Venables, Stephen – Everest. Die Geschichte seiner Erkundung

Ein halbes Jahrhundert ist seit der Erstbesteigung des Mount Everest am 29. Mai 1953 verstrichen. Die ehrwürdige Royal Geographical Society zu London nahm dies 2003 zum Anlass, ihr berühmtes Bildarchiv zu öffnen. Mehr als 20.000 oft noch niemals publizierter Fotos werden hier aufbewahrt, von denen ca. 400 Eingang in dieses Buch fanden, um die Geschichte der von der Gesellschaft geförderten Everest-Expeditionen zwischen 1921 und 1953 zu illustrieren.

„Vorwort“ (Sir Edmund Hillary), S. 8-10: Der Mann, der 1953 den Mount Everest mit Tenzing Norgay als Erster erklommen hat, leitet mit einer kurzen Erinnerung an dieses Ereignis das Buch ein. Eine „Grußbotschaft des Dalai Lama“ (S. 11) erinnert daran, dass Tibet nicht nur der Standort des höchsten Gipfels der Erde, sondern auch die Heimat eines Volkes ist, das seit fünf Jahrzehnten systematisch von den chinesischen Kommunisten unterdrückt wird. Der Dalai Lama merkt weiterhin an, dass die Menschen im Himalaja die Berge als Wohnsitz der Götter achten und nicht als alpinistische Herausforderung betrachten.

„Die Fotografien“ (Joanna Wright), S. 12-18: Die Kuratorin für Fotografie der Royal Geographical Society erläutert das Besondere dieses Buchprojekts: Seit jeher fordert die Gesellschaft von den Expeditionen, die sie unterstützt, Berichte, Karten und Bilder. Über die Jahrzehnte – die RGS existiert seit 1830 – hat sich vor allem seit der Erfindung der Fotografie ein bemerkenswerter Quellenbestand angesammelt, der unschätzbaren wissenschaftlichen Wert gewonnen hat, weil er – so wie die in diesem Band gezeigten Fotos aus Tibet und Nepal – Welten fixiert, die längst versunken sind. Gleichzeitig fügt es sich, dass immer wieder begnadete Fotografen in die Wildnis gezogen sind, wo ihnen mit den schwerfälligen Apparaten ihrer Zeit erstaunliche Aufnahmen gelangen.

„Der Höchste Berg der Erde“, S. 19-38: Den Mount Everest hat es schon vor seiner „Entdeckung“ durch Reisende und Bergsteiger gegeben. John Keay fasst die lange, leider nur bruchstückhaft überlieferte „Vorgeschichte“ des Monumentalgipfels zusammen und beschreibt, wie dieser allmählich ins Visier der englischen Kolonialmacht, der Forschung und schließlich der Bergsteiger geriet. Im Kapitel „Chomolungma: Wohnsitz der Götter“ (S. 39-70) versucht Ed Douglas zu erklären, was die Gipfel des Himalaja der einheimischen Bevölkerung bedeuten. Er liefert eine behutsam vereinfachte Einführung in die buddhistische Glaubenslehre bzw. Götterwelt, von der prominente Mitglieder auf besagten Bergspitzen thronen und von ihren Gläubigen nicht gestört werden möchten.

„Der lange Aufstieg 1921-53“ (Stephen Venables), S. 71-198: Drei Jahrzehnte dauerte der Sturm auf den Gipfel des Everest, an dem natürlich nicht nur Briten teilnahmen. Der Verfasser beschäftigt sich mit jeder Expedition, wobei er sich verständlicherweise auf die verhängnisvollen Versuche der 1920er Jahre, den Mythos George Mallory sowie den in Etappen errungenen Erfolg nach dem II. Weltkrieg konzentriert.

„Die Sherpa: Tiger im Schnee“, S. 199-218: Ohne sie läuft nichts im Himalaja – die Sherpas mauserten sich vom reinen Gepäckschleppern für weiße „Sahibs“ zu gleichberechtigten Bergkameraden, von denen einer sogar zu den Erstbesteigern des Everest gehört. Tashi Tenzing, Enkel des legendären Norgay Tenzing, und seine Ehefrau Judy erzählen die Geschichte der zähen Bergbewohner, die eine seltsame Gunst des Schicksals vor einem Dasein als ausgebeutetes Drittweltvolk bewahrte.

„Die ewige Herausforderung“ (Stephen Venables im Gespräch mit Reinhold Messner), S. 219-243: Selbstverständlich endet die Geschichte des Everest-Alpinismus’ nicht mit der Erstbesteigung des Gipfels. In den Jahrzehnten nach 1953 suchten und fanden zahlreiche Bergsteiger weitere Herausforderungen am höchsten Berg der Erde. Sie erschlossen neue Routen, erstürmten den Gipfel im Alleingang, im Winter, blind, mit Holzbein, ohne künstliche Sauerstoffzufuhr, fuhren auf Skiern oder auf dem Snowboard ab, flogen mit dem Drachengleiter zu Tal – dem Erfindungsreichtum (sowie dem Schwachsinn) waren und sind keine Grenzen gesetzt. Gleichzeitig verkam der Everest zum Protzberg für Amateur-Abenteurer, die sich heute für viel Geld auf den Gipfel hieven lassen und daheim ordentlich angeben können. An den Hängen türmt sich der Müll, die Sherpas entfremden sich der eigenen Kultur. Andererseits bietet der moderne Massentourismus auch die Möglichkeit, eine Infrastruktur für die sonst in Armut gefangene einheimische Bevölkerung zu schaffen, welche die Tradition und die Welt des 21. Jahrhunderts harmonisch verbindet.

