Weber-Bock, Jutta – Wir vom Jahrgang 1957. Kindheit und Jugend

_Doch schon so alt, aber jung geblieben_

„Jahrgang 1957 – das war die Generation der Kurzschuljahre, Hula-Hoop-Reifen und des Apfelshampoos. Die Großmütter dufteten noch nach 4711, viele Mütter verrichteten Heimarbeit und die Vätern arbeiteten auch samstags. Als Jugendliche erlebten wir die 70er Jahre mit Anti-Atomkraftprotesten, Frauenbewegung, ABBA und Disco-Fieber. Wir trugen fast alles: Mini und Plateauschuhe, Boots und Röhrenjeans, Bundeswehrparka und Palästinensertuch.“ (Verlagsinfo)

Die Stuttgarter Schriftstellerin Jutta Weber-Bock, selbst Jahrgang 1957, nimmt den Leser und Betrachter mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Eingebettet in die weltpolitischen und gesellschaftlichen Geschehnisse der damaligen Zeit, begleitet sie den Leser durch eine Welt aufregender Kindheit und hoffnungsvoller Jugendträume.

_Die Autorin_

Jutta Weber-Bock – natürlich Jahrgang 1957 – ist schon seit den achtziger Jahren Leiterin von Schreibwerkstätten, insbesondere an der Uni Stuttgart, und bildet mittlerweile selbst solche Seminarleiter aus. Sie schreibt Romane, Gedichte und Erzählungen, die zum Teil veröffentlicht wurden. Der Erzählband „Herbsüß mit Bitterstoffen“ erschien 2002 im |Alkyon|-Verlag, Weissach. Die Autorin informiert über sich auf ihrer Homepage http://www.weber-bock.de.

|Veröffentlichungen:|

Laufen Leben, Geschichten und Gedichte, Passagen 15, |de scriptum| Verlag, Rottweil 2001

Herbsüß mit Bitterstoffen, Erzählungen, |Alkyon| Verlag, Weissach i. T. 2002 (Bezug nur noch über die Autorin)

Wir vom Jahrgang 1957 – Kindheit und Jugend -, |Wartberg| Verlag, Gudensberg-Gleichen 2005

Liebesprobe, Roman, |demand| Verlag Waldburg 2005.

Die Autorin arbeitet an ihrem nächsten Roman.

_Inhalte_

Wie bereitet man die Vergangenheit auf? Wie erinnert man sich an die frühesten eigenen Tage? Am besten stützt man sich auf Dokumente und ordnet diese bestimmten Lebensabschnitten zu. Die Chronik dieses 1957er-Lebens deckt demgemäß die Jahre von eins bis 18 mit zahlreichen Chroniken und Bildern – eigenen und fremden – ab. Die Chronik-Rubrik verknüpft die persönliche Biografie der Autorin mit den Weltereignissen, angefangen von „Sputnik 2“ (Hündin Laika an Bord) bis zu den autofreien Sonntagen im Jahr 1973.

Nicht nur das Essen zwischen deutscher Markenbutter und Schweizer Käse spielt eine Rolle, sondern natürlich auch die Mode, sei es nun das Babylätzchen, die Helanca-Strumpfhose oder die erste eigene Jeans. Emanzipation war nämlich nun von Gesetzes wegen erlaubt, weil am 1. Juli 1958 das erste deutsche Gleichstellungsgesetz in Kraft trat. Es erlaubte Frauen, ohne die Zustimmung ihres Ehegatten einen Beruf auszuüben, ein eigenes Vermögen zu besitzen und – jedenfalls ein Jahr später – allein über die Erziehung der Kinder zu entscheiden. In der Steinzeit davor war der Ehegatte noch „Herr im Haus“. Aus und vorbei. Mit der Verfügbarkeit der Pille war es auch mit der Herrschaft des Paschas im Bett endgültig vorüber. Sofern überhaupt einer da war: Viele Kriegsgefangene kehrten nicht aus Sibirien zurück.

Nach dem Kindergarten kam die Dorfschule, in der jüngere und ältere Kinder noch gemeinsam unterrichtet wurden. Der erste Schultag begann stets mit einer Schultüte. Und die wurde damals noch nicht geklaut. Auf dem Nachhauseweg kam man an Kaugummiautomaten vorbei, an denen man nach dem Einwerfen eines Groschens (= zehn Pfennige) einen Hebel drehen musste, um an die begehrten Kügelchen zu gelangen. Zu Hause vertrieben sich die Jungs entweder mit Fußballspielen oder Mopedreparieren die Zeit, die Mädchen mussten oftmals der Mutter im Haushalt helfen, denn es gab noch sehr wenige Maschinen, die Muttern die Arbeit abnahmen.

Die sechziger Jahre waren einerseits schrecklich bieder, andererseits eine Zeit des Auf- und Umbruchs. Lief im Fernsehen jede Menge amerikanische Serienware von „Bonanza“ bis „Raumschiff Enterprise“, so tat sich auf den Straßen etwas völlig anderes: Die Studenten protestierten gegen: Vietnam, die USA, den Schahbesuch und „den Muff aus tausend Jahren in den Talaren“. Schließlich gingen Anfang der 70er Jahre auch Nichtstudentinnen auf die Straße, um gegen den Paragraphen 218 zu demonstrieren, der die Abtreibung verbot. Kommunen, Rocker, Ökos, Anti-AKWler – es war jede Menge in Bewegung gekommen, und als die 1957er volljährig wurden, schauten sie zuversichtlich auf ihre zukünftigen Lebensjahre. Weiter geht die Sicht nicht, denn der Untertitel des Bandes lautet ja „Kindheit und Jugend“.

