Robert Charles Wilson – Julian Comstock. Zukunftsroman

Was wäre, wenn in den USA ein neuer Bürgerkrieg ausbricht … Infolge einer Wirtschaftskrise greift eine religiöse Clique nach der Macht in Washington – mit verheerenden Konsequenzen: Das Land versinkt in einem Bürgerkrieg, der auf frappierende Weise an den letzten erinnert. Und inmitten der Wirren dieses Krieges findet sich Julian Comstock wieder, Held wider Willen und möglicher Schlüssel für eine neue Art der Zivilisation … (Verlagsinfo)

Der Autor

Obwohl Robert Charles Wilson 1953 in Kalifornien geboren wurde, lebt er seit vielen Jahrzehnten in Kanada. Als SF-Autor wurde er bereits 1975 erstmals veröffentlicht; sein Debüt, die Kurzgeschichte „Equinocturne“, zeichnete er als „Bob Chuck Wilson“.

Weitere Storys und 1986 „A Hidden Place“, Wilsons erster Roman, folgten. Aufgrund seiner originellen Plots, der sorgfältigen Figurenzeichnung sowie eines ebenso anspruchsvollen wie lesbaren Stils erfreuten sich dieser und Wilsons nächste Romane steigernder Beliebtheit bei den Lesern. Dass die Kritiker ebenso begeistert waren, verdeutlicht ein wahrer Preisregen, der sich über Wilson bzw. seine Werke ergoss.

Website: http://www.robertcharleswilson.com

Das geschieht:

In der zweiten Hälfte des 23. Jahrhunderts ist die Erinnerung an den Untergang der ‚alten‘ Zivilisation nur noch schwach. Nachdem die Erdölreserven ausgeschöpft waren, brach die Hightech-Welt der Ahnen zusammen. Die meisten Menschen starben in den sich anschließenden Wirren der „Großen Drangsal“. Nur Ruinen sind von den gewaltigen Städten dieser Epoche geblieben. Politisch, technisch und kulturell ist das 19. Jahrhundert zurückgekehrt.

Die USA haben überlebt, aber Präsident Deklan Comstock ist ein Diktator, der sich durch Gewalt und Intrigen an der Macht hält. An seiner Seite weiß er nicht nur Wirtschaftsmagnaten und Kriegsgewinnler, sondern mit dem „Dominion“ auch die Kirche seines Reiches, die sich zu einem mächtigen weltlichen Instrument entwickelt hat, das die geistige Freiheit der US-Bürger einer strengen und restriktiven Kontrolle unterwirft. Die Landkarte Nordamerikas hat sich verändert. Im Süden droht die Invasion durch ein erstarktes Brasilien, während sich im ehemaligen Kanada die Truppen eines vereinigten Mitteleuropas unter deutscher Dominanz eingenistet haben. Der Krieg tobt seit vielen Jahren, und die Invasoren gewinnen langsam die Übermacht.

Seinen Bruder, den im Volk beliebten Kriegshelden Bryce Comstock, hat Deklan ermorden lassen. Julian, Bryces einzigen Sohn, konnte seine Mutter in einer abgelegenen Landstadt in Sicherheit bringen. Aber der junge Mann ist ein Comstock. In ihm stecken große Fähigkeiten und der Wille zur Macht. Obwohl er stets auf die Meuchler seines Onkels gefasst sein muss, beginnt Julian, unterstützt durch treue Freunde, dem Tyrannen Widerstand zu leisten. Sein Traum ist ein Land, in dem Gerechtigkeit, Gedankenfreiheit und die Rückkehr der Wissenschaften Realität werden …

Alles wiederholt sich

|“Those who cannot remember the past are condemned to repeat it„|, formulierte der Philosoph und Schriftsteller George Santayana (1862-1952) eine seitdem oft zitierte Weisheit, die übersetzt so lautet: |“Wer die Geschichte nicht kennt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.“| (Angesichts des hohen Alters, das er erreichen durfte, sollte der gute Mann wissen, wovon er sprach …) Auf jeden Fall wirkt „Julian Comstock“, Robert Charles Wilsons Monumental-Werk von 2009, wie eine Bestätigung von Santayanas Aussage. Dass es ihm nicht gar zu ernst damit ist, zeigt uns der Autor, indem er diesen Ansatz ironisch in Frage stellt; so werden die Müllkippen der Vergangenheit, in denen die Schatzsucher der (zukünftigen) Gegenwart wühlen, im Volksmund „Eebay“ genannt (S. 16).

