupps angeschlossen, die Menschen aus abstürzenden Flugzeugen holen und ins Jahr 2190 bringen, von wo sie entweder weiter nach Centauri fliegen können oder – an der tödlichen Luft verrecken.

Dieser Einsatz führt unsere Heldin zurück ins Jahr 1979. Sie ersetzt zuerst die Stewardess Mary Sondergard und schleust dann als Vorhut während des Fluges die anderen Stewardess-Ersatzfrauen an Bord. Mithilfe von Laserpistolen gelingt es ihnen, die Passagiere nacheinander zu betäuben und durchs Portal zu schicken. Doch angesichts einer „Herde“ von über 120 Passagieren wird die Zeit knapp, die in Ausgangs- und Zielzeit unterschiedlich schnell verläuft.

Schließlich haben sie und Christabel alle durchgeschleust, aber das Portal ist weg! Werden sie zusammen mit dem abstürzenden Flugzeug umkommen? Sie hat bereits mit dem Leben abgeschlossen, als …

|Mein Eindruck|

Von dieser bekannten Erzählung verkaufte Varley die Filmrechte, schrieb das Drehbuch und die Romanfassung, die er ins 4. Jahrtausend verlegte. Der Film erschien 1989 unter dem Titel „Millenium“ (Regie: Michael Anderson) und wurde ein ziemlicher Langweiler, mit Kris Kristofferson und Cheryl Ladd (als Louise Baltimore). Der Roman wurde 1985 bei Bastei-Lübbe veröffentlicht.

Der Anfang der dialog- und actionlastigen Handlung wirft den Leser gleich mitten rein ins Geschehen. Er hat dann die Aufgabe, sich aus den erklärungslos hingeworfenen Andeutungen einen Reim auf die Action zu machen, so als hätte man die Lösung für ein Verbrechen zu finden.

Aber erstaunlicherweise ergibt die rasante Geschichte durchaus einen Sinn, wenn auch einen schaurigen. Die Menschheit hat sich durch Umweltverschmutzung, Verstrahlung und Verseuchung sozusagen selbst den Garaus gemacht. Lepra und Hirnseuchen lassen Kinder und Erwachsene gleichermaßen degenerieren. Bezeichnenderweise sind die Ersatzleute für die entführten Passagiere „Mongos“, also Mongoloide. Diese abfällige Bezeichnung für Behinderte ist entweder ein zynischer Zug des Autors oder aber die realistische Bezeichnung des Zukunftspersonals für geistig Behinderte.

Dass die Ich-Erzählerin eine Frau ist, wird nie gesagt. Sie wird auch an keiner Stelle mit einem Namen versehen (nur im Film). Dass sie eine Frau sein muss, ergibt sich nur aus dem Umstand, dass sie eine Frau, nämlich Mary Sondergard, schauspielern soll. Die kaltschnäuzige Ausdrucksweise dieser Schauspielerin erinnert an gewisse Frauenfiguren bei Heinlein, etwa in „Freitag“ sowie in Varleys Heinlein-Hommage „Das Stahlparadies“.

_3) Die Trägheit des Auges (The Persistence of Vision, 1978)_

Ende des 20. Jahrhunderts herrscht in den USA mal wieder Wirtschaftskrise, zumal der Raktor von Omaha in die Luft geflogen ist und eine verstrahlte Zone erzeugt hat, den China-Syndrom-Streifen. Unser Glückssucher, der sich von Chicago gen Kalifornien aufgemacht hat, passiert die Flüchtlingslager von Kansas City, die nun als „Geisterstädte“ tituliert werden. In der Gegend von Taos, New Mexico, lernt er zahlreiche experimentelle Kommunen kennen, wo man leicht eine kostenlose Mahlzeit bekommen kann. Von den militanten Frauenkommunen hält er sich klugerweise fern.

Auf dem Weg nach Westen stößt er mitten im Nirgendwo auf eine Mauer. So etwas hat er im Westen höchst selten gesehen, so dass er neugierig wird. Ein Navaho-Cowboy erzählt ihm, hier würden taube und blinde Kinder leben. Eisenbahnschienen führen um das ummauerte Anwesen herum, so dass er ihnen einfach zum Eingang folgen kann. Dieser ist offen und unbewacht, was er ebenfalls bemerkenswert findet. Gleich darauf erspäht er mehrere Wachhunde.

