Vermes, Geza – Anno Domini. Ein Who\’s Who zu Jesu Zeiten

_Überraschung: Jesus war ein Exorzist, Joseph pädophil_

„Wer waren die VIPs vor 2000 Jahren?“ Obwohl die Zeitenwende bis heute eines der bedeutendsten Ereignisse der menschlichen Geschichte ist, kann kaum jemand diese Frage beantworten. Geza Vermes ist ein renommierter Jesus-Kenner. In seinem Who’s Who zu Jesu Zeiten beschränkt er sich nicht allein auf theologisch relevante Personen, er porträtiert auch römische Politiker wie Pontius Pilatus und andere weltliche Schlüsselfiguren, die in der Bibel kaum oder gar nicht auftauchen, in Kurzbiografien.

_Der Autor_

Geza Vermes, 1924 in Ungarn geboren, studierte Orientalistik und orientalische Sprachen und promovierte in Theologie. Er wurde zum ersten Professor für Jüdische Studien an der Universität Oxford, wo er noch heute als Professor Emeritus wirkt. Seit 1991 ist er Direktor des Forums für Qumran-Forschungen am Zentrum für Hebräische und Jüdische Studien in Oxford. Er ist Mitglied der British Academy und der Europäischen Akademie für Wissenschaften, Kunst und Literatur sowie Träger diverser Ehrendoktorate. Zu seinen Werken zählen „Die Passion. Die wahre Geschichte der letzten Tage im Leben Jesu“ und „Die Geburt Jesu. Geschichte und Legende“.

_Inhalte_

Nach einem Verweis auf die Quellen und Mitarbeiter stellt der Autor stichwortartig die Gruppen von Namen vor, die er später im biografischen Teil seines Who is Who eingehend vorstellt und beurteilt. Zwei Stammtafeln über die Hasmonäer/Makkabäer (Priesterkönige) und die Herodianer (Könige und Statthalter) beschließen diese Einführung.

Ganz wichtig für das Verständnis der Biografien und deren zeitliche Einordnung ist der Überblick „Das Zeitalter Jesu im breiteren Kontext“. Denn hier stellt der Autor erstmals vor, welchen Zeitraum er überhaupt berücksichtigt. Er könnte ja bei Adam und Eva oder Stammvater Abraham anfangen. Nein, sein zeitlicher Blickwinkel ist auf die Jahre 164 vor der Zeitenwende (v. d. Z.) und 135 n. d. Z. begrenzt – zwei einschneidende Daten in der Geschichte des jüdischen Volkes.

Im Jahr 164 v. d. Z. – der Autor spricht niemals von „vor/nach Christi Geburt“, aus Gründen, die bald ersichtlich werden – erlangen die Juden erstmals nach Jahrhunderten der Unterdrückung durch Babylonier, Perser und Griechen ihre politische Unabhängigkeit und wählen Jerusalem als ihre Hauptstadt. Das bereits erwähnte Geschlecht der Hasmonäer erringt nach dem Makkabäeraufstand die politische und religiöse Macht.

Im Verlauf von Machtkämpfen und Erbstreitigkeiten holt man im Jahr 63 v. d. Z. den römischen Konsul und General Pompeius zu Hilfe – ein schwerer Fehler, denn er annektiert einfach das Land als die römischen Provinzen Judäa und Galiläa (später weitere). Während es Galiläa, wo Jesus geboren wird, gelingt, von seiner eigenen Oberschicht regiert zu werden, ist Judäa bald schlechter dran: die Römer herrschen hier direkt und ohne Vermittlung.

Sie unterdrücken diverse aufrührerische Bewegungen, doch ohne durchschlagenden Erfolg, bis es anno 63 n. d. Z. zum Ausbruch des Ersten Jüdischen Krieges kommt, der mit der Eroberung Jerusalems und der Festung Masada anno 66 endet. Es kommt anno 70 zur Zerstörung des Tempels von Jerusalems, womit die Saat für den Zweiten Jüdischen Krieg gelegt wird, der erst 135 n. d. Z. mit einer vernichtenden Niederlage des Ben Kochba endet. Dies führt zur Diaspora, der Zerstreuung des jüdischen Volkes in alle Winde. Somit deckt der Autor rund 300 Jahre Geschichte ab, die außerordentlich gut dokumentiert ist.

