Ralph E. Vaughan – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine

Holmes kehrt zurück: Morlocks unter London

Im London des Jahres 1893 verschwinden Menschen. Die Nächte verbreiten Angst und Schrecken, niemand fühlt sich mehr sicher. Man erzählt sich in den Straßen von Geistern, welche die Menschen entführen – in die Tiefe unter selbigen Straßen. Und Scotland Yard streitet alles als Unfug ab.

Als Sherlock Holmes durch H. G. Wells einen zurückgekehrten Zeitreisenden aufspürt, vermutet er einen Zusammenhang mit den Morden und Entführungen, und damit ist er der grausamen Wahrheit bereits sehr nahe: Es sind die Morlocks aus der Zukunft, die den Nabel der zivilisierten Welt terrorisieren. Holmes stellt sich ihnen entgegen. Aber nicht alleine … (erweiterte Verlagsinfo)

Der Autor

Der US-Autor Ralph E. Vaughan gilt laut Verlag als Spezialist für orignelle und skurrile Themen. Seine Spannweite reicht vom „Steampunk“ bis zur Heroic Fantasy (Conan usw.), stets mit dem gewissen eigenen Flair.

Handlung

Eines Abend anno 1893 kehrt der Zeitreisende aus dem Jahr 802701 zurück in sein Heim, wo Mrs. Watchett, seine Haushälterin, angesichts seines abgerissenen und zerschrammten Aussehens fast in Ohnmacht fällt. Umso interessierter ist Maddocs Abendgesellschaft aus dem General, dem Journalisten Mr. Wells und einem Psychologen. Wie gerne wäre der Zeitreisende wieder zurück bei den Eloi gewesen, doch der Gedanke an die Morlocks lässt ihn schaudern. Nach einer kräftigen Stärkung hebt er an, von seinen Erlebnissen zu erzählen, und beginnt zu lügen, was das Zeug hält.

Ein Kneipenabend

William Dunning ist unzufrieden mit seinem Leben. Sein älterer Bruder Reginald ist zum Schiffsmagnaten aufgestiegen, während ihm lediglich bessere, wenn auch einträgliche Handlangerarbeiten übrigbleiben. Weil es ihn in die Ferne zieht, kehrt er gerne bei Seeleuten im Südviertel ein. Im „Neptune“ hört er, dass überall in London Leute verschwinden. Ganz besonders im armen East End sollen die weißen Geister hausen, die Menschen verschwinden lassen. Kaum hat er die Seemannskneipe verlassen und ist auf dem Weg zum nächsten U-Bahnhof, als er heimliche Schritte rings um sich hört. Er stellt sich der drohenden Gefahr, doch gegen die weißen Geister hat er selbst mit seinem Degen keine Chance …

Sherlock Holmes ist zurückgekehrt! Dr. John Henry Watson ist vor Freude zu Tränen gerührt. Und soeben hat Holmes, anch drei jahren seit seinem Verschwinden an den Reichenbachfällen, einen Handlanger Prof. Moriartys dingfest machen können. Colonel Moran wollte Holmes doch tatsächlich von einem unbewohnten Haus gegenüber Baker Street Nr. 221B erschießen! Kaum hat Holmes den Übeltäter Inspektor Lestrade übergeben, stärken sich Holmes und Watson an den guten Dingen, die ihnen die treue Mrs. Hudson kredenzt. Es ist wie in alten Zeiten.

Der Auftrag

Bis Sir Reginald Dunning aufkreuzt. Der Bruder des verschwundenen William Dunning ist von Scotland Yard abgewiesen worden, und auch ein Privatdetektiv konnte Williams Spur nur bis zur Seemannskneipe „Zum Neptun“ verfolgen. Selbst wenn ein etwas renitenter Inspektor Kent ihm versprochen hat, William zu suchen, so verspricht sich Sir Dunning doch mehr Erfolg, wenn er den bislang totgeglaubten Meisterdetektiv engagiert. Der lässt sich nicht lange bitten, denn das massenhafte Verschwinden von Personen und das Auftreten von sogenannten Geistern beunruhigen ihn.

In der Seemannskneipe „Zum Neptun“ kreuzen sich die Wege von Holmes und Inspektor Kent just in dem Augenblick, als Holmes einen weiteren Sucher gestellt zu haben glaubt. Dieser Mann, ganz in Schwarz gekleidet und gehetzt wirkend, nimmt sofort Reißaus, als sich Kent als Polizist zu erkennen gibt. Na prächtig, gratuliert Holmes, gerade haben sie ihren vielleicht wichtigsten Zeugen verloren. Doch einer seiner Baker Street Irregulars steckt ihm, dass dieser mysteriöse Schwarze Mann Maddoc heißen könnte – und dass das gesamte East End vor Angst wie erstarrt ist. Vor ihm oder den Geistern, das ist die Frage.

