Delphine de Vigan – No & Ich

|“Wer sich ständig deines Vertrauens vergewissert, wird es als erster missbrauchen.“|

No ist 18 und lebt auf der Straße. Sie kommt meist in provisorischen Unterkünften unter und schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Ich – das ist die 13-jährige Lou Bertignac. Lou ist hochintelligent und hat zwei Klassen übersprungen, das macht den verträumten Teenager zu einer Außenseiterin. Nur zu Lucas hat sie ein freundschaftliches Verhältnis. Als ihr Lehrer sie eines Tages aus einem Tagtraum erweckt und sie nach dem Thema für ihr nächstes Referat fragt, fällt ihr nichts Besseres ein als die Obdachlosigkeit.

Und so stöbert das Mädchen durch die Straßen und lernt dabei die obdachlose No kennen. Was zunächst mit den Interviews für das Referat beginnt, entwickelt sich langsam aber sicher zu einer Freundschaft. Die beiden Mädchen treffen sich noch lange, nachdem Lou bereits ihr Referat gehalten hat. Zunächst erfindet Lou Lügen, um sich mit No zu treffen und das Geld für die Getränke in der Kneipe zu bekommen, doch dann beschließt sie, No von der Straße wegzuholen und bittet ihre Familie um Hilfe. Aber auch in Lous Familie ist nicht alles in Ordnung: Denn nach dem plötzlichen Kindstod ihres jüngeren Geschwisterkindes hat sich Lous Mutter in ihre eigene Welt zurückgezogen. Sie spricht mit niemandem mehr und Lou fühlt sich ungeliebt. No allerdings hat eine heilende Wirkung auf Lous Mutter, denn sie beginnt wieder, am Leben teilzunehmen, spricht mit anderen Menschen und blüht regelrecht auf.

Alles scheint perfekt, Lou ist glücklich und No muss nicht mehr auf der Straße leben. Doch dann bemerkt Lou, wie Nos Arbeit in einem Hotel sie immer mehr aufzehrt. No arbeitet immer mehr und mehr, sie trinkt und rutscht immer weiter ab, bis Lous Eltern merken, dass sie der 18-Jährigen nicht mehr helfen können …

_Rettende Freundschaft_

Die wunderbare Geschichte von „No & Ich“ ist aus Sicht der 13-jährigen Lou erzählt, doch Lou ist kein gewöhnlicher Teenager. Sie hat keine Freunde und träumt den lieben langen Tag vor sich hin. Das ändert sich erst, als sie No kennen lernt, eine Freundin gewinnt und die Welt verändern will. Obwohl sie noch so jung ist, fasziniert Lou von Beginn an: Auf der einen Seite sind ihre Gefühle häufig ihrem Alter entsprechend naiv, doch dann blitzt immer wieder die reife und erwachsene Lou auf, der man ihre überdurchschnittliche Intelligenz anmerkt, aber auch, dass sie häufig auf sich allein gestellt ist. Denn ihre Mutter hat sich völlig zurückgezogen und kann Lou keine Liebe mehr schenken. Die holt sich Lou schließlich von No. Die beiden Mädchen klammern sich aneinander und versichern sich immer wieder gegenseitig ihres Vertrauens und ihrer Freundschaft zueinander. Auch No hat riesige Angst davor, die neu gewonnene Freundin, die zu ihrer Stütze geworden ist, zu verlieren.

Die beiden Mädchen könnten kaum unterschiedlicher sein, und dennoch entsteht eine wunderbare Freundschaft zwischen den beiden. Für Lou ist No Mutter- und Schwesterersatz in einer Person, ihr kann sie ihre Ängste, Gefühle und Gedanken anvertrauen, und dennoch bleibt bei beiden Mädchen immer dieses Fünkchen Unsicherheit darüber, ob die Freundschaft halten wird und die Unterschiede überwinden kann. Immer wieder fragt man sich, ob Lou der Verantwortung und Nos Problemen überhaupt gewachsen ist. Lou bemerkt, dass Tabletten in der Hausapotheke fehlen, und sieht zu, wie No immer mehr Alkohol konsumiert, sie macht sich Gedanken über den anstrengenden Job ihrer Freundin, bemerkt aber nicht, wie weit es mit No bereits gekommen ist – oder will sie es gar nicht merken?

Als Zuhörer ahnt man bereits, in welche Richtung sich die Geschichte entwickeln wird, man sieht förmlich das drohende Damokles-Schwert über der Mädchenfreundschaft und befürchtet zunehmend, dass dieses ganze Konstrukt zwangsläufig in sich zusammenfallen muss. Und dennoch wünscht man sich umso mehr, dass die Geschichte ein Happy End haben möge, aber bis zur letzten Minute lässt Delphine de Vigan uns in der Schwebe. Die Geschichte hätte beide Enden nehmen können – ein glückliches oder ein unglückliches, und de Vigan hat sich meiner Meinung nach für das stärkere der beiden entschieden.