Eine CHRONOLOGIE liefert am Ende des Buches nochmals einen Überblick über die diversen kritischen Ereignisse in diesen drei Jahrhunderten. Der Überblick „Das Zeitalter Jesu im breiteren Kontext“ ist in fünf Abschnitte eingeteilt, in denen die jeweils wichtigsten Personen der Zeitgeschichte kurz auftauchen. Der titelgebende Mann, Jesus von Nazareth, lebte ungefähr in der Mitte des beleuchteten Zeitraums, wird aber nur kurz betrachtet, da es ja vor allem die jüdischen und christlichen Bewegungen in seiner Nachfolge waren, die bis heute die Kirchen- und Glaubensgeschichte von Juden- und Christem beeinflussen.

|Das „Who’s Who“|

Es wäre sinnlos, irgendwelche Artikel aus diesen Biografien zur Gänze zitieren zu wollen. Ja, schon der Versuch einer Übersicht muss im Ansatz scheitern. Sinnvoller ist daher, die wichtigsten BEFUNDE der historischen Beurteilungen, die der Historiker Vermes vornimmt, mal kurz in Beispielen vorzustellen. Sein Ansatz ist, wohlgemerkt, völlig unparteiisch und nur der historischen Disziplin verpflichtet. Daher können sehr religionskritische Aussagen dabei herauskommen. Wie der Leser diese Aussagen aufnimmt und bewertet, steht auf einem ganz anderen Blatt.

|Die Apostel|

Es gibt, wie man inzwischen weiß, jede Menge Evangelien (griechisch für „gute Nachricht“), aber nur vier davon wurden vom Konzil zu Nicaea/Nicäa (heute İznik in der Türkei) im 4. Jahrhundert genehmigt: die von Markus, Matthäus, Lukas und Johannes. Dies ist zugleich die chronologische Folge ihrer Entstehung: Markus ist das älteste, das der historischen Figur des Wanderpredigers, Heilers und Exorzisten Jesus von Nazareth am nächsten ist.

Matthäus und Lukas haben gehörig hinzugedichtet und Jesus zu einem Sohn Gottes, einem Messias und und Propheten gemacht. Hier ändert sich bereits die Bewertung der Juden. Und Johannes macht das Maß voll, indem er die Juden in Grund und Boden verdammt, was mit Jesu Botschaft, der sich strikt ans Mosaische Gesetz hielt, rein gar nichts mehr zu tun hat. Vermes hält es für höchst wahrscheinlich, dass der Evangelist Johannes nichts mit dem Apostel Johannes zu tun hat. Und dass Lukas wie auch „Johannes“ Nichtjuden waren.

|Jesus|

Der historische Jesus, den der Autor nach seinen Recherchen für wahrscheinlich, jedoch nicht für gesichert hält, wurde im Jahr 6 vor der Zeitenwende geboren. Von einem Jahr null = Jesu Geburt kann also keine Rede sein! Jesus wurde nach der Begegnung mit Johannes dem Täufer im Jahr 29 n. d. Z. zu einem eifrigen Wanderprediger, der das Kommen eines Reiches Gottes und somit des Messias für höchst dringlich hielt und verkündete. Im Herbst 29 und dem Frühjahr 30 zog er also mit den bekannten zwölf Aposteln durch Galiläa, sprach aramäisch (nicht hebräisch oder gar lateinisch oder neugriechisch) und entfremdete sich von seiner Familie, außer von seinem Bruder oder (je nach Quelle) Stiefbruder Jakobus, der später der erste Bischof von Jerusalem wurde.

Der einzige Grund, den der Autor für Jesu Verhaftung gelten lässt, ist dessen Auftritt im Tempel von Jerusalem kurz vor dem Passah-Fest. Nicht Römer ließen ihn verhaften, sondern jüdische Älteste und Priester. Er wurde von Hannas verhört, von Kaiaphas verurteilt und an den römischen Präfekten von Judäa, Pontius Pilatus, zur Exekution übergeben.

Das Bemerkenswerte an dem Vorgehen des Glaubensrates von Hannas und Kaiaphas: Damals wie auch heute ist es für einen Juden kein Verbrechen, sich als „Sohn Gottes“ zu bezeichnen, alldieweil sich alle Juden als Söhne Gottes betrachten. Auch gibt es kein Gesetz, wonach Personen, die sich als Messias bezeichnen, als Gotteslästerer zu verurteilen seien. Gotteslästerung hätte mit Steinigung geahndet werden müssen. Stattdessen wird Jesus der Aufwiegelung gegen die Römer bezichtigt, was durch Kreuzigung bestraft wurde – für ein Verbrechen, das er gar nicht begangen hatte. Ein politischer Mord unter so vielen.

