Warner, Alan – Hin und weg

_Die ravende Maria_

Die schottische Literatur erlebt eine Renaissance, nicht erst seit „Trainspotting“ von Irvine Welsh. Alan Warners Roman „Hin und weg“ kontrastiert die herbe schottische Alltagsrealität mit der abgehobenen Musikwelt der Raver an der Costa del Sol. Und er hat die – vielleicht utopische – Hoffnung, dass die Transformation einer Frau durch den Rave vielleicht etwas Positives zu den schottischen Verhältnissen beitragen könnte.

_Handlung_

Morvern ist eine ganz normale Arbeitssklavin im örtlichen Supermarkt, wo sie sich den Arsch abrackert. In diesem Hafennest an der schottische Küste gibt es nicht mehr allzu viele Jobs. Das Waisenkind, das mit seinem Freund zusammenlebt, macht jeden Abend in den Kneipen mächtig einen drauf. Ihre beste Freundin Alannah unterstützt sie dabei nach Kräften. Morvern kennt sie alle, die Kollegen ihres Pflegevaters bei der Lokalbahn, die so köstlich derbe Witze erzählen. So kann sie kostenlos auf der Lok mitfahren und ein bisschen rauskommen.

Eines Morgens kippt ihr Freund, der Schriftsteller, im Badezimmer tot um. Schädelbruch oder so was. Während amerikanische Teenager nun einen Schreikrampf nach dem anderen bekommen würden, behält Morvern die Nerven und geht erstmal ordentlich zur Arbeit. Am Abend macht sie wieder einen drauf, diesmal inklusive Sex mit Männern. Morvern nimmt, was sie kriegen kann.

Natürlich muss die Leiche weg. Dafür gibt es den Dachboden. Sehr praktisch ist im Winter der fallende Schnee, der dafür sorgt, dass die Leiche nicht verfault, wenn sie auf der Tischplatte der Modelleisenbahn liegt. Aber wehe, der Frühling kommt oder die Handwerker, um den Schornstein zu reparieren! Das kann einem schon mal die Fahrprüfung versauen.

Doch Glückes Geschick! Ihr verblichener Ex-Freund hat ihr ein Romanmanuskript hinterlassen, das Morvy unter ihrem eigenen Namen an Londoner Verlage schickt. Mit einem satten Vorschuss von 2500 Pfund Sterling düsen sie und Lanna ab an die Costa del Sol und raven sich den Arsch ab, bis sie vor Musik, Bier und Ecstasy nicht mehr wissen, wie sie heißen. Doch was die Animateure unter „Unterhaltung“ verstehen, trifft nicht so ganz Morvys Geschmack: Badesachentausch im Sack mit anschließendem Wettschwimmen vor der Videokamera (wohlgemerkt: die Frauen oben ohne, die Männer im Bikini …). Morvy macht die Fliege.

Quasi als Ausgleich bestattet sie die Einzelteile der eigenhändig zersägten Leiche vom Dachboden, indem sie sie in den Bergen begräbt. Nach so viel Arbeit tut Nacktbaden im Bergbach richtig gut! Sie schmeißt ihren Job, als sie ihren Ex auch noch beerben darf: Wow, weitere 44.000 Pfund Sterling! Störend ist eigentlich nur, dass ihr Lanna erzählt, sie habe es kürzlich noch mit Morvys Ex getrieben, von dem sie glaubt, er sei verreist. Genauer gesagt, so rechnet Morvy nach, am Abend vor dessen Hinscheiden …

Dicke Luft hängt also zwischen beiden, als es wieder in den sonnigen Süden geht, zum Raven. Allerdings setzt sich Morvy diesmal ab, um es ruhiger angehen zu lassen. Sie trifft die Lektoren ihres Londoner Verlags und macht schon wieder einen drauf.

Erst in ihrem nächsten Urlaub findet sie endlich zu sich selbst. Und so kommt es, dass eines Abends eine schwangere junge Schottin im Schneefall über den Bergpass nach Hause kommt – wie weiland Maria nach einer langen Reise aus Ägypten.

_Fazit_

„Movern Callar“ ist von einer flott zu lesenden, eingängigen Einfachheit, die das Auge täuscht. Warners Sätze kommen so simpel und schnell daher wie ein Pferd im Galopp, dass man darüber vergisst, was er nicht sagt. Das schwarze Loch, der blinde Fleck in dieser Erzählung ist die Gestalt der Mutter. Morvy hat ihre Mutter, eine von Spaniern abstammende Schottin, nicht gekannt, nur ihre Pflegemutter. Kein Wunder, dass sie sich selbst in erster Linie dem Vergnügen verpflichtet fühlt, eine befreite junge Frau. Die Mutterrolle ist keine Option.

Erst der Tod ihres Ex und das Sichverlieren im sonnigen Süden führen Morvern zu sich selbst. Sie schläft nicht mehr mit Männern, dafür registriert sie fasziniert, wie der Glaube an die Muttergottes die menschliche Gemeinschaft an ihrem spanischen Urlaubsort zusammenhält und ihr Identität verleiht. Hier sind offenbar ihre Wurzeln und ein Humus. Zwar dauert es noch drei Jahre, bis sie selbst Mutter wird, doch der Weg ist vorgezeichnet.

Das Buch erzählt uns, wie Frauen als Mütter für die Kontinuität in einer menschlichen Gemeinschaft sorgen. Zumal in der Gemeinschaft eines vom Aussterben bedrohten schottischen Dorfes. Hier werden die Männer – etwa ihr Pflegevater – ebenso von den Bessergestellten (den „Sassenachs“) – betrogen wie die anderen Frauen in Morvys Alter um ihre Jugend. Keine Zukunft, keine Hoffnung. Sollte man meinen.

Hier bringt sich die neue, geläuterte Morvern ein. Sie macht ihrem spanischen Familiennamen Callar – es bedeutet so viel wie „ruhig sein, schweigen“ – alle Ehre. Sie raucht nicht und hat das Trinken aufgegeben. Sie ist fähig zu beten, als sie an einem Altar steht. Als sie in ihre Heimat zurückkehrt, kehrt nach einem Stromausfall auch das elektrische Licht wieder zurück …

Dies ist beileibe kein religiöses Buch, wie Morverns Umgang mit der Leiche zeigt. Aber es findet in der Religion Vorbilder und einen verbindenden Glauben, die Hoffnung ermöglichen. Und nicht nur die Kirche kann hier Glauben verkörpern, sondern offenbar auch Rave. Von solchen Musiktiteln ist der ganze Roman durchzogen, und man sollte sie vielleicht kennen, um die Hauptfigur vollständig zu verstehen. Das musikalische Leitmotiv wird bis zur Schlussszene durchgehalten. Dadurch mutet das Buch an keiner Stelle altmodisch an, sondern stets modern. Und im Gegensatz zu „Trainspotting“ zeigt es keine abgründigen, völlig fertigen Existenzen, sondern vielmehr eine Entwicklung zum Positiven.

|Originaltitel: Morvern Callar, 1995
Aus dem Englischen übertragen von Sabine Lohmann|