_Gedanken eines Teenagers_

Lou Bertignac ist es, die uns ihre Geschichte erzählt und von der Freundschaft zu No berichtet. Lou ist 13, auch wenn man es ihr nicht immer anmerkt. Die Sprache bleibt stets einfach und für eine 13-Jährige absolut authentisch. Und dennoch transportieren manche Sätze so viel mehr Bedeutung, als die Worte auf den ersten Hörer vermuten ließen. Aber auch das nimmt man der Autorin und Lou immer ab, denn Lou ist nun einmal außergewöhnlich, sie versteht viel mehr als Gleichaltrige, und das muss man ihren Gedanken und Gefühlen eben auch anmerken.

Die gesamte Geschichte, die sich definitiv nicht nur an jugendliches Publikum richtet, aus Sicht eines Teenagers zu erzählen, war sicherlich eine Gratwanderung für die Autorin, doch sie glückt hervorragend, was der sympathischen Lou und ihren teils obskuren Gedanken zuzuschreiben ist. Besonders ihre Gedankenexperimente und die Fragen, die sie zur reinen Ablenkung in ihrem hochintelligenten Kopf löst, fand ich ausgesprochen spannend – welche 13-Jährige außer Lou Bertignac würde sich derlei Fragen wohl stellen?

Delphine de Vigan wollte die Geschichte von Menschen erzählen, die auf der Straße leben. Als Sprachrohr hat sie dazu Lou auserkoren. Mit viel Einfühlungsvermögen erzählt sie von Nos Problemen und ist dabei schonungslos offen, auch wenn manche Probleme eher am Rande anklingen, weil Lou sie nicht erkennen und aussprechen mag. Dennoch wird die Geschichte nie hoffnungslos, denn auch wenn No auf der Straße lebt, hat sie sich und ihr Leben noch nicht aufgegeben, sie will etwas aus ihrem Leben machen und eines Tages zu ihrem Freund nach Irland ziehen. Dass es diesen gar nicht gibt, ahnen wir, erfahren es aber erst spät. Und so zeigt No ihrer jungen Freundin immer nur das, wovon sie denkt, dass diese es verkraften kann. Doch hinter der Fassade steckt mehr, in No muss mehr vorgehen, sie erlebt schlimmere Dinge, als Lou sie uns erzählen kann, und dennoch klingen sie beim Leser an. Wie Delphine de Vigan das schafft, ist wahrlich meisterlich, denn hier muss man zwischen den Zeilen hören und entdeckt dort noch viel mehr als das, was wir vorgelesen bekommen.

Die Berliner Schauspielerin Jennipher Antoni, die selbst schon über 30 ist, verleiht Lou ihre Stimme und schafft es stets, die kindlichen wie auch die erwachsenen Aspekte in Lous Wesen herauszuarbeiten. Antonis Stimme klingt selbst noch jung genug, damit man ihr die Rolle abnimmt, aber dank ihrer eigenen Reife schafft sie es überzeugend, sämtliche Facetten von Lous Persönlichkeit in ihre Stimme zu legen. Nur diese Stimme ist es, keine Effekte und keine Geräusche, die wir zu hören bekommen, und doch passt diese Schlichtheit genau zu der Geschichte, zumal Jennipher Antoni so deutlich mehr Raum für ihre eigene Interpretation bleibt – und die gelingt ihr wahrlich hervorragend!

_No & Ich & der Hörer_

„No & Ich“ ist die ungewöhnliche Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen zwei außergewöhnlichen jungen Frauen, die uns im Laufe von gut fünf Stunden ans Herz wachsen. Jennipher Antoni verleiht Lous Gedanken eine Stimme und trägt mit viel Gefühl und Ausdruckskraft Delphine de Vigans Roman vor. Und auch wenn der letzte Ton verklungen und die CD zu Ende ist, so klingen Antonis Stimme und Lous Gedanken nach. Es fällt nicht leicht, loszulassen und diese Erzählung ad acta zu legen.

|“Wenn du mich zähmst, wirst du für mich einzig sein auf der Welt“|, sagt No zu ihrer Freundin Lou, und so einzigartig wie diese Freundschaft, so einzigartig schön ist auch das vorliegende Hörbuch!

|Siehe ergänzend dazu auch unsere [Rezension 5680 der Buchausgabe.|

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