Vlugt, Simone van der – Klassentreffen

Klassentreffen – das sind die alljährlich wiederkehrenden Events, die ein Teil des Abschlussjahrgangs hasst und bei solchen Veranstaltungen ohnehin nicht auftaucht und die der andere Teil des Jahrgangs liebt, weil er dann wieder in seliger Erinnerung an die ach-so-schöne Schulzeit schwelgen kann. Bei Simone van der Vlugts Roman“heldin“ Sabine hat das anstehende Klassentreffen allerdings noch ganz andere Konsequenzen: Unangenehme Erinnerungen tauchen wieder auf, die Sabine eigentlich vergessen wollte und die sie nun aber gar nicht mehr loslassen wollen …

Sabine leidet an einer der bekanntesten modernen Volkskrankheiten, nämlich dem Burn-Out-Syndrom. Eigentlich hat ihr die Arbeit als Sekretärin bei der BANK in Amsterdam immer sehr gut gefallen, doch irgendwann ist ihr alles über den Kopf gewachsen. Nach einer längeren Auszeit und therapeutischen Behandlung lernen wir Sabine kennen, als sie wieder arbeiten gehen möchte. Besser geht es ihr allerdings noch nicht, doch weil selbst ihre Therapeutin nicht bis zum Grund ihres Problems vordringen kann, quält Sabine sich kurzerhand wieder zurück zu ihrer Arbeit, wo sie allerdings feststellen muss, dass ihre beste Freundin Jeanine dort nicht mehr arbeitet und sie stattdessen neue Kolleginnen hat, die sie von Anfang an mobben. Besonders schlimm ist die neu eingesetzte Leiterin des Sekretariats, Renée, die Sabine an das Leben zur Hölle macht.

Einen Lichtblick gibt es bei der BANK für Sabine, und zwar Olaf aus der IT-Abteilung, in den die halbe weibliche Belegschaft verliebt ist, allen voran Renée, die mit ihren Flirtversuchen allerdings auf Granit beißt. Anders aber Sabine, die Olaf von früher kennt, weil dieser damals mit ihrem Bruder befreundet war. So kommen die beiden sich schnell näher und beginnen eine heiße Affäre, die Sabines eifersüchtige Kolleginnen mit immer schlimmeren Mobbing-Attacken quittieren.

Doch Sabine quälen noch ganz andere Dinge, nämlich das bevorstehende Klassentreffen in ihrer Heimat Den Helder, das Erinnerungen an ihre frühere Freundin Isabel weckt, die vor neun Jahren spurlos verschwunden ist. Sabine kann sich noch daran erinnern, dass sie am fraglichen Tag auf dem Heimweg mit dem Fahrrad hinter ihr fuhr, um an einer Kreuzung allerdings anders abzubiegen, um Isabel nicht zu begegnen. Das ist die letzte Erinnerung, die sie bewusst an Isabel hat, doch ganz allmählich tauchen ganz neue Bilder auf, die Sabine nicht recht einordnen kann. Daraufhin begibt sie sich nach Den Helder, um Spurensuche zu betreiben.

Der erste Weg führt sie zum Hausmeister der Schule, der inzwischen alt und wunderlich geworden ist und mit sechs Katzen zusammenlebt, die auffälligerweise die Namen von sechs Mädchen tragen, die vor einigen Jahren in Den Helder verschwunden sind. Ob dies etwas zu bedeuten hat? Und was versucht Sabine zu verdrängen? Weiß sie etwa, wer für Isabels Verschwinden verantwortlich ist und kennt sie womöglich den Täter? Fast dauert es zu lange, bis Sabine schließlich erkennt, was damals wirklich vorgefallen ist …