_Mein Eindruck_

Diese hohe Zahl der Nebenaspekte handelt die Autorin in Textkästen ab, die jeweils mit einem oder zwei Fotos illustriert sind. Die Wirkung ist die eines Zusammensetzspiels, das sich beim Leser erst in der Erinnerung zu einem Ganzen zusammenfügen will. Aber darauf kommt es nicht an. Viele Leser wollen sich in dem Buch in erster Linie wiedererkennen, und je mehr Teile sie vorgesetzt bekommen, desto mehr Teile ihrer Identität können sie wiedererkennen.

|Persönlich|

Nun fragt man sich vielleicht zu Recht, wo denn bitteschön hier die eigenen Eindrücke vom Leben der Autorin bleiben. Diese Textpassagen gibt es durchaus und in nicht geringer Zahl. Sie bilden häufig kleine Szenen aus dem Alltag ab und die Autorin kann dabei ihren ausgeprägten Sinn für Ironie nicht verbergen. Diese Szenen stellen in der Gesamtschau die subjektive Sichtweise dar, wohingegen die Chronik und die Schlaglichter eher die objektive(re) Sichtweise beitragen. (Wobei bereits die Auswahl der objektiven Informationen eine subjektive Wahl ist.)

|Politisch|

Die Bände der Reihe „Wir vom Jahrgang“ sind nicht politisch geprägt, insofern als die Autoren keine politische Richtung erkennbar werden lassen. Natürlich kann es jedoch nicht ausbleiben, dass denkende Menschen eine kritische Sicht auf gewisse Phänomene entwickeln und diese äußern. Die Frage ist also, in welcher Form dies hier geschieht. Das Mittel der Wahl ist leise Ironie. Sie ergibt sich nicht nur aus der zeitlichen Distanz zu jenen heute als absonderlich empfundenen Phänomenen der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre (die ich selbst erlebte, da ich Jahrgang 1960 bin), sondern auch aus einem kritischen Blick aus der Perspektive einer Frau.

|Frauen|

Wie schon erwähnt, erlebten Frauen ab 1958 eine ungeahnte Ausweitung ihrer persönlichen Freiheit von Gesetzes wegen und weil die Fortschritte der Medizin ihnen in die Hände spielten. Emanzipation, Pillen, Abtreibung – alles war auf einmal möglich – und meistens sogar legal! Frau musste nicht mehr zum Abtreiben nach Holland fahren oder nach einer Vergewaltigung ein ungewolltes Kind austragen. Aber ebenso wie die 68er-Generation bedeutete diese Umwälzung nur den Start zum „langen Marsch durch die Institutionen“, der bis heute nicht beendet ist, wenn man bedenkt, dass Versicherungen und Renten Frauen immer noch ungleich behandeln. (Das Wort vom Langen Marsch geht auf Maos Guerillakrieg gegen die chinesische Regierung anno 1949 zurück.)

|Authentizität|

Wo dickleibige Welt-Chroniken und die Wikipedia gehalten sind, größtmögliche Objektivität der Darstellung zu wahren – in den Jahrgangsbänden ist sie zugelassen, aber nicht immer erwünscht. Der Eindruck der Authentizität wird nicht von Fakten erzeugt, auch nicht von durch „Experten“ bewerteten Informationen, sondern von erlebtem Wissen, von Erfahrungen. Dieser Aspekt sowie der persönliche Blickwinkel sind die großen Stärken der Jahrgangsbände. Walter Kempowski, der große deutsche Chronist der Kriegsgeneration (Echolot-Projekt) würde sich bestimmt darüber freuen.

_Unterm Strich_

Die Frankfurter Vorlesungen des Schriftstellers Paul Nizon mit dem Titel „Am Schreiben gehen“ haben bei der Autorin nach eigenen Angaben als Initialzündung gewirkt. „Seitdem gehe ich am Schreiben, wie Paul Nizon sagt.“ Schreiben ist „matière“, die sie schreibend befestigen müsse, damit etwas stehe, auf dem sie stehen könne. „Ich bilde mich ab im Schreiben und vergegenwärtige mich darin. So bekomme ich mein Leben in den Griff, Stück für Stück.“

Das vorliegende Buch bedeutet biografisches Schreiben im besten, weil gebrauchsfertigen Sinne. Alle Erinnerungs-Stücke sind häppchenweise angerichtet und aufbereitet, auf dass sie ein Gesamtbild ergeben mögen. Doch was heißt schon „gesamt“? Man kann sehr vieles ausblenden, um schließlich, wie vom Verlag verlangt, eine „nostalgische Reise“ zu gestalten. Zum Glück wird aber sehr wenig verschwiegen, weder der zunehmende Terrorismus (Textkasten) noch der Vietnamkrieg (zwei Chronikmeldungen von 1965 und 1969). Und von einem Zahlenkrieg kann erst recht nicht die Rede sein, denn erstens sind Statistiken langweilig und zweitens muss man sie meist selbst fälschen, um etwas zu belegen – das muss nun wirklich nicht sein.

Unterm Strich bleibt ein lebendig erzähltes und illustriertes Geschichtsbuch, das durch die persönliche Sichtweise der Erzählerin ein hohes Maß von Authentizität erreicht. Es eignet sich als persönlich gemeintes Geschenk zu allen möglichen Jubiläen.

Nach Verlagsangaben hat die Reihe großen Erfolg und kann Ende 2006 bereits 44 Bände vorweisen, zu denen anno 2007 acht weitere hinzukommen sollen.

|Mehr Informationen über die Autorin und ihr Werk findet ihr im [Interview]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=78 vom Juni 2007.|