Wilks, Mike – Mirrorscape – Gefangen im Reich der Bilder

_Eigentlich ist es eine trostlose Welt_, in welcher der junge Melkin Womper lebt. Die Gilden kontrollieren im Land Nem so ziemlich alles, was irgendwie von Wert ist, und so muss der Sohn einer einfachen Weberfamilie in der Provinz sich damit begnügen, sich aus Ruß und Wasser selbst Tusche zu mixen, um seiner Leidenschaft nachgehen zu können: dem Zeichnen. Mel ist äußerst talentiert, und weil das auch sein Mentor Fra Theum erkannt hat, bekommt Mels Familie eines Tages Besuch von einem Boten aus der fernen Hauptstadt, der Mel gerne als Lehrling für die berühmte Künstlerwerkstatt von Ambrosius Blenk anwerben möchte.

Mel kann sein Glück kaum fassen, und ehe er sich versieht, tritt er im Hause Blenk auch schon seine Lehrstelle an. Als jüngster Lehrling und Provinzler hat er es nicht leicht. Er bekommt immer die unangenehmsten Arbeiten zugeschoben und wird von Oberlehrling Groot pausenlos schikaniert. Die einzigen Freunde, die er findet, sind sein Lehrlingskollege Ludo und das Küchenmädchen Wren.

Zu dritt erkunden sie häufig die verborgenen Dienstbotengänge der alten Schule und beobachten dabei eines Tages, wie ihr Meister Ambrosius Blenk in einem Gemälde verschwindet. Offenbar sind die Bilder Portale in eine andere Welt. Ludo, Wren und Mel sind höchst fasziniert und machen sich daran, die Welt hinter den Leinwänden auf eigene Faust zu erkunden. Das entpuppt sich schon bald als gefährliches Unterfangen, denn sie begegnen dort den unheimlichsten Kreaturen.

Auch die Schergen der machtgierigen Gilden scheinen ihre Finger schon bis nach Mirrorscape, die Welt hinter den Bildern, auszustrecken. Als sie eines Tages Ambrosius Blenk entführen, um Mirrorscape in ihre Gewalt zu bringen, liegt es an Mel, Ludo und Wren, ihrem Meister zur Seite zu stehen. Doch alleine sind auch sie machtlos. Sie können nur auf die Hilfe der Rebellen hoffen, die sich tief unter der Stadt vor den Häschern der Gilde versteckt halten. Mel, Ludo und Wren stehen vor dem größten und gefährlichsten Abenteuer ihres Lebens …

_Es ist eine höchst eigenwillige Welt_, die Autor und Illustrator Mike Wilks mit „Mirrorscape – Gefangen im Reich der Bilder“ entworfen hat. Man kann ein Gemälde betreten und die komplexe Welt, die sich hinter der Leinwand verbirgt, erkunden. Was den Protagonisten dort alles begegnet, zeugt von der unbändigen Fantasie des Autors. Die seltsamsten Kreaturen tummeln sich dort und die eigenartigsten Dinge passieren. Es gibt schaurige Ungeheuer, monströse Welten, in denen einem die Zeit Streiche spielt, lebende Häuser und noch vieles mehr.

Mike Wilks hat sich in seinem künstlerischen Schaffen durchaus schon einen Namen als Illustrator surrealer Traumwelten gemacht. Seine Bilder haben es unter anderem schon bis ins |Museum of Modern Art| in New York und ins |Victoria and Albert Museum| in London geschafft.

Diesem Anspruch wird er auch mit seinem bislang ersten Roman gerecht. „Mirrorscape“ ist ein Ort, der vor Fantasie nur so strotzt, und Wilks zeigt dabei, dass er seine fantastischen Ideen eben nicht nur mittels Bildern greifbar machen kann, sondern auch mit Worten. Das ist einerseits ganz schön, denn so bleibt es dem Leser überlassen, sich ein eigenes Bild von „Mirrorscape“ zu machen, andererseits wären Illustrationen sicherlich eine sehr schöne Ergänzung der Geschichte gewesen. So muss sich der Leser mit einigen wenigen Zeichnungen am Anfang des Buches begnügen. Schade eigentlich.

