Wortberg, Christoph / Theisen, Manfred – Geist der Bücher, Der

Seit Ben vor einigen Jahren seine Eltern verloren hat, lebt er bei seiner Tante Lynn, einer berühmten Schriftstellerin. Aber noch immer kommt er weder mit dem Verlust noch mit seiner Tante klar. Vergeblich versucht seine Tante, ihm ihre Liebe zur Literatur nahezubringen, bis sie eines Tages plötzlich verschwindet! Erst jetzt erkennt Ben, dass seine Tante etwas Besonderes war. Er macht sich auf die Suche nach ihr und schlittert Hals über Kopf in ein haarsträubendes Abenteuer …

Ben ist nicht unbedingt der durchschnittliche Teenager. Offenbar hat er weder Hobbies noch irgendwelche besonderen Interessen. Seine Abneigung gegen Bücher und das Trauma, das er offenbar beim Unfalltod seiner Eltern erlitten hat, sind die einzigen Details, die man über ihn erfährt. Später kommt noch seine wachsende Zuneigung zu Julia dazu. Alle übrigen Eigenschaften – wie Ehrlichkeit, Mut, Hartnäckigkeit und Einfallsreichtum – definieren mehr seine Funktion als Held der Geschichte und weniger die Person Ben als solche.

Julia Capulet will natürlich zunächst vor allen Dingen nach Verona zurück. Erst später, als sie von Romeos Ende erfährt, löst sich diese Fixierung; sie beginnt, sich mehr auf ihre momentane Situation zu konzentrieren, und schon bald kommen sie und Ben sich näher. Dieser Hauch einer Romanze genügt allerdings nicht, um der Julia einen wirklich eigenständigen Charakter zu verleihen. Im Grunde wurde nur die Person ihrer Zuneigung ausgetauscht, ansonsten bleibt sie unverändert das schöne, verliebte, gutherzige aber passive Mädchen.

Mercutio ist nicht ganz so einfach gestrickt. Im Gegensatz zu Julia hat die Herauslösung aus dem Kontext seiner eigentlichen Geschichte bei ihm eine Charakteränderung bewirkt. Sein Verhältnis zu Romeo ist extrem zwiespältig, und auch das zu Ben entwickelt sich mehr und mehr in diese Richtung. Mal hilft Mercutio Ben, dann wieder bleibt er tatenlos. Außerdem lügt er ganz ungeniert. Das Einzige, was man über Mercutio sicher sagen kann, ist, dass er völlig in Julia verliebt ist.

Der Bösewicht der Geschichte namens Gondar zeichnet sich vor allem durch ein grausliches Äußeres aus sowie durch einen ungeheuren Rachedurst. Sein Name hat allerdings – auch wenn er fast genauso klingt wie Aragorns Hauptstadt – keinerlei Verbindung zu Tolkien, sondern leitet sich aus einer völlig anderen, viel interessanteren Ecke ab.

Die übrigen Charaktere sind lediglich Gaststars aus den verschiedensten Winkeln der Literatur, sie tauchen nur kurz auf und verschwinden dann wieder.

Tiefgründigkeit kann man der Charakterzeichnung also nicht gerade bescheinigen. Die Geschichte wird – verständlicherweise – ausschließlich aus Bens Sicht erzählt; das macht seine Gedanken und Gefühle etwas deutlicher als die aller anderen, allerdings nicht wirklich intensiv. Immerhin verleiht Mercutios unvorhersehbare Art der Sache ein wenig Pfiff.

Der Grund liegt wohl in der turbulenten Handlung verborgen. Kaum hat Ben sich entschlossen, seine Tante zu retten, überstürzen sich die Ereignisse. Als Erstes landet der Junge in Verona, wo Mercutio und Julia das Trio komplettieren. Gleich von Anfang an sind die drei auf der Flucht, stolpern von einem Buch ins nächste. Das wirkt zunächst fahrig und konfus, aber so ist das eben, wenn man ständig auf der Flucht ist. Der Trubel legt sich ein wenig, als Ben in der einen oder anderen kurzen Verschnaufpause anfängt, seinen Kopf zu benutzen und nach Wegen zu suchen, um die Ortswechsel irgendwie zu beeinflussen.

Zu diesem Zeitpunkt fängt auch der Kern der Geschichte an, sich herauