Wells, H. G. – Von kommenden Tagen. Zukunfts-Romanze

Kühne Visionen, platte Handlung, verfehltes Ziel

Die Welt im Jahr 2100 ist nicht für alle von strahlendem Glanz. Ein junges Paar mit hohen Idealen versucht auszusteigen, scheitert, fällt sozial auf die niederste Stufe und wird wundersam gerettet.

Das Titelbild zeigt, wie alle Romane dieser Wells-Reihe beim |dtv|, ein Motiv, das H. R. Giger, der Alien-Schöpfer, anfertigte: eine biomechanische Frau aus dem Jahr 1974. Ein ähnliches Motiv findet sich auf der LP „Brain Salad Surgery“ von der Band Emerson, Lake & Palmer, auch aus dieser Zeit.

Der Autor

Herbert George Wells (1866-1946) beeinflusste die Entwicklung der Science-Fiction wie neben ihm nur noch Jules Verne. Seitdem er die Lehren von T. H. Huxley, einem eifrigen Verfechter von Charles Darwins Evolutionstheorie, gehört hatte, verfolgte er diese Theorien weiter. Weil ihm die Lehrerlaufbahn wegen angegriffener Gesundheit verwehrt blieb, wandte er sich dem Schreiben zu, um Geld zu verdienen. Schon die ersten Erzählungen wie „The Chronic Argonauts“, die 1888 erschien, erregten Aufsehen. Daraus formte er dann das berühmte Buch [„The Time Machine“, 1414 das 1895 erschien. Joseph Conrad und Henry James, die besten Autoren ihrer Zeit, hießen ihn in ihren Reihen willkommen.

Weniger später erschienen weitere Klassiker wie „The War of the Worlds“, „The First Men in the Moon“, „The Island of Dr. Moreau“, „The War in the Air“ und „The Shape of Things to Come“. Aber er schrieb auch viele Romane der Mainstream-Literatur („Tono-Bungay“) sowie eine sehr pessimistische Studie der Zukunft des Menschen: „The Mind at the End of the Tether“.

Handlung

Wie jede anständige Romanze beginnt die Geschichte mit einem Unglück. Man schreibt das 22. Jahrhundert und hat das Zeitalter der Entbehrungen angeblich weit hinter sich zurückgelassen. In London leben mittlerweile 30 Millionen Menschen – und es geht ihnen gut.

Mr. Mwres (= Morris) geht es keineswegs gut und deshalb konsultiert er einen sehr nützlichen Menschen: einen Hypnotiseur. Die Wissenschaft der Hypnose hat sich gewaltig weiterentwickelt: Man kann heute sogar ganze Spielfilme und Romanzen miterleben – allein durch die Induktion der Hypnose. Und hinterher erinnert man sich an alles. Und wenn man vergessen will, ist so eine Hypnose natürlich ebenso nützlich.

Mr. Mwres bittet den Hypnotiseur, seiner Tochter Elizabeo (= Elizabeth) diese schwärmerische Liebe zu dem nicht standesgemäßen Hilfsarbeiter Denton aus dem Gedächtnis zu löschen. Sie soll den standesgemäßen, aber abgrundhässlichen Mr. Bindon heiraten. Gesagt, getan. Mr. Denton wartet eine Woche vergeblich auf seine Angebetete, bevor er sich verzweifelt Suche nach ihr macht. Er findet sie in einem Restaurant, spricht sie auf der Rollstraße an: kein Erkennen.

Seine Verzweiflung wird dadurch keineswegs kleiner, und so sucht er eben jenen Hypnotiseur auf, um sich Elizabeth aus der Erinnerung löschen zu lassen. Sein Erstaunen ist groß, als dieser Mann Elizabeth kennt. Ein atavistischer Ringkampf macht dem Hypnotiseur klar, was er zu tun. Als sich die Geliebte wieder an ihn erinnert, beschließt Denton, mit ihr aus dieser schrecklichen Gesellschaft zu fliehen, um sie nicht noch einmal zu verlieren. Kann man verstehen. Ist aber schwierig.

Doch die Welt auf dem Lande hat sich in 200 Jahren radikal verändert: Dort draußen gibt es weder Dörfer noch Städte mehr – insgesamt hat England nur noch vier Mega-Cities, und die sind alle überdacht und vollklimatisiert. Als das nunmehr verheiratete Paar Denton und Elizabeth seinem romantischen Traum von Freiheit unterm Himmelszelt folgt, entdecken sie den Verfall und die wilde Natur. Ein Schäfer zeigt ihnen ein Haus, das noch ein Dach hat. Das brauchen sie auch beim ersten Gewitter, das über sie hereinbricht. Schon nach einer Woche fallen die verwilderten Hunde das Paar an. Sie beschließen reumütig, in die Stadt zurückzukehren.

Sie haben zwar ein bisschen Geld und bald auch eine kleine Tochter, aber Denton muss einen Job annehmen: als Hutverkäufer in den Innenstadt. Da er gefeuert wird, müssen sie schweren Herzens ihre Tochter in die Kinderkrippe geben und einen Sklavenjob annehmen, den ihnen jeweils die Arbeitsgesellschaft zuweist. Auf dieser – auch räumlich – untersten sozialen Stufe erweist sich, ob sie überlebensfähig sind.

Mein Eindruck

Für mich ist dies einer der schwächsten Romane, die ich je von Wells gelesen habe. Offensichtlich versuchte Wells 1899 eine Vision des 22. Jahrhunderts zu entwerfen, und die gelang ihm auch ganz gut. Man kann dies an den zahlreichen essayhaften Passagen erkennen, die er fast jedem einzelnen seiner fünf Kapitel voranstellt.

Doch dann muss er sich selbst wieder zur Ordnung rufen, um uns etwas über zwei junge Menschen zu verklickern, deren Schicksal uns nicht die Bohne interessiert. Von Spannung, wie sie der Klappentext verspricht, kann keine Rede sein. Denn es handelt sich bei Elizabeth Mwres und Denton nur um die Ideen von Menschen, nicht um individuelle Studien. Dabei ist Elizabeth noch deutlicher mit Eigenschaften ausgestattet als Denton, dessen Name sowohl futuristischer Vorname als auch ganz normaler Nachname sein kann.

Beide haben den Segnungen ihrer Zeit geistig den Rücken gekehrt, sie durch ihre Obsession mit historischen Romanzen des 19. Jahrhunderts – also aus der Zeit von Wells’ Leser – und er mit seinen Gedichten über die Sterne und die Ferne. Dass sie nicht systemkonform sind, ist schon mal eine wichtige Voraussetzung, um sie für uns bzw. die Viktorianer überhaupt von Interesse sein zu lassen. Es ist, als hätte man zwei Viktorianer der oberen Mittelschicht ins 22. Jahrhundert katapultiert. Sie sind sozusagen Platzhalter oder Stellvertreter und nehmen am Experiment der zukünftigen Zivilisation nolens volens teil.

Schöne neue Welt

Die Voraussetzungen für ihr Wohlergehen sind gut. London, dieser Moloch von 33 Millionen Einwohnern, ist komplett durchorganisiert und modernisiert. Es sieht ganz so aus, als sei die Themsemetropole immer noch das Haupt eines Empire, denn es ist die Rede von vielen verschiedenen Religionen und Trachten. Die Straßen sind nicht von Autos verstopft, sondern gestaffelte Förderbänder – Rollstraßen – befördern die Passagiere beinahe gratis. Allenthalben ist der Passant dem Zugriff der Werbung ausgesetzt, die in vielfältigen Formen über ihn hereinbricht. Weltreisende schweben mit Flugzeugen auf den riesigen Plattformen ein, die über den Dächern der Vororte als Flugplätze dienen.

Die Kanalisation ist ebenso wohlorganisiert wie die Sozialarbeit. Wie schon erwähnt, verwaltet eine Arbeitsgesellschaft alle Menschen, die ihre Miete nicht bezahlen können – wie unser Paar – oder die hoch verschuldet sind oder einfach keine angesehene Arbeit finden können oder wollen. So etwas wie Elendsviertel gibt es demnach nicht mehr: Sie liegen tief unter der Erdoberfläche, in den Katakomben. Dort landet Denton, um stupide Maschinen in der Fotografie und dann in der Ziegelherstellung zu bedienen.

Die Unterwelt

Hier herrscht die Arbeiterklasse, und zwar nach ganz anderen Regeln als die besitzende Klasse, die an der Oberfläche lebt. In seinem Roman [„Die Zeitmaschine“ 578 hat der Autor diese Zweiteilung demonstriert: die nicht arbeitenden, dem Vergnügen verfallenen Eloi an der Oberfläche, und unter Tage arbeiten die wilden, hässlichen Morlocks. Doch in der Nacht holen sich Jagdgruppen der Morlocks einen saftigen Eloi zum Frühstück.

Dass die Arbeiter gewalttätig sind und nur das Faustrecht hier unten gilt, muss Denton schon bald verstört feststellen. Aber bis er kapiert und akzeptiert, was von ihm verlangt wird, dauert es noch eine Weile. Und was aus ihm dann geworden ist, als er als Mann akzeptiert wird, das kann wiederum seine Frau nicht hinnehmen: diese Verrohung usw.

Sein und Bewusstsein

Sie selbst hat einen der stupidesten Jobs annehmen müssen, die man sich vorstellen kann: Dellen in Messingplatten hauen. Die Dellen ergeben Muster, und die gemusterten Messingplatten fungieren als Tapeten in den Wohnungen der Reichen. Klar, dass sie aus ihrem Arbeitssklaven-Matratzenlager und dem blauen Drillich-Overall so schnell wie möglich wieder raus will. Sie sind schlichtweg unvereinbar mit historischen Romanzen. Ihr Bewusstsein weigert sich, das Sein anzuerkennen, so wie es Denton mühsam gelungen ist.

Der allgemeine Verrat der Zivilisation

Was der Autor an ihr beispielhaft demonstrieren will, ist die Tatsache, dass die überentwickelte Zivilisation grundsätzlich immer ihre Bewohner verrät. Das Versprechen, für jeden nach seinem Bedürfnis zu sorgen, ist eine Lüge. Diese Lüge, so wird uns gezeigt, macht sowohl die Armen wie unser Paar zu Opfern als auch – und das ist bemerkenswerter – die sehr Reichen.

Wie erwähnt, soll Elizabeth nach dem Willen ihres Vaters einen Mr. Bindon heiraten. Dieser vierzig Jahre junge Mann hat es durch erfolgreiche Kapitalspekulationen zu etwas gebracht und war daher in der Lage, sich diversen Perversionen und Lastern hinzugeben, von gutem Essen ganz zu schweigen. Elizabeth wäre nur ein weiteres Souvenir in seiner Sammlung, aber er will sie dennoch unbedingt besitzen.

Er steht kurz davor, ihre Zustimmung durch Manipulation ihres Vaters und diverse Überredungsmöglichkeiten zu erlangen, als ihn eine Hiobsbotschaft anderen Sinnes werden lässt. Er habe offenbar eine tödliche Krankheit, vermutlich Leberkrebs, und nur noch wenige Tage zu leben, sagen ihm die Ärzte knallhart. Da hilft ihm auch sein Isis-Priester nichts, und nur wissenschaftlich erzeugte Pillen lindern seinen Schmerz. Die Zivilisation wird ihm also ebenso zum Verderben, denn er hat ihre Möglichkeiten maßlos ausgenutzt. Der Weg, der sowohl Wohlstand als auch Gesundheit gewährleistet, muss also irgendwo in der Mitte liegen.

Deus ex Machina

Doch was tun mit seinem verpfuschten Leben? Als Junggeselle kann Mr. Bildon weder Kinder noch Frau beglücken, doch wem könnte er sonst etwas Gutes tun? Sein perfider Plan besteht darin, Elizabeth für immer gegen ihren Willen ihm zu Dank zu verpflichten: Er setzt sie als (beinahe) Alleinerbin ein. Das erlöst natürlich unser Heldenpärchen aus seiner Not und führt alles zu einem guten Ende. 160 Meter über der Straße lässt sich das Schicksal dann wieder recht gut ertragen.

Die Viktorianer fanden dieses Happy-End sicherlich zufrieden stellend, passt es doch – auch moralisch – wunderbar zu einer Romanze wie dieser. Doch mir stößt dieser Schluss mit einem aus der Versenkung auftauchenden Deus ex Machina sauer auf. Genauso gut hätte Wells ja auch einen reichen Onkel vom Olymp herabsteigen lassen können, oder woher auch immer. Hier opfert der Visionär seine Glaubwürdigkeit schnöden Genrekonventionen.

Die Übersetzung

Die Übersetzung bereitete mir ebenfalls keine Freude. Sie stammt wohl noch aus den fünfziger Jahren oder noch früher. Der Stil ist zwar gut, aber die Wortwahl veraltet und geschraubt. Beispiel von Seite 133: „Es kam ihm in den Sinn, dass er nie das Herz vor sich her getragen hatte.“ Das sollte man natürlich nicht wörtlich verstehen. Aber auch wenn dieser Satz eine Bedeutung im übertragenen Sinn haben sollte, so ist diese uns doch schon lange nicht mehr geläufig. Die Bedeutung muss wohl etwas wie „mitfühlend, edelmütig, großzügig“ oder dergleichen mehr sein.

Das Fehlen von Glossareinträgen und erklärenden Fußnoten macht sich zuweilen störend bemerkbar. Da ist beispielsweise auf Seite 137 die Rede von einer gewissen Uya. Diese Lady hatte irgendwelche Kinder. Vielleicht im Alten Testament? Aber warum dann in England? Dieses Namensrätsel steht auf einer Stufe mit Boadicea. Doch diese kühne Dame kennt wenigstens jeder halbwegs patriotische Engländer als keltische Rebellenführerin gegen die römischen Invasoren.

Wer mögen dann aber der berühmte „Blowitz“ und das Restaurant „Jago“ sein, in das man als Mann von Stand besser nicht geht? Solche Rätsel gehören gefälligst aufgeklärt. Deshalb ist diese Ausgabe einfach ungenügend. Der Reclam-Verlag hätte mit Sicherheit eine bessere Ausgabe zustande gebracht.

Unterm Strich

Dieses Buch hat nur einen Vorzug, aber eine Menge Nachteile. Wie schon Jules Verne in seinem lange verschollenen Roman „Paris im 20. Jahrhundert“, so entwirft auch Wells eine höchst interessante Vision zu einem London des Jahres 2100. Flugplätze, Rollstraßen, Werbung und vieles mehr gehören zu den extrapolierten Errungenschaften.

Aber da Wells auch eine gesellschaftliche Vision hatte (die u. a. von Thomas Huxley beeinflusst war), entwirft er auch eine Reihe von sozialen und ökonomischen Institutionen, die sicher für so manchen Volkswirtschaftler von Interesse wären. Massenverelendung und –zwangsarbeit: Man dachte, das wären Themen für Faschisten und Kommunisten. Aber auch Wells stellt sie zur Diskussion.

So weit die Vorzüge. Die Handlung ist relativ platt, vorhersehbar und uninteressant, teils weil die Hauptfiguren nur Platzhalter und keine Individuen sind, teils weil dieser Werdegang schon x-mal durchexerziert wurde. Wer dem Klappentext glaubt und auf ein wildromantisches Aussteigerabenteuer in freier Natur à la „Walden“ hofft, wird schwer enttäuscht.

Die Übersetzung – siehe oben – ist veraltet, nicht nur in ihrer Ausdrucksweise, sondern auch in den fehlenden Fußnoten und einem durch Abwesenheit glänzenden Glossar. |Reclam| hätte es besser gemacht, da bin ich sicher. Und zu einem günstigeren Preis.

|Originaltitel: A Story Of the Days To Come, 1899/1933
Aus dem Englischen von Liesl Nürenberger-Körbler & Andreas Ch. Körbler
140 Seiten|