Wilks schafft es aber nicht nur, die Welt hinter den Bildern sehr fantasievoll anzulegen, auch das Land Nem, die reale Welt, braucht sich nicht hinter den Fantasiewelten zu verstecken. Jede Gilde kontrolliert in Nem einen der fünf Sinne. Farbpigmente sind dabei das Kostbarste, was es gibt, und so kontrolliert die fünfte Gilde dieses wertvolle Gut und hat sich damit zur mächtigsten Institution im Land aufgeschwungen. Farben verwenden darf nur, wer sich die entsprechenden Pläsiere leisten kann und dadurch eine Legitimation erwirbt. Und so sind Kunst und bunte Kleider eben ein purer Luxus, von dem Mel in seinem bisherigen Leben in der Provinz nur träumen konnte. Auch die reale Welt von Nem bringt einige skurrile Eigenarten mit sich, wie die von Menschenkraft betriebenen Straßenbahnen und die Sklaven auf der Insel Kig, die vom Abbau der kostbaren Farbpigmente mit der Zeit eine farbige Haut bekommen. Nem ist für den Leser ein ähnlich skurriler Ort wie Mirrorscape.

Klingt also nach den Zutaten eines lesenswerten fantastischen Romans, dennoch muss man der Geschichte eine nicht geringe Schwäche ankreiden. Wilks Fantasie zeichnet den Roman aus, erzählerisch weist er aber so einige Schwachpunkte auf. Dass die Figurenskizzierung eher oberflächlich bleibt, ist sicherlich nicht verwunderlich, da es sich schließlich um ein Jugendbuch handelt. Dass man aber mit der Zeit mit Mel nicht mehr so richtig mitfiebert, weil er einfach zu souverän jedes eigentlich lebensgefährliche Abenteuer in Mirrorscape besteht, ist dann doch ein wirklicher Makel.

Als Mel zusammen mit Ludo durch eine Leinwand tritt, sieht es erst noch ganz vielversprechend aus. Die beiden werden von sonderbaren Kreaturen bedroht – eine Begegnung, die Ludo beinahe das Leben kostet. Mel schafft es nur mit Mühe und Not, seinen Freund zu retten. Doch schon beim nächsten Besuch in Mirrorscape mutiert Mel dann zum Überflieger. Er stellt sich jeder Herausforderung, und nichts kann ihn aufhalten. Kein Bösewicht ist zu mächtig, keine Gefahr zu groß. Das drückt im Laufe des Romans, der sich ab etwa der Hälfte größtenteils in Mirrorscape abspielt, dann doch ziemlich die Spannung.

Sprachlich ist das Ganze recht einfach und kindgerecht gehalten. Für die jüngeren Leser dürften manche Stellen des Buches aber ziemlich harter Tobak sein. Wie schon Wilks Illustrationen, die oft einen beunruhigenden, düsteren Einschlag haben, so ist auch der Roman teils düster und sogar gruselig. Für all zu zartbesaitete Gemüter also vielleicht nicht ganz die passende Lektüre.

_Bleiben unterm Strich_ gemischte Gefühle zurück. Zwar fasziniert Wilks mit seinen fantastischen Ideen und seiner bizarren Welt, dennoch offenbart er aber vor allem mit Blick auf den Spannungsbogen erzählerische Schwächen. Zwar strebt der Spannungsbogen kontinuierlich aufwärts, aber er wird durch die Souveränität, mit der Protagonist Mel von einem brenzligen Abenteuer zum nächsten wandert, ziemlich untergraben. So geht leider einiges an Potenzial verloren, aber wer weiß, vielleicht gelingt es Wilks ja schon mit dem nächsten Band, wieder einiges an Boden gut zu machen – schließlich ist „Mirrorscape“ als Trilogie angelegt.

|Originaltitel: Mirrorscape
446 Seiten, gebunden
Einbandgestaltung von David B. Hauptmann
Mit Vignetten von Mike Wilks
Aus dem Englischen von Bettina Münch
Empfohlen ab 12 Jahren
ISBN-13: 978-3-7891-5125-5|
http://www.oetinger.de

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