Für Wilson begann die literarische Reise in eine unheilvoll vertraute Zukunft 2006 mit der Erzählung „Julian: A Christmas Story“. Der Verfasser erkannte das Potenzial seiner Geschichte und entwickelte sie zu einem (in deutscher Ausgabe) fast 700-seitigen Epos vom Versuch des Aufbruchs in eine neue, bessere Ära.

Wie schlimm könnte es kommen?

Wie tief würde die Menschheit nach einem allzu abrupten Ende der ‚Erdöl-Zivilisation‘ herabsinken? Als die Apokalypse in der Science-Fiction noch atomar verursacht wurde, bedeutete dies in der Regel einen Neustart in der Steinzeit. Ganz so weit geht Wilson nicht. Die Erde selbst wurde nicht in Stücke gerissen und bot Ressourcen und Raum für einen Neubeginn.

Der Autor setzt nunmehr voraus, dass diejenigen, die im 21. Jahrhundert über die notwendigen politischen und wirtschaftlichen Mittel verfügten, sich frühzeitig auf die Katastrophe vorbereiten und sie überstehen konnten, um sich anschließend ihre Führungspositionen zu zementieren. Dies schloss die einseitige Ausrottung des Solidaritätsgedankens ein. Seit jeher beschweren sich die Reichen und Mächtigen über die Dreistigkeit jener, die für sie arbeiten und trotzdem nicht willens sind, sich den Weisungen ihrer Gönner und Geldgeber zu fügen. Wer nicht in ihren Diensten steht und in Not geraten ist, verschuldet dieses Schicksal durch persönliche Unfähigkeit und verdient keine Unterstützung. Auch „Mitbestimmung“ gehört zu den Reizwörtern, die zusammen mit denen, die ihre Verwirklichung betreiben, ausgerottet gehören.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts stellte eine Epoche dar, in der solche Rücksichtslosigkeit Realität war. Nach Jahrtausenden des Handwerks und der Manufaktur begann das Zeitalter der Industrialisierung. In riesigen Fabriken verdingten sich zahlreiche Menschen als Arbeiter. Sie schufteten ohne Arbeits- und Versicherungsschutz für den Fabrikbesitzer, der den auf diese Weise gescheffelten Reichtum als gerechten Lohn für seine Investition betrachtete und keinen Grund sah, ihn zu teilen. Die Bewahrung des status quo wurde für die Nutznießer dieses Systems zur absoluten Notwendigkeit.

Der Rattenschwanz der Nutznießer

Den brutalen Kapitalismus dieser Ära sieht Wilson in seiner fiktiven Zukunft nicht einfach zurückkehren. Er postuliert stattdessen seine stetige Präsenz. Vor der „Großen Drangsal“ bestand eine Pattsituation. Große Konzerne hatten die Industrie-Raubritter der Vergangenheit ersetzt. Sie mussten sich an Regeln halten, die ihre Arbeitnehmer schützen und sichern sollten, bemühten sich jedoch unablässig, diese auszuhöhlen und abzuschaffen. Die Notsituation der „Drangsal“ bot ihnen den ersehnten Hebel dafür.

Davon profitieren konnten auch die fundamentalistischen Kräfte der Gesellschaft. In „Julian Comstock“ haben sich die Scheinheiligen der etablierten christlichen Kirchen zusammengetan und mit dem „Dominion“ eine neue Inquisition geschaffen, die ihnen im Bund mit dem sich selbst etablierenden ’neuen‘ Adel die Durchsetzung ihrer bigotten Ziele gestattet. Nachfolgende Generationen werden bereits im Kindesalter indoktriniert.