All dies geschah aber nicht an jenem Feiertag des Passah- oder Osterfestes, sondern, da an diesem Tag Amtshandlungen verboten waren, einen Tag zuvor. Die Kreuzigung fand dann am Karfreitag des Jahres 30 n. d. Z. statt. Jesus war also 36 Jahre alt. Aber wie verhielt es sich mit seiner „Auferstehung“, die ihn zu jenem gottähnlichen Wesen machte, als das er heute verehrt wird? Wie sich herausstellt, beruht dieser Glaube allein auf den „Visionen“ seiner Anhänger.

Die Evangelien widersprechen sich in zahllosen Details zur Auferstehung wie auch zum Prozess und der Passion Jesu. Nur Markus kann man zutrauen, noch Zeuge der Kreuzigung gewesen zu sein oder wenigstens mit Zeugen gesprochen zu haben. Der Autor stellt die verschiedenen Evangelien einander gegenüber, was zu dem erstaunlichen Resultat führt, dass a) der historische Kern kaum noch sichtbar ist und b) 99 Prozent der Passionsgeschichte Legenden, Dichtungen, Verfälschungen und andere spätere Hinzufügungen sind. Meist musste die „gute Nachricht“ den Verkündern in den religionspolitischen Kram passen. Erst sie machten aus dem jüdischen Wanderprediger, der keine Nichtjuden anerkannte, den christlichen Messias und Erlöser, der für alle da ist.

|Maria|

Kann eine Jungfrau wirklich den Sohn Gottes geboren haben? Dies ist seit dem 19. (päpstliche Bulle von 1854) und 20. Jahrhundert (Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel von 1950) die Doktrin der Katholischen Kirche. Die Quellen besagen etwas ganz anderes. Maria soll mit Joseph dem Zimmermann verheiratet gewesen sein und mit ihm sieben Kinder gehabt haben. Jesus, der Älteste, hatte vier Brüder und mindestens zwei Schwestern. Nach späteren, politisch korrekten Versionen der Evangelien war sie bloß die Verlobte oder zweite Frau des Witwers Joseph. Sie lebte in Nazareth.

Die Geburtslegende, die jedes Kind zu Weihnachten erzählt bekommt, ist in höchstem Maße unwahrscheinlich. Erstens gab es im Jahr 6 v. d. Z., Jesu Geburtsjahr, gar keine Volkszählung plus Steuerschätzung, sondern erst zwölf Jahre später. Zweitens hätte Joseph gar nicht nach Bethlehem reisen müssen, sondern entweder in Nazareth oder der Stadt seiner männlichen Vorfahren vorstellig werden müssen. Und eine Flucht nach Ägypten ist reine Legende. Joseph lässt sich sogar als Pädophiler einstufen, allerdings nur nach heutigen Moralvorstellungen. Sobald Maria zwölf Jahre geworden war oder in die Pubertät kam (= geschlechtsreif wurde), wurde sie einem würdigen Mann anvertraut, eben Joseph: verlobt oder verheiratet? Und der war schon etwas älter als die Zwölfjährige.

|Die Anhänge|

Das Buch endet mit einigen Anhängen. Dazu gehört die erwähnte „Chronologie“ ebenso wie eine Landkarte Palästinas im Zeitalter Jesu, ein Glossar mit wichtigen Begriffen, eine Liste der Abkürzungen (zu Quellen und Publikationen) sowie eine Bibliografie. Ein Stichwortregister (Index) erübrigt sich durch die alphabetische Sortierung der Biografien.

_Mein Eindruck_

Dies ist nur eine knappe Übersicht über die Inhalte und erstaunlichen Befunde. Ich habe mich in der Lektüre wirklich wohlgefühlt und an einem Nachmittag die wichtigsten Artikel gelesen, so etwa über die Apostel, Evangelisten und Jesus plus Familie. Unglaublich, wie winzig der historische Kern ist, der im Neuen Testament enthalten ist. Ich sage ausdrücklich „Neues Testament“ und nicht „Bibel“, weil der Autor mit „Bibel“ nur die Hebräische Bibel meint, die einen ganz anderen Inhalt haben kann als die von christlichen Organisationen wie den Kirchen und Sekten verbreiteten Versionen.