Um ein Haar hätte ihn die kleine Grubenbahn überfahren, die von einem stummen Fahrer gesteuert wird. Dieser entschuldigt sich überschwänglich und vergewissert sich, dass dem Besucher nichts passiert ist. Dieser versichert ihm, dass dem so ist. Der Fahrer schickt ihn zu einem Haus, in dem Licht brennt. Der Besucher bemerkt, wie schnell sich die blinden und tauben Bewohner der Kuppelgebäude bewegen. Sie tun dies aber nur auf Gehwegen, von denen jeder seine eigene Oberflächenbeschaffenheit aufweist. Unser Freund nimmt sich vor, niemals einen solchen Gehweg zu blockieren.

In dem erleuchteten Gebäude gibt es etwas zu essen. Er muss sich jedoch von vielen Bewohnern abtasten lassen. Sie sind alle freundlich zu ihm. Ein etwa 17-jähriges Mädchen, das sich weigert, wie die anderen Kleidung zu tragen, erweist sich als sprech- und sehfähig, was ihm erst einmal einen gelinden Schock versetzt. Sie nennt sich Rosa und wird zu seiner Führerin und engsten Vertrauten, schließlich auch zu seiner Geliebten.

Im Laufe der fünf Monate seines Aufenthaltes erlernt er die internationale Fingergebärdensprache, aber er merkt, dass die anderen noch zwei weitere Sprachen benutzen. Das eine ist die Kurzsprache, die mit Kürzeln arbeitet, die nur hier anerkannt sind. Die andere, viel schwieriger zu erlernende ist die Einfühlungssprache, die sich jedoch von Tag zu Tag ändert.

Als er sie schließlich entdeckt, ahnt er, dass er sie nicht wird völlig erlernen können. Denn dazu müsste er ja selbst blind und taub sein. Und dass die Sprache des Tatens auch den gesamten Körper umfasst, versteht sich von selbst. Deshalb gehört auch die körperliche Liebe dazu.

Eines Tages erfährt er, welche Stellung er in der Kommune einnimmt. Er stellt aus Gedankenlosigkeit einen gefüllten Wassereimer auf einem der Gehwege ab und widmet sich seiner Aufgabe. Als ein Schmerzensschrei ertönt, dreht er sich um, nur um eine weinende und klagende Frau am Boden liegen zu sehen. Aus ihrem Schienbein, das sie sich am Eimer gestoßen hat, quillt bereits das Blut. Es ist die Frau, die ihn als Erste in der Kommune begrüßt hat. Nun tut es ihm doppelt leid, und er ist untröstlich. Doch Rosa informiert ihn, dass er sich einem Gericht der ganzen Kommune von 116 Mitgliedern stellen muss …

|Mein Eindruck|

Die vielfach ausgezeichnete Erzählung stellt dar, wie sich allein aus der Kommunikation eine utopische Gemeinschaft entwickeln lässt. Dass natürlich auch ökonomische, legale und soziale Randbedingungen erfüllt sein müssen, versteht sich von selbst, aber dass Außenseiter ihre eigene Art von Überlebensstrategie – in einer von Rezession und Gewalt gezeichneten Welt – entwickeln, schürt die Hoffnung, dass nicht alles am Menschen schlecht und zum Untergang verurteilt ist.

Der Besucher, ein 47-jähriger Bürohengst aus Chicago, findet in der Gemeinschaft der Taubblinden nicht nur sein Menschsein wieder, sondern auch eine Perspektive, wie er in der Außenwelt weiterleben kann. Er arbeitet als Schriftsteller, und dessen Job ist die Kommunikation.

Neben den drei Ebenen der Sprache, die die Taubblinden praktizieren, gibt es noch eine Ebene der Verbundenheit, die er nur durch die Zeichen +++ ausdrücken kann. Auf dieser Ebene findet mehr als Empathie statt, weniger als Telepathie. Aber es ist eine Ebene, erzählt ihm Rosa bei seiner Rückkehr, die es den Taubblinden (zu denen sie und die anderen Kinder nicht zählen) erlaubt hat, zu „verschwinden“. Wohin sind sie gegangen, will er wissen. Niemand wisse es, denn sie verschwanden beim +++en.