Wilsons Prognose ist düster. Die alten Methoden der Volksverdummung funktionieren mit zeitloser Präzision. Das System hält eine breite Masse von Arbeitern und Bauern absichtlich ungebildet, um jeglichen Widerstand von vornherein zu ersticken. Diese kollektive Unwissenheit müsste nicht sein, da das Wissen der Vergangenheit keineswegs verloren ist, sondern nach und nach wiederentdeckt wurde. Es wird den meisten Menschen jedoch vorsätzlich vorenthalten.

Jeder Aktion folgt eine Reaktion

Irgendwann beginnt das Pendel zurückzuschwingen. Wilson beschreibt eine USA, deren Bürger sich nicht mehr jede Willkür gefallen lassen. Julian Comstock wird zum Fackelträger jener Zeitgenossen, die genug haben von den Zwangsmaßnahmen der Regierung und ihrer Steigbügelhalter.

Freilich ist dies keine Garantie für das Gelingen einer Revolution. Zwar sieht es lange so aus, als könne Julian Comstock das Ruder herumreißen und eine neue, freie Ära einläuten. Doch Wilson ist Realist. (Außerdem ist das Scheitern einer Revolution viel interessanter als ihr Gelingen …) Er verleugnet nicht die Beharrungskräfte einer Gesellschaft, die sich in ihrer Mehrheit an die Verhältnisse gewöhnt hat und an einer vehementen Veränderung gar nicht interessiert ist. Zudem ist Julian Comstock kein Messias, sondern ein Idealist mit gewissen charakterlichen Defiziten, die zu seinem Scheitern entscheidend beitragen. Aber der Keim ist gelegt, und er lässt sich nicht mehr ausrotten. Mit dieser versöhnlichen Erkenntnis klingt „Julian Comstock“ aus.

Bilderbogen und Bildungsroman

„Julian Comstock“ ist ein spannendes Werk mit vielen Höhepunkten, das sich wunderbar liest. Andererseits und offenbar vor allem ist dieses Buch das perfekte Spiegelbild eines „Coming of age“- oder Entwicklungs-Romans, wie er im 19. Jahrhundert beliebt und verbreitet war. Julian Comstock und seine Gefährten werden zu exemplarischen Zeitzeugen, die sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzen und sie kommentieren. Vor allem Julians Biograf Adam Hazzard wächst vom tumb gehaltenen Bauernsohn zum wachen, reifen und gedankenfreien Mann heran – ein Sam Gambschie an der Seite Julian „Frodo“ Comstocks. Adam ist die eigentliche Zentralfigur, während Julians Persönlichkeit sich vergleichsweise wenig ändert.

Comstock ist der geborene Anführer und Held, der sich einem angeblich daraus resultierenden Schicksal nicht entziehen kann. Als solcher ist er ziemlich langweilig. Im Gefecht wirft sich Julian unerschrocken zwischen die Kugeln des Gegners, die ihn – auch das zeichnet den von Gott zu Höherem bestimmten Menschen aus – wie durch ein Wunder verfehlen oder höchstens verwunden (was wiederum eine eigene Botschaft bedeutet). Befiehlt er selbst die Attacke, sorgt er sich um seine Mannen und gibt sich bleich und attraktiv zermürbt die Schuld an ihrem Tod. Julian weiß alles, kann alles, streitet aufrecht mit feisten „Dominion“-Pfaffen, stellt sich unfähigen Militärs in den Weg und steigt unaufhörlich die Erfolgsleiter empor, obwohl er sich dagegen sträubt: Ein Held wie er kann wie gesagt seinem Schicksal nicht entfliehen.

