Es ist ein altbekanntes Dilemma: Männer mittleren Alters verändern sich nicht mehr!
Diese Behauptung könnte auf Erfahrungswerten beruhen, stammt in diesem Falle aber nicht von mir, sondern ist ein Zitat des Autors Robert Wilson. Und dieser stand somit vor einem Problem: Denn eine glaubwürdige Figur eines Leiters der Mordkommission bedarf einiger (Dienst-)Jahre und einer gewissen Lebenserfahrung – ist somit ein Mann ‚in den besten Jahren‘. Ein interessanter Protagonist jedoch braucht die Chance, sich zu entwickeln, sich von festgefahrenen Gewohnheiten und dem Alltagstrott zu befreien. Um diese komplexe Kernfrage zu lösen und seinem Protagonisten die Möglichkeit eines Neuanfangs zu bieten, ließ Wilson seinen Inspector Jefe Javier Falcón in „Der Blinde von Sevilla“ ein sehr persönliches, traumatisches Ereignis durchleben, das sein gesamtes Selbstbild bis in die Grundfesten erschütterte und einen Nervenzusammenbruch auslöste.
„Der Blinde von Sevilla“ wurde zu einem kleinen Meisterwerk, das sich jedoch vorrangig durch die tragischen Familienverhältnisse und den Seelenstriptease des Protagonisten Falcón auszeichnet. Es ist außergewöhnlich, wie es Wilson gelingt, das Große im Kleinen zu spiegeln – also Weltgeschichte im persönlichen Drama einzufangen. Die Demontage der Persönlichkeit Falcóns, die Zerstörung der übergroßen Vaterfigur, des Künstlers Francisco Falcón, reflektiert die Zerstörungswut und Tragik eines gesamten Jahrhunderts. Dabei tritt jedoch der überaus brisante Fall der eigentlichen Todesermittlung etwas in den Hintergrund, sodass Wilson zwar vollendet, mit großem Anspruch und überaus spannungsvoll das Krimi-Genre erweiterte – seine Aufmerksamkeit aber für meinen Geschmack zu sehr auf seinen gebrochenen Protagonisten richtete.
Im vorliegenden Folgeband „Die Toten von Santa Clara“ begegnet man einem immer noch etwas instabilen Falcón, der sich über die aktuelle Lage seiner Psyche nicht ganz sicher zu sein scheint und der sein ’normales‘ Auftreten tragikomisch auf seinen Tablettenkonsum zurückzuführen weiß. Nichtsdestotrotz scheint Falcóns Selbstbild wieder gefestigter und selbstsicherer, sodass er gleich zu Beginn der Ermittlung einen komplexen Kampf an mehreren Fronten aufnehmen kann.
Zunächst einmal begegnet er Consuelo Jimenéz, einer überaus beeindruckenden Frau, die in „Der Blinde von Sevilla“ eine bedeutende Rolle spielte. Weiterhin trifft er zum ersten Mal nach einem Jahr auf den Staatsanwalt Esteban Calderón, der mit Falcóns Exfrau Inés verbandelt ist und diese Beziehung demnächst vor dem Traualtar legalisieren will. Allein diese beiden Begegnungen bieten genug Zündstoff, um Falcóns aufgewühltes (Innen-)Leben auf Trab zu halten. Aber dann ist da letztlich noch dieser seltsame Todesfall, den die Staatsanwaltschaft allzu rasch als Selbstmord abhaken möchte.
Gerufen wird Falcón in das gepflegte barrio (Vorort) Santa Clara, wo der Bauunternehmer Rafael Vega nach der Einnahme von Abflussreiniger tot in der Küche aufgefunden wurde. Im Schlafzimmer findet man seine ermordete Frau Lucía. Die Tat wirkt wie ein typischer Selbstmordpakt, bei dem der Mann zunächst seine Frau und dann sich selbst tötet. Doch bei genauerer Betrachtung will nicht jedes Detail in dieses Szenario passen, und Falcón entschließt sich zu ermitteln.
Überaus seltsam scheint die Notiz, die bei dem Toten gefunden wird: ‚… in der dünnen Luft sein, die ihr atmet, vom 11. September bis zum Ende…‘ Mit diesem kryptischen, fast poetischen Hinweis auf das Datum eines Terroranschlags macht Falcón sich auf die Suche nach den Hintergründen im Umfeld der Toten, nach einem Motiv für einen eventuellen Mörder. Dabei trifft er in der Nachbarschaft der Vegas nicht nur auf besagte Consuelo Jimenéz, sondern auch auf das amerikanische Pärchen Krugman und den alternden Schauspieler Pablo Ortega.