Die Maschine des Teufels

Maddoc war an der technischen Uni Londons eingetragen, aber nach einem Streit mit dem Mathematiker Charles Hinton sagte er seiner Alma Mater Adieu und verschwand. Hinton gibt ihnen die Adresse eines Mannes, der Maddoc zuletzt kontaktiert hat, ein gewisser Herbert George Wells. Wells wiederum erzählt ihnen von Moesen Maddoc alles, was er weiß – und von der Zeitmaschine, mit der dieser ins Jahr 802701 gereist und wieder zurückgekehrt sei. Hat Maddoc jedenfalls erzählt.

Doch warum ist dann Maddoc, der Schwarze Mann, so verzweifelt auf der Suche nach Opfern der Geister, fragen sich Holmes und Kent, als sie ihm Zug nach Richmond reisen, um Maddoc auf den Zahn zu fühlen. Als Maddoc endlich zur Rede stellen, erweisen sich ihre Annahmen als nicht ganz zutreffend, denn die Situation ist bereits viel schlimmer, als sie denken …

Mein Eindruck

Wie schon in Wells‘ naiver erster Erzählung „The Chronic Argonauts“ von 1888 und erst recht in seinem Roman von 1895 dient die Zeitreise in erster Linie dazu, eine spekulative Sicht auf die Zukunft der Menschheit (in diesem Fall also der westlichen, technisch-wissenschaftlichen Zivilisation) zu werfen. Wells extrapoliert gemäß Darwins Evolutionslehre die Entwicklung des Menschen zu zwei konkurrierenden Rassen, den Eloi und den Morlocks. Die sanften Eloi, die einst Adelige waren, dienen den im Untergrund lebenden Morlocks, der einstigen Arbeiterklasse, als Vieh und Nahrung.

Alles gelogen! Das stellt sich nun im Zuge von Holmes‘ Ermittlung heraus, die bemerkenswerterweise ohne Dr. Watson erfolgt. Maddoc, der zeitreisende „Wissenschaftler“ (oder verrückte Erfinder, je nach Sichtweise), ist nicht nur einmal, sondern mehrfach ins Jahr 802701 gereist, um das, was er dort vorfand, zu korrigieren. Ein fataler Fehler, wie er inzwischen weiß: Nicht nur mischte er sich die Kriege zwischen durchaus kämpferischen Eloi und wütenden Morlocks ein, nein: Die Morlocks kopierten seine Zeitmaschine und reisten mit ihr in sein Herkunftsjahr 1893.

Schreckensvision

Zusammen mit Holmes und Kent erlebt Maddoc eine Schreckensvision vom Jahr 1954: Binnen 60 Jahren haben es die Morlocks geschafft, die Menschen zu besiegen, eine eigene Maschinenzivilisation zu errichten, die die Umwelt zugrunderichtet. Die überlebenden bzw. gezüchteten Menschen treiben sie in Schlachthäuser … Wir wissen ja, dass die Morlocks einen leckeren Fleischhappen zu schätzen wissen.

Darf diese Zukunft zustandekommen? Niemals, beschließen Maddoc, Holmes und Kent. Besonders Inspektor Charles Kent ist tief entschlossen, diese Blasphemie niemals zu erlauben, denn für ihn als gläubigen Christen und Ablehner von Darwin ist die Zukunft ein Beweis für den Sieg der blindwütigen, amoralischen Evolution – und das Scheitern des gütigen Schöpfergottes.

Morlockjagd

Der Mittelteil des Romans, der sich an Maddocs Enthüllungen anschließt, steuert zielstrebig auf den konzertierten Angriff von Holmes‘ Trio, Scotland Yard und sogar der Detektei Pinkerton (Armee, nein danke!) zu und sieht unsere Helden den guten Kampf gegen die Kannibalen aus der Zukunft ausfechten – denn diese sind die mysteriösen „Geister“ und Entführer, kein Zweifel. Aber werden sie auch William Dunning noch lebend vorfinden?

Bei diesem Angriff in dem Slum Spitalfields schaudert es den braven Inspektor Kent angesichts der erschreckenden Elends, das er in abbruchreifen Behausungen vorfindet, wo Säuglingen an zerlumpten und halbnackten Müttern ihren Hunger stillen. Er hätte nie gedacht, dass sein guter Gott so ein Elend zulassen würde, doch Holmes belehrt ihn eines Besseren. Und so erscheint es nur folgerichtig, dass auch die Morlocks eine Göttin haben: nicht die geflügelte Sphinx, die sie verehren, sondern die Nest-Mutter, die sie hervorbringt, nährt und lenkt.

Die Alienkönigin

Es ist die Nestmutter, die als einzige dem Massaker entkommt. Um die Schreckensvision des Jahres 1954 zu verhindern, müssen Maddoc, Holmes und Kent ihr folgen, und sei es ans Ende der Zeit … Mich erinnerte dies stark an Lt. Ellen Ripleys Zweikampf mit der Alienkönigin, die ihre Brut verteidigt. Tatsächlich läuft der Kampf auf die Frage hinaus, wer im Wettstreit der Evolution um die Erde die Oberhand behält. Verachtungsvoll schleudert die Morlock-Königin Holmes im Endkampf entgegen, die Menschen seien viel zu schwach geworden, denn sie verließen sich inzwischen viel zu sehr auf Hilfsmittel und Waffen, um noch mit Zähnen und Klauen kämpfen zu können. Sie seien reif für den Untergang – oder das Schlachthaus der Morlocks.