Erst allmählich zeigt Hazzard die Risse in Comstocks hochglanzpolierter Oberfläche. Hier mag man Wilson nicht so recht folgen. Was der Autor vermutlich zeigen möchte, ist die Korruption der Macht, die selbst den glühendsten Idealisten nicht verschont. Doch zu abrupt ist Julians Wandlung zum Eiferer mit durchaus eigenen tyrannischen Zügen.

Eine schöne Geschichte, ganz sicher nicht mehr

Bis es so seit ist, rollt Autor Wilson ein detailreiches Drama ab, das „Science-Fiction“ zu nennen der Rezensent sich etwas sträubt. Die Voraussetzungen stimmen immerhin; „Julian Comstock“ spielt in der Zukunft, und die geschilderten ‚Fakten‘ tragen dem jederzeit Rechnung. Vielleicht sortiert man dieses Buch deshalb zwar in den SF-Buchschrank, aber dort in die „Steampunk“-Schublade ein.

Dabei stellt sich die Frage nach dem Sinn dieser Geschichte. Wilson hat sich mit „Julian Comstock“ so große Mühe gegeben, dass man ihm einfach unterstellt, er habe mehr als die gepflegte Unterhaltung seines Publikums im Sinn. Doch eine hintersinnige Tiefe will sich dem Leser einfach nicht erschließen. Streicht man die relativ wenigen SF-Elemente, wird „Julian Comstock“ zum kompetenten, aber eigentlich unsinnigen Pastiche eines Romans aus dem 19. Jahrhundert. Damals entstanden großartige „Coming of age“-Klassiker wie „Great Expectations“ (von Charles Dickens), „The Adventures of Huckleberry Finn“ (von Mark Twain“) oder „Jude the Obscure“ (von Thomas Hardy). Ein Buch, das sie formal wie inhaltlich imitiert, ist eine hübsche (und in diesem Fall auch in der Übersetzung gelungene) literarische Spielerei.

Auch wenn Wilson ausdrücklich postuliert, dass in Comstocks USA die systemkonformen und moralförderlichen Werke des 19. Jahrhunderts die Grundlage des gesellschaftlichen Wissens bilden, ist von einer exakten Wiederkehr der Vergangenheit schwerlich auszugehen. Was ist an „Julian Comstock“ also „visionär und hochaktuell“, wie auf der Rückseite des Covers ein (wie üblich und klugerweise anonym bleibender) Klappentext-Autor behauptet? Soll damit gesagt werden, dass Deklan Comstocks Amerika eine Parodie auf die USA des (unbestritten ebenso unfähigen) George W. Bush darstellt? Zumindest dieser Rezensent kann dafür keine handfesten Anhaltspunkte erkennen.

Wie die Welt nach dem Erdöl-Zeitalter aussehen wird, kann nur (und ausschließlich) die Zeit zeigen. Dass Wilsons Vision eine Welt darstellt, „die bald unsere sein könnte“, ist deshalb Dummschwurbel. Den Nagel auf den Kopf trifft dagegen ausgerechnet der ebenfalls zitierte Stephen King, dem normalerweise völlig gleichgültig ist, welches Buch er mit (gut bezahltem) Lob bedenkt: |“Robert Charles Wilson ist ein atemberaubend guter Erzähler!“| Mehr muss im Grunde auch gar nicht sein.

Impressum

Originaltitel: Julian Comstock: A Story of 22th Century America (New York : Tor Books 2009)
Übersetzung: Hendrik P. u. Marianne Linckens
Deutsche Erstausgabe: September 2009 (Wilhelm Heyne Verlag/TB Nr. 52566)
670 Seiten
EUR 8,95
ISBN 13: 978-3-453-52566-5
http://www.heyne.de
http://www.heyne-magische-bestseller.de

_Mehr von Robert Charles Wilson auf |Buchwurm.info|:_

[„Axis“ 4914
[„Quarantäne“ 4264
[„Spin“ 2703
[„Die Chronolithen“ 1816
[„Darwinia“ 92
[„Bios“ 89

Schreibe einen Kommentar