Woodworth, Stephen – Stimmen der Nacht, Die (Violet Eyes 2)

_Die Seelenkäfige: Mausefallen für Violette_

Die Polizei nennt sie die „Violetten“, denn sie haben eine besondere Gabe: Sie können Mörder mit ihren violetten Augen erkennen. Und sie können mit den Toten sprechen. Weltweit gibt es nur noch etwa zweihundert von ihnen. Medium Natalie Lindstrom ist für die Polizei eine wertvolle Mitarbeiterin. Im vorliegenden Fall geht es um einen reichen, verwöhnten Teenager, der im Verdacht steht, seine Eltern umgebracht zu haben. Natalie soll nun mit den Toten Kontakt aufnehmen, um die Wahrheit herauszufinden. Sie ahnt nicht, auf was sie sich einlässt …

_Der Autor_

Stephen Woodworth lebt in Kalifornien und schreibt seit Jahren für Magazine und Zeitschriften. 1999 besuchte er die Schriftstellerwerkstatt des Clarion West, in dem gestandene Science-Fiction-Autoren Erfahrungen weitergeben und die Erzeugnisse ihrer Schüler kritisch bewerten. Der Autor bedankt sich ausführlich im Nachwort für diese Schützenhilfe. Woodworth kommt also ursprünglich aus der SF-Ecke, doch mit dieser Schublade würde man seinem Werk Unrecht tun.

„Das Flüstern der Toten / Through violet eyes“ war sein erster Roman, mit dem er in USA auf Anhieb Erfolg hatte. Der zweite Roman „Die Stimmen der Toten“ erschien 2007 auf Deutsch, der dritte Roman „Die Sprache des Blutes / In golden blood“ ist im September 2008 ebenfalls bei |Heyne| erschienen. Während im Originaltitel stets Farbe eine Rolle spielt, sind die deutschen Titel etwas unheimlicher.

1) [Das Flüstern der Toten 2849
2) Die Stimmen der Nacht
3) Die Sprache des Blutes

_Hintergrund_

Man stelle sich eine Welt vor, die der unseren bis aufs Haar gleicht, nur mit einem winzigen, aber folgenreichen Unterschied: Die Toten existieren nicht irgendwo über den Wolken oder in einem Reich unter der Erde, sondern weiterhin um uns herum, nur eben unsichtbar. Aber, und das ist wichtig, sie verfügen über diverse Fähigkeiten und Eigenschaften, mit denen sie sowohl aufgespürt und kontaktiert werden können, mit denen sie aber auch einen entsprechend vorbelasteten Menschen geistig übernehmen können. Letztere Menschen sind die Violetten.

Die Violetten, so genannt wegen ihrer ungewöhnlichen Augenfarbe, sind Mutanten, die an einer speziellen Schule ausgebildet werden und offiziell in der „Nordamerikanischen Gesellschaft für Jenseitskommunikation“ (NAGJK) organisiert sind. Diese verfügt über eine straffe Führung, welche die Dienste ihrer Mitglieder der Gesellschaft anbietet. Einer dieser Dienste besteht in der Ermittlung der Täterschaft bei Todesopfern, zum Beispiel bei Mord …

_Handlung_

Im Fall der Ermordung des Unternehmerehepaars Hyland aus Los Angeles ist dessen Sohn Scotty angeklagt. Sein Anwalt Lathrop hat angekündigt, vor Gericht das Medium Lyman Pearsall die beiden Getöteten herbeirufen zu lassen. Staatsanwältin Inez Mendoza bittet Natalie Lindstrom um Hilfe. Doch als Natalie die Kontaktobjekte, mit denen sich die Seelen von Toten herbeirufen lassen, berührt, kann sie weder Mrs. Hyland noch ihren Mann herbeizitieren. Irgendetwas ist hier oberfaul.

Während des Gerichtsverfahrens hält sich der Verteidiger Lathrup auffällig mit Fragen an die Zeugen, welche die Staatsanwältin aussagen lässt, zurück. Offenbar basiert seine ganze Verteidigung auf den von Lyman Pearsall vermittelten Aussagen der beiden Hylands. Die Spannung steigt nicht zuletzt auch bei Natalie, die dem Prozess als Zuschauerin beiwohnt. Für Lathrop klappt alles wie am Schnürchen.