Während sich im Verlauf der Ermittlungen Falcón immer wieder der Frage stellen muss, ob sein Instinkt ihn trügt und der Todesfall Vega vielleicht doch ’nur‘ ein Selbstmord war, offenbaren seine Befragungen die seltsamsten Erkenntnisse: So erfährt Falcón nach und nach, dass der Tote Vega in seiner Freizeit gern schlachtete, offensichtlich Kontakte zur Russenmafia pflegte und ein obskures Doppelleben zu verbergen schien. Falón erfährt, dass die Fotografin und femme fatale Madeleine Krugman ein Foto von einem völlig verstörten Falcón in ihrer Sammlung präsentieren kann. Desweiteren stürzt sich ein Nachbar in die Jauchegrube, die einst sein eigenes Haus war, und Falcón glaubt, er müsse sich um dessen Sohn kümmern. Ein Polizist begeht Selbstmord. Und wie auch noch der moderne Sklavenhandel, ein Netzwerk Pädophiler, die Russenmafia und Geheimdienste ins Spiel kommen, scheint schwer vorstellbar und wäre wohl bei vielen Autoren in eine schier unglaubliche Farce abgedriftet. Doch kann man beruhigt Robert Wilson vertrauen, der, wie es wohl die wenigsten Autoren vermögen, grandios aktuelles Weltgeschehen wie Historie in den Alltag seiner Figuren einflechten kann und dabei an Glaubwürdigkeit noch gewinnt.
Wer am Ende alle Ereignisse auf Haupt- und Nebenschauplätzen chronologisch zusammensetzt, erkennt, welcher Fülle an Verbrechen und Tätern Falcón auf die Spur kommt. Das aber gelingt Wilson in einem erstaunlich gemächlichen Tempo, bei dem die Kunst der Konversation im Vordergrund steht, sodass die Figuren an ungeahnter Tiefenschärfe gewinnen.
Einen minimalen Einwand möchte ich allerdings nicht verschweigen: Wilsons Frauenfiguren irritieren mich. Allesamt ein wenig überzeichnet und durchweg alle so reizvoll und lockend, wie das Weib nun einmal sein soll. (Die Ex-Nonne Ferrera, die nun in Falcóns Team ermittelt, einmal ausgenommen.) Zwar differenziert Wilson den Grad der Verlockung, doch bleiben die Frauenfiguren zu sehr Statistinnen, an denen sich die Herren abarbeiten dürfen. So kann man Falcón moralisch bald auf die Schulter klopfen, wenn er die Spielchen der femme fatale, die ihn eben noch reizte, schnell angewidert ablehnt. Und wer könnte nicht einen heißblütigen Staatsanwalt ob seiner tragischen Obsession ebenso beneiden wie bedauern oder gar verurteilen? Für Maddy Krugman zumindest, der wir von Beginn an nur ‚auf den Hintern schauen‘, hätte ich mir gern etwas mehr Substanz als das alte Spiel des Jagens und Gejagtwerdens gewünscht.
Der Stil von „Die Toten von Santa Clara“ scheint simpel, ist aber gesucht präzise und abgründig im Hinblick auf Details, die vor allem ein Panorama aufgewühlter Seelen unter der normal anmutenden Oberfläche offenbaren. Es ist famos, mit welcher subtilen Ruhe Falcón an den glänzenden Fassaden kratzt, bis der Schein von Glück, Frieden und Normalität einstürzt. Ein gekonnter Schachzug ist dabei die gewählte Kulisse des maravillosa Sevillas – der Stadt der Lebensfreude, die dem Leser sehr plastisch und verlockend vor Augen tritt, gerade weil Wilson hinter die Front der Fröhlichkeit schaut.
Die Bücher aus der Javier-Falcón-Serie bieten spannungsreiche Einsichten in weltliche Abgründe und sind ein absoluter Garant für beste Unterhaltung auf überdurchschnittlichem Kriminalroman-Niveau. Was das Genre Krimi betrifft, sind „Die Toten von Santa Clara“ eindeutig eine Steigerung zum ersten Band der Serie!
„Die Toten von Santa Clara“ sind im neu gegründeten Verlag |Page & Turner| als schön und einfallsreich gestaltetes Hardcover erschienen; ein spannendes Interview mit dem Autor zu diesem Text findet sich hinter folgendem Link: http://www.curledup.com/intrw2.htm.
© _Anna Veronica Wutschel_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.X-Zine.de/ veröffentlicht.|