Es handelt sich also eindeutig um eine SF-Geschichte, nicht etwa um eine Taubblindenstudie, die in der Gegenwart angesiedelt ist. Für ihre Zeit um 1977/78 war die Geschichte wegweisend. Nicht nur wegen des Gruppensex und die Telepathie, die an das „Groken“ in Heinleins Roman „Fremder in einem fremden Land“ erinnert. Auch Homosexualität wird behandelt – und in der Geschichte praktiziert.

Wichtiger als diese Tabuthemen ist jedoch der durchdachte ökologische Entwurf für die Kommune und die Anklage gegen die Vernachlässigung bzw. Fehlbehandlung der Taubblinden – nicht nur in den USA. Der Verweis auf Helen Keller (1880-1968) und ihre Lehrerin Ann Sullivan verhilft dem Leser zu einem Einstieg in die Thematik, etwa in der Wikipedia.

_Die Übersetzung _

Auf Seite 39 faselt der Übersetzer Tony Westermayr etwas von „Primärzahlen“. Gibt es also auch Sekundärzahlen? Blödsinn! Gemeint sind Primzahlen.

_Unterm Strich_

Algis Budrys, einer der Redakteure oder Herausgeber des MFSF, erklärt in seiner „Einführung“ nichts, was den Autor selbst betrifft, außer dass dieser Englisch und Physik studiert habe und in Oregon lebe. Diese Zurückhaltung ist sehr löblich, denn alles, was man über den Autor zu wissen braucht, steht in seinen Geschichten.

Diese jedoch setzt Budrys in den zeitgenössischen und entwicklungshistorischen Zusammenhang der Science-Fiction. Kurz gesagt: Mit Varley, Bryant und neuen AutorInnen begann um 1975 ein neues Kapitel in der SF. Dass dem so, erkennen wir an den Tabubrüchen in Varleys Stories. Sie führen den Leser weit über das hinaus, was Heinlein, Campbell, Asimov und Clarke je geschrieben haben.

Ökologie, Kommunikationstheorie, Schwarze Löcher so klein wie ein Auto – all das sind neue Ideen, die bestimmend in der neuen SF auftauchen. Dennoch wird bei Lektüre des vom deutschen Verlag in drei Bände aufgeteilten Originalbuchs deutlich, dass wir auf eine Tour durchs Sonnensystem mitgenommen werden. Alles bitte einsteigen!

Die überragende Erzählung dieses Bandes ist natürlich „Trägheit des Auges“. Hier findet nicht ein Fitzelchen Technologie und Wissenschaft, wie John Campbell und Co. sie als Allheilmittel verehrten. Im Gegenteil: Der Atomreaktor hat sich als Fluch erwiesen. Klingt bekannt? Dann klingen auch die Ökomethoden der Taubblinden bekannt. Wichtiger ist aber die Kommunikation: In Gebärdensprache ist Lügen unmöglich! Das dürfte Politiker in Angst und Schrecken versetzen.

Die zweite Story wurde verfilmt, was angesichts ihrer rasanten Action sehr verständlich erscheint. Auch ihre Zukunftsvision ist äußerst düster. Ganz anders dagegen die erste Story über die zwei Techniker, die einem vagabundierenden Schwarzen Loch begegnen. Statt wie bisher getrennt und frustriert zu sein, führt es sie zusammen, statt sie zu vernichten. Fast alle Varley-Geschichten haben solche Happy-Endings. Das machte sie so erfolgreich.

|Taschenbuch: 127 Seiten
Originaltitel: The Persistence of Vision, Teil 1 (1978)
Aus dem US-Englischen von Tony Westermayr und Rose Aichele
ISBN-13: ISBN-13: 978-3442233816|
[www.randomhouse.de/goldmann]http://www.randomhouse.de/goldmann

_John Varley bei |Buchwurm.info|:_
[„Der Satellit“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2392
[„Die Cinderella-Maschine“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3669
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[„Noch mehr Voraussichten“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7454

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