Der kleine, dicke Lyman Pearsall bäumt sich in seinem Stuhl auf, als sei eine Seele in ihn gefahren, und der Seelenscanner schlägt ebenfalls aus. Natalie ist verblüfft: Wie macht er das bloß? Nacheinander beschuldigen Mr. und Mrs. Hyland den früheren Partner des Unternehmers, sie getötet zu haben. Der Mann ist wie vor den Kopf geschlagen, war er es doch, der die Veruntreuungen und Unterschlagungen durch Hyland Junior aufdeckte.

Die Geschworenen sind von Pearsalls Vorstellung gebührend beeindruckt. Sie glauben ihm – schließlich handelt es sich um ein vereidigtes Mitglied einer angesehenen Gesellschaft, die der Polizei und der Justiz bislang zuverlässig geholfen hat. Die Schöffen sind sich einig, dass Scotty Hyland unschuldig sein muss. Die Staatsanwältin ist verbittert. Doch Natalie ist misstrauisch: Pearsall hat möglicherweise schon einmal eine Falschaussage geschauspielert, im Fall des Mordes an einer Prostituierten. Auch damals kam der Mörder frei. Sie beschließt, dass es keine weiteren Freisprüche mehr geben darf, wenn es keine Opfer mehr geben soll.

In den Unterlagen, die sie von Inez Mendoza über Pearsall erbittet, sowie im Internet stößt sie auf den entscheidenden Hinweis. Pearsall hatte im Januar mit der Leiche eines Opfers von Vincent Thresher zu tun. Unglückerweise kennt Natalie diesen verurteilten und hingerichteten Serienmörder nur zu gut: Threshers Seele besucht ihre arme Mutter Nora, eine Violette, regelmäßig in ihrer Zelle in der Nervenheilanstalt von Los Angeles. Kein Wunder: Noras Aussage als Medium hatte Thresher seinerzeit in die Gaskammer gebracht.

Als Nora ermordet aufgefunden wird, deuten alle Indizien auf eine Tat des toten Vincent Thresher hin, insbesondere das in die Haut des Opfers gestickte Bild. Eine fremde Krankenschwester hatte Dienst, als die Tat geschah, und so wie es aussieht, handelte es sich um Lyman Pearsall, der von Thresher besessen ist. Thresher, der Puppenspieler, treibt wieder sein Unwesen. Doch Natalie kann Pearsall nicht anklagen, seit sie der Gesellschaft den Rücken gekehrt hat. Niemand würde ihr glauben.

Schon bei ihrem letzten Besuch Noras hat Natalie in die von Thresher besessenen Augen Noras geblickt: Er wolle sie gerne näher kennenlernen, sagte er und jagte ihr damit Schauder über den Rücken. Am Sarg Noras geschieht es erneut, dass eine tote Seele Natalie besucht, doch es ist Nora. Sie warnt sie eindringlich vor dem Killer.

Wenig später ist Natalies fünfjährige Tochter Callie verschwunden. Ist sie Thresher und Pearsall in die Hände gefallen?

_Mein Eindruck_

Wie schon im ersten Band seiner Trilogie über die Violetten beginnt die Handlung recht langsam mit dem Privatleben von Natalie Lindstrom. Wir werden erst einmal darüber informiert, was sich alles seit ihrem ersten Abenteuer mit dem Violettenkiller und dem Tod ihres geliebten Dan Atwater getan hat.

Fast sechs Jahre sind vergangen, und ihre und Dans Tochter Callie sind ein zufriedenes, aber keineswegs sorgloses Paar. Denn die NAGJK will Callie für sich haben, um sie an ihrer Schule auszubilden, genau wie damals bei Natalie. Rund um die Uhr überwachen Agenten der NAGJK Heim und Fahrten von Natalie. Sie hat nur einen Freund unter ihnen: George, der Französisch lernt und einen Roman schreiben will. Wie sich zeigen wird, ist George Natalies einzige Rettung, als sie Threshers Falle gegenübersteht.