Eine Liste der „Mount-Everest-Expeditionsteilnehmer 1921-53“ (Sue Thompson und Mike Westmacott), S. 244-248, bietet kurze Biografien derselben, welche klarstellen, dass sich das Leben dieser Männer nicht auf das Besteigen möglichst hoher Berge beschränkt. Auf Namen beschränkt bleibt eine Liste der „Besteigungen seit 1953“, S. 249-251. Sie belegt den zunehmenden Sturm auf den Everest-Gipfel. Anmerkungen und weiterführende Literatur schließen auf S. 252 das Buch ab.

Bücher über den Mount Everest oder den Himalaja gibt es auch auf dem deutschen Buchmarkt viele; wieso also noch eines publizieren bzw. an dieser Stelle rezensieren? „Everest. Die Geschichte seiner Erkundung“ präsentiert in der Tat kaum neue Fakten, sondern fasst Bekanntes noch einmal zusammen. Dies geschieht freilich in einer Form, die vor allem den Laien mit der Landschaft, ihren Menschen und den seltsamen Fremden, die auf Leben & Tod möglichst hohe Felsen erkriechen, vertraut machen kann: lesbar, informativ, kompakt.

Doch das eigentliche Pfund, mit dem diese Jubiläumspublikation wuchern kann, sind die Abbildungen. Bemerkenswerte Schätze kommen aus dem RGS-Archiv ans Tageslicht. Da sind nie gesehene frühe Aufnahmen des Everest; der Fotoapparat dokumentiert, wie die „Sahibs“ dem lange nicht zugänglichen Objekt ihrer begehrlichen Aufmerksamkeit allmählich immer näher rücken.

Dann gibt es da Aufnahmen von Expeditionen, die ulkig gewandete Männer mit gewickelten Beinen und in schweren Mänteln zeigen, die mit aus heutiger Sicht völlig unzureichenden Mitteln Unglaubliches leisten, per Baumstamm klaffende Gletscherspalten überbrücken, von Eisstürmen gebeutelt lotrechte Steinwände ersteigen und in winzigen Zelten in einer unwirtlichen Mondlandschaft ausharren. (Auffälliges Lieblingsmotiv aller Everestreisenden: gewaltige Bergpanoramen, darin suchspielartig & ameisengleich Menschen.) Dabei sind die berühmten letzten Bilder von George Mallory und Andrew Irvine, die 1924 bei dem Versuch, den Gipfel unbedingt zu erreichen, spurlos verschwanden, ohne dass jemals klar wurde, ob es ihnen gelungen ist, bevor sie starben. (Mallorys Leiche wurde 1999 am Berg gefunden; das Rätsel bleibt bestehen.)

Nebeneinander gestellt verraten die Fotografien von Everestmannschaften viel über die Entwicklung des Himalaja-Bergsteigens vor und nach dem II. Weltkrieg. Kleidung, Ausrüstung, Verpflegung – alles ändert sich, während die einheimischen Sherpas aus dem Hintergrund vom Lastenträger zum gleichberechtigten Kameraden in den Vordergrund rücken. Am Tag des Triumphes, dem 29. Mai 1953, ist es Tenzing Norgay, der die Gipfelfahne in die Luft hält; von Edmund Hillary existiert kein Foto auf der Everestspitze.

„Everest“ dokumentiert aber auch ein Interesse der Himalajareisenden, das sich nicht nur grimmig auf die Besteigung von Bergen richtete, sondern auch auf die fremde Welt, die man auf dem Weg dorthin durchreiste. Einmalige Aufnahmen der Natur sowie der tibetischen und nepalesischen Menschen entstanden, die einen Lebensalltag dokumentieren, der spätestens seit der chinesischen Besetzung Tibets und dem Einbruch der „modernen“ Zivilisation auch in diesen entlegenen Winkel des Erdballs endgültig der Vergangenheit angehört.

Mit fast 50 Euro ist „Everest“ kein kostengünstiges Buch. Das lässt sich damit begründen, dass hier nichts „billig“ geraten ist. Feines Kunstdruckpapier, sauberes Layout, kräftige Fadenbindung, großartige Abbildungsqualität: Der Preis kommt nicht von ungefähr. Der sparsame Leser sei indes darauf hingewiesen, dass Restbestände dieses Bandes u. a. im Weltbild-Verlag für ca. 20 Euro angeboten werden – einer möglichen Neuausgabe verkleinerten Maßes ist dieses Original allemal vorzuziehen, denn nur auf den ursprünglichen 30,5 x 29,3 cm lassen sich die Fotos wie vorgesehen genießen!

Stephen Venables (geb. 1954) gehört zur alpinistischen Prominenz. Auf der ganzen Welt hat er Berge erklommen, dabei neue Routen entdeckt und in der Antarktis Gipfel gefunden, die noch unbestiegen waren. Seine große Liebe gehört indes dem Himalaja, den er im Verlauf von mehr als einem Dutzend Expeditionen ausgiebig bereiste. Seine Kletterleidenschaft führte ihn hier zu den weniger hohen, dafür jedoch unbekannten Bergen. 1988 gehörte Venables jenem Vier-Mann-Team an, das eine spektakuläre Route durch die Mount-Everest-Ostwand erschloss. Als Publizist ist Venables auf dem Buchmarkt und in praktisch allen einschlägigen Zeitschriften für Bergsteiger vertreten.

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