Eine weitere Besonderheit ist die Zählung der Jahre. Ich musste mich erst an die nirgends erklärte Bezeichnung „v. bzw. n. d. Z.“ gewöhnen. Z. ist nicht etwa „Zeitrechnung“ wie in der DDR, sondern „Zeitenwende“. Die Muslime haben ja ebenso wie Hindus, Buddhisten etc. anderen Zeitrechnungen und -wenden. Muslime zählen ab der ersten Hedschra des Propheten Mohammed im Jahr 622 n. d. Z. und zwar nach Mondjahren.

|Eignung und Zielgruppe|

Dieses Werk ist von einem Wissenschaftler für andere Wissenschaftler geschrieben worden. Doch auch „Power-User“ der Kultur- und Religionsgeschichte wie etwa Angehörige der klassisch und humanistisch gebildeten Schichten können das Buch mit großem Gewinn lesen. Sie müssen eben Fachbegriffe wie „Konkordanz“, „Apokryphen“ und „Parusie“ notfalls nachschlagen. Der zentrale Begriff „eschatologisch“ wird hingegen im Glossar erklärt.

Abgesehen von dieser Handvoll Fremdwörter konnte ich den Text aber sehr gut verstehen. Die Darstellung ist an jeder Stelle nachvollziehbar. Weil der Autor mit einer Menge Überraschungen aufwartet, macht das Lesen neugierig. Allerdings nur denjenigen, der für solche Überraschungen offen sein kann. Dogmatische Leser dürften erhebliche Probleme damit haben.

Die zähesten Buchteile sind naturgemäß die Anhänge. Man kann aber die Chronologie gut als Einstieg und ersten Überblick lesen. Fast ebenso schwer, aber ungleich unterhaltsam ist der erste „Überblick“, der in fünf Abschnitte unterteilt ist und sich so ebenfalls leichter konsumieren lässt. Den harten Kern, aber eigentlichen Inhalt bildet das „Who’s Who“.

|Übersetzung|

Eine wunderbare Arbeit von Yvonne Badal: sehr verständlich und eindeutig formuliert. Ich konnte keine Druckfehler finden. Der einzige Fehler, auf den ich stieß und der wohl aufs Konto des Autor geht, steht im Artikel über Joseph, „Vater“ von Jesus“ auf Seite 188/89. In einer koptischen Legende ist Joseph bereits 89 Jahre alt, als er Maria heiratet. Er sei nach 22 Jahren Ehe mit Maria im Alter von 101 Jahren gestorben und vom 22-jährigen Jesus begraben worden. Nun ja, 101 minus 89 ergibt bei mir immer noch zwölf statt 22. Aber die Zeit ist ja auch nicht mehr das, was sie mal war.

_Unterm Strich_

Ein Who’s Who bietet einen biografischen Überblick, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Daher kann dieses Buch sowohl ein erster Einstieg in ein spezielles Thema wie etwa die Passions- oder Geburtsgeschichte Jesu sein (die der Autor beide geliefert hat), als auch eine spannende Lektüre über die während der 300 Jahre Betrachtungszeit lebenden historischen Personen. Letzteres fand ich sehr viel unterhaltsamer und aufregender – die Biografien liefern den Anreiz für den Einstieg in die Vertiefung eines Themas.

Die Zielgruppe des Buches sind sicherlich nicht die blutigen Laien, die von Kirchen- und Glaubensgeschichte keine Ahnung haben. Hier wird schon einiges an Bildung vorausgesetzt. Die Texte sind aber schon derart fundiert, dass man sie ohne weitere Prüfung akzeptieren kann, sofern man kein Dogmatiker ist. Der Ansatz ist unparteiisch und undogmatisch, rein von der historischen Methode getrieben und mit dem Wunsch vorgetragen, jene für Christen so wichtige Zeit besser zu verstehen. Das ist dem Autor gelungen.

Zu wünschen wäre eine Onlinepublikation, die mit entsprechenden Links zu anderen Artikeln weiterführt. Die Einträge des Buches sind in sich konsistent, d. h. sie widersprechen einander nicht. Aber häufig tauchen Namen, Orte und Begriffe auf, die man liebend gerne sofort woanders nachschlagen würde.

Fazit: ein Volltreffer.

|Originaltitel: Who’s Who in the Age of Jesus, 2005
Aus dem Englischen von Yvonne Badal
334 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-7857-2347-0|
http://www.luebbe.de

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