Denn die erst von der NAGJK und dann von Pearsall/Thresher entführte Callie dient lediglich als Köder, um Natalie in eine tödliche Falle zu locken. Abseits der Zivilisation und von einem Gewittersturm umgeben, muss sich Natalie in die vorbereitete Falle begeben …

|Bösewichte|

Dieser Showdown ist der spannende und dramatische Höhepunkt für eine so vor sich hinplätschernde Handlung. Es gibt zwar hier und da zu Herzen gehende Szenen, insbesondere mit Nora Lindstrom, doch keine beeindruckte mich sonderlich. Ganz anders hingegen der Bösewicht: Das ist ein wirklich schweres Kaliber und obendrein höchst faszinierend. Thresher wurde bis zu seinem zwölften Lebensjahr von seiner Mutter, die ihren verschwundenen Mann hasste, als Mädchen aufgezogen: Vanessa. Doch spätestens in der Mädchenumkleide seiner Schule musste die Wahrheit ans Licht kommen – ein Riesenskandal.

Thresher brachte nicht nur seine gehässige Mutter um, er rächte sich auch am ganzen weiblichen Geschlecht. In einer Szene, die eines gruseligen Psychothrillers von Karin Slaughter oder Mo Hayder würdig ist, macht der tote Killer, der Lyman Pearsalls Körper wie eine Marionette bedient, seine Opfer erst stumm, dann stickt er den Betäubten schöne Muster in die Haut, wie er sie von seiner Mutter gelernt hat. Dass Vincent es beherrscht, sich wie eine Frau zu schminken und zu kleiden, versteht sich von selbst. Die Krankenschwester, die es auf Nora Lindstrom abgesehen hat, tritt sehr überzeugend auf.

Doch es gibt nach dem Showdown ja noch einen weiteren Schurken im Stück. Während Pearsall zum mitleiderregenden Opfer wird, ist es ja Scotty Hyland, der freigesprochen wurde. Er kann nicht zweimal für das gleiche Verbrechen verurteilt werden. Nur, wie bringt man einen Unantastbaren zur Strecke? Ganz einfach: Natalie erinnert sich an die Visitenkarte eines Journalisten …

_Unterm Strich_

Bislang kannte ich Seelenkäfige nur von einem Album, das Sting mal vor Jahren unter dem Titel „The Soul Cages“ aufgenommen hat. Sie bezeichnen die innere Erstarrung von Menschen. In „Die Stimmen der Nacht“ erhalten Seelenkäfige eine düstere und ganz konkrete Bedeutung. Da die Seelen von Toten, so die Hypothese des Autors, elektromagnetischer Natur sind – ein höchst prekärer Zustand, um es mal gelinde zu formulieren – lassen sie sich auch in einem Faradayschen Käfig einsperren beziehungsweise abschirmen.

Was zunächst abstrus klingt, nimmt für Natalie Lindstrom eine höchst bedrohliche Qualität an: Es sind Käfige für Seelen, die über die nichts ahnende Violette herfallen können. Doch wie sich zeigt, kann derjenige, der stark genug ist, den Spieß auch umdrehen …

„Die Stimmen der Nacht“ ist ein weiterer faszinierender Thriller um die Violetten. Er lehrt den Leser, dass es Seelen überall um uns herum gibt und sie in unseren Kopf wollen, falls wir dafür empfänglich sind. Die Kunst des Autors besteht darin, diesen besonderen Daseinszustand als Violetter möglichst lebendig und spannend zu schildern, und das geht am besten mit einer hochemotionalen Mutter-Kind-Beziehung, die jedes Frauenherz berühren dürfte, sowie mit einer spannenden Handlung, die eben dieses Glück bedroht. Das Rezept ist einfach, man muss es nur richtig umsetzen. Der Autor hat dies jedenfalls drauf. Die fehlerlose Übersetzung wird seinem Können gerecht.

|Originaltitel: With red hands, 2004
Aus dem US-Englischen von Helmut Gerstberger
380 Seiten
ISBN-13: 978-3-453-40372-7|
http://www.heyne.de

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