Simone van der Vlugt hat mit „Klassentreffen“ einen Roman vorgelegt, der sich zunächst schlecht in ein Genre einordnen lässt. Zwar vermutet man von Anfang an, dass sich hinter Isabels Verschwinden und Sabines wiederkehrenden Erinnerungen eine spannende und grausame Geschichte verbergen muss, doch bevor wir uns diesen Erinnerungen widmen, begleiten wir Sabine zunächst zu ihrer Arbeit und ihren gehässigen Kolleginnen. Dort erlebt Sabine die Hölle, die nur dadurch abgemildert wird, dass Frauenschwarm Olaf sich in sie verliebt und sich vom ersten Moment an an sie heranmacht. Sabine kann ihr Glück kaum fassen und lässt sich deswegen nicht mit ganzem Herzen auf die Affäre ein. Schon früh merkt sie zudem, dass sie Olaf gegenüber nicht die gleichen Gefühle entwickeln kann wie für Bart, ihren ersten und bislang einzigen Freund. Immer wieder denkt sie an Bart zurück und fragt sich, warum er sie nach Isabels Verschwinden links liegen gelassen hat und nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.

Nur langsam legt Simone van der Vlugt Spuren aus, die uns Hinweise darauf geben, was vor neun Jahren am Tag von Isabels Verschwinden passiert sein mag. Sehr geschickt konstruiert die Autorin ihre Geschichte dabei so, dass immer neue Verdächtige auftauchen. Kaum meint man, den Täter entlarvt zu haben, kommt Sabine eine neue Erinnerung, die wieder alles über den Haufen wirft und einen neuen Verdächtigen aus dem Hut zaubert. Mein persönlicher Hauptverdächtiger wechselte daher praktisch von Kapitel zu Kapitel, ohne dass ich mich für einen hätte entscheiden können, denn die neuen Spuren und Erinnerungen schließen niemals jemanden aus, sodass sich der Kreis der Verdächtigen stets erweitert. Das gibt Simone van der Vlugt schließlich auch die Möglichkeit, ihrem Roman ein Ende zu verpassen, das sich gewaschen hat und ihre Leser in Erstaunen versetzt. Obwohl man die Wende vielleicht hätte absehen können, war ich mir bis zum Schluss nicht ganz sicher, wer für Isabels Verschwinden verantwortlich war, und konnte mich deswegen richtig überraschen lassen. Und obwohl der Autorin ein echtes Überraschungsmoment glückt, passt es sich wunderbar in die Geschichte ein und wirkt keineswegs aufgesetzt oder künstlich konstruiert. Durch die verschiedenen Fährten, die Simone van der Vlugt ausgelegt hat, ist die Wende absolut stimmig!

Auch die Charakterzeichnung ist Simone van der Vlugt hervorragend gelungen. Wir sind in jedem Moment bei Sabine und lernen sie daher von vielen verschiedenen Seiten kennen. Wir reisen mit ihr in die Vergangenheit, hören von ihrer Freundschaft zu Isabel, die sich im Laufe der Zeit sehr gewandelt hat, bis Isabel plötzlich zu Sabines Feindin geworden ist, von der sie permanent gepiesakt wurde. Doch das Mobbing setzt sich in der Gegenwart weiter fort, denn dort sind es Sabines Arbeitskolleginnen, die ihr das Leben schwer machen. Sabines Verzweiflung und ihre Ängste erleben wir in jedem Moment hautnah mit. Auch die Beziehung zu Olaf, die anfangs glücklich und perfekt scheint, bekommt schnell Risse und bewegt sich in eine ungeahnte Richtung. All diese Veränderungen und Sabines Gefühle beschreibt Simone van der Vlugt zu jedem Zeitpunkt glaubwürdig und nachvollziehbar.

„Klassentreffen“ ist ein höchst erfreulicher Roman, der sich deutlich vom Mittelmaß abhebt und sich durch gelungene Figurenzeichnung und einen geschickt inszenierten Spannungsbogen auszeichnet. Obwohl Simone van der Vlugt am Ende eine dicke Überraschung für ihre Leser parat hat, bereitet sie dieses Aha-Erlebnis so gut vor, dass es sich stimmig in die Geschichte einfügt. Der vorliegende Roman überzeugt auf ganzer Linie und macht neugierig auf weitere Werke der niederländischen Autorin!

http://www.diana-verlag.de

|Ergänzend dazu: [„Schattenschwester“ 3625 (März 2007)|

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