Was ist eigentlich ein Symbol? Schwierige Frage. Wahrscheinlich könnte man ein ganzes Zwei-Zimmer-Appartement mit Büchern zu diesem Thema füllen. Das ginge jedoch für eine Comic-Rezension zu weit. Nehmen wir für den Augenblick einfach an, dass ein Symbol ein Zeichen mit einer Bedeutung ist. Die Bedeutung und das Zeichen müssen einer bestimmten, nicht zu kleinen Gruppe von Menschen bekannt sein, damit von einem Symbol gesprochen werden kann. Außerdem darf ein Symbol nicht zweideutig sein. Jedem Zeichen kommt somit nur eine Bedeutung zu, nicht mehr und nicht weniger.
Die Graphic Novel „Die Löwen von Bagdad“ trägt bereits im Titel zwei Symbole, nämlich den Löwen und Bagdad. Erinnerungen an Disney’s „König der Löwen“ werden wach, nicht ohne Grund. Mit dem Löwen verbindet man im Allgemeinen den König der Tiere. Im Disney-Film wurde dieses Symbol aufgegriffen und neu bearbeitet, es knüpft jedoch an ältere Vorbilder an. In der Fabel ist der Löwe der Stolze, der Ehrenhafte und der Kühne, ein Vorbild und eine Leitfigur. Den Löwen als literarische Figur denken wir uns generell als etwas Majestätisches. Das zweite Symbol ist Bagdad. Gemeint ist nicht die wirkliche Stadt, sondern vielmehr das, was das Wort Bagdad in den Köpfen der Leser bedeutet. Die wirkliche Stadt kommt in diesem Comic natürlich nicht vor, das ist gar nicht möglich, sondern bloß ihre literarische Abbildung, eine Interpretation, wenn man so will. Ob Bagdad schon ein Symbol ist, bleibt im Gegensatz zum Löwen ungewiss. Sicher ist, dass viele Leser beim Namen dieser Stadt an den Irak und an Saddam Hussein, an Öl und Panzer, an Wüste und an Moscheen denken werden. Und vielleicht auch an den Golfkrieg. Sollte jemand andere Assoziationen hegen, wird er schon bei flüchtigem Durchblättern in die richtige Richtung gestoßen.
Die Hauptfiguren der Geschichte sind die vier Löwen Zill, Noor, Safa und Ali. Sie leben im Zoo von Bagdad, als amerikanische Flugzeuge die Stadt angreifen. Es ist das Jahr 2003, der jüngste Golfkrieg ist in vollem Gange. Prophetisch schreit ein Vogel: „Der Himmel stürzt ein! Der Himmel stürzt ein!“ Was nach „Asterix“ klingt, ist hier ernst gemeint. Kurz darauf bersten die Wände des Geheges und die Tiere kommen frei. Für die vier Löwen beginnt ein zielloser Fußmarsch durch die zerstörte Stadt.
Zurück zu den Symbolen. Comic-Autor Brian K. Vaughan weiß, was Symbole bedeuten und wie sie funktionieren. Einen wichtigen Hinweis darauf liefert er mit den Worten der Riesenschildkröte, die den Löwen auf ihrer Reise begegnet: „Alles hat einen Namen. Damit macht man klar, dass einem irgendwelcher Kram gehört.“ Und: „Es sind nur Symbole. Menschen sagen nie, was sie meinen.“ Um es kurz zu machen: Symbole sind ein wichtiges Instrument der Macht. Sie dienen dazu, Macht darzustellen und Menschen zu lenken. Wer das nicht glaubt, sollte sich einmal Gedanken darüber machen, warum zum Beispiel den Astronauten von Apollo 11 das Aufstellen der US-Flagge auf dem Mond so verdammt wichtig war.
Symbole, Macht – in „Die Löwen von Bagdad“ geht es zweifelsohne um Politik. Es soll keine kurzweilige Tiergeschichte sein, sondern ein Kommentar zur US-Politik im Nahen Osten, vermittelt durch Tiere. Comic-Kenner dürften das erwartet haben, denn Brian K. Vaughans wichtigste Serien „Ex Machina“ und „Y – The Last Man“ besitzen schließlich auch eine elementare politische Dimension.
Wie sieht nun der politische Kommentar aus, den Vaughan in „Die Löwen von Bagdad“ versteckt? Man kann versuchen, das an den beiden Löwinnen Safa und Noor greifbar zu machen. Safa ist die alte Löwin, einäugig, gezeichnet von der Außenwelt. Sie zieht das Gefängnis des Zoos der Alternative in Freiheit vor. Man könnte sagen, sie symbolisiert jenen Teil der irakischen Bevölkerung, der sich mit der Diktatur arrangiert hatte und keine Veränderung wollte. Noor ist Safas Antagonistin. Sie will die Freiheit und plant schon vor dem schicksalhaften Luftangriff, irgendwie aus dem Zoo zu entkommen. Sie könnte ein Symbol für den Teil der Iraker sein, die sich wehren und die Diktatur abschaffen wollten. Freiheit ist also das Stichwort. Zum Symbol der Freiheit wird der Horizont, den die Löwen im Gehege wegen der Mauern nicht sehen können. Der Junglöwe Ali weiß nicht einmal, was ein Horizont ist, weil er in Gefangenschaft geboren wurde.
Als die Zoo-Mauern dann unerwartet von den US-Fliegern eingerissen werden, steht Noor der neu gewonnenen Freiheit skeptisch gegenüber. „Freiheit kann einem nicht geschenkt werden, man muss sie verdienen.“ Angewendet auf die US-Politik im Irak könnte man Vaughans Kommentar in „Die Löwen von Bagdad“ so verstehen: Die irakische Bevölkerung hätte sich besser selbst von der Diktatur Saddam Husseins befreien sollen als amerikanische Hilfe aufgedrückt zu bekommen. Die Löwen wurden schließlich nicht gefragt, ob amerikanische Bomben ihr Gehege einreißen sollen. Die Folgen sind Rat- und Ziellosigkeit und das seltsame Gefühl, dass irgendetwas nicht richtig ist. Am Ende erblicken die Löwen den Horizont, aber die Gefühle dabei bleiben zwiespältig.
Natürlich schreibt Vaughan nicht für ein irakisches, sondern für ein amerikanisches Publikum. Er versucht zu vermitteln, wie das Eingreifen der USA im Irak wahrgenommen wird, und zu erklären, warum sich nicht der Großteil der Iraker ausgelassen über die Befreiung durch die Amerikaner freut. „Die Löwen von Bagdad“ ist eine Arbeit für mehr Verständnis und eine Darstellung der Ambivalenz politischer Entscheidungen. Vaughan ist vorsichtig, versucht Pathos möglichst zu vermeiden und bringt den Irakern in Gestalt der Löwen sehr viel Respekt entgegen. Ob man seine Ansichten teilt, bleibt natürlich Sache des persönlichen Standpunktes. Raffiniert gemacht bleibt der Comic „Die Löwen von Bagdad“ allemal.
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