Dieser Schluss ist wahrhaft darwinistisch. Und obendrein höchst dramatisch, denn wenn Holmes den Zweikampf mit der Morlockmutter verliert, wird sie ins Jahr 1893/94 zurückkehren – und alles beginnt von vorne, jedoch ohne einen gewissen Kämpfer.

Die Übersetzung

Die beiden Übersetzer mussten zahlreiche Fakten aus der Zeit um 1894 nachschlagen, doch das ist ihnen mit Bravour gelungen. Alle Details erscheinen glaubwürdig. Nicht so jedoch stilistische Wendungen wie „sein Gesicht verzerrte sich zu einer wütenden Maske“ statt einer „Grimasse“ und in einem Satz auf Seite 167: „dunklere Phasen der Vergangenheit, in denen die heilige grüne Insel [Britannien] noch völlig UNBESCHOLTEN von der Präsenz der Menschen war.“ „Unbescholten“ kommt von „schelten“ und hat etwas mit der Reputation eines Menschen zu tun, lässt sich aber schwerlich (außer im Scherz) auf Natur und Tiere anwenden. Folglich sollte es besser neutral „unbefleckt“ heißen.

Auf S. 101 findet sich der einzige Druckfehler des Textes. Statt eines Kommas sollte ein Punkt stehen oder die Anrede „Sie“ kleingeschrieben werden, wenn es da heißt: „(die Leute) unternehmen nichts dagegen, Sie sorgen nur dafür, dass ihre Fenster fest geschlossen bleiben …“

Unterm Strich

Dieser Roman ist trotz seiner SF-mäßigen Thematik einer der Höhepunkte in der SHERLOCK-HOLMES-Reihe des |BLITZ|-Verlags. Ähnlich wie K. W. Jeters Roman „Die Nacht der Morlocks“ (1979, dt. 2010) führt der Autor die Ansätze, die Wells 1895 lieferte, folgerichtig fort. Auch bei Jeter findet eine Morlock-Invasion statt, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Aber in beiden Romanen spielt die Zeitmaschine als Gerät des Teufels eine verhängnisvolle Rolle: Sie baut eine Brücke aus der Zukunft in die Vergangenheit.

Beide Romane sind actionbetont, doch wo Jeter eher verspielt wirkt, konzentriert sich Vaughan strikt auf die Logik der Ermittlung und entwickelt eine Stringenz im Ablauf der Ereignisse, die mich beeindruckt hat. Wie leicht wäre es doch, am Zeitablauf herumzupfuschen, bis alle seine „Richtigkeit“ hat. Doch das erweist sich als naiver Wunschtraum, denn die Zeitreise hat ihre eigene Logik. Sie ist unerbittlich. Und Holmes ist so klug, ihr bis zum Ende zu gehorchen. Dass Maddoc und Inspektor Kent weniger klug sind, wird ihnen fast zum Verhängnis.

Das einzige Detail, das mir Kopfzerbrechen bereitete, ist die Jahreszahl. Bei Jeter kehrt der zeitreisende Maddoc im Jahr 1892 zurück, bei Vaughan ein Jahr später, wie wir gleich auf Seite zwei erfahren. Dann jedoch verlagert sich die Haupthandlung ins nächste Jahr 1894, bevor Wells‘ Roman 1895 erscheint. Sicherlich kann man für diese Diskrepanzen jede Menge Erklärungen finden. Ich hätte sie nur gerne im Text oder in einem Nachwort erklärt gefunden.

Ich habe jedenfalls den Roman an nur zwei Nachmittagen gelesen, denn ich fand ihn sehr unterhaltsam und wendungsreich. Der Autor beeindruckte mich durch detaillierte Ortskenntnisse vom London des Jahres 1894. Die anschaulichen Schilderungen der sozialen Verhältnisse stammen wahrscheinlich aus Henry Mayhews Werk „London Labour and the London Poor“.

Witzig fand ich, dass sogar mehrere Erfinder genannt werden, darunter auch Ingenieure aus meiner Geburtsstadt Stuttgart (S. 110): Sie haben eine Einschienenhängebahn erfunden, die von Elektromagneten angetrieben wird – genau wie die Hängebahn in Wuppertal – oder ähnlich wie der Transrapid. Schade, dass aus diesen frühen Anfängen lange nichts geworden ist. Wer weiß, ob die Umwelt nicht schon frühzeitig davon profitiert hätte.

Fazit: Ein Volltreffer.

Taschenbuch: 205 Seiten
Originaltitel: Sherlock Holmes and the Coils of Time, 2005
Aus dem US-Englischen von Hans Gerwien und Andreas Schiffmann
ISBN-13: 978-3898403238

http://www.BLITZ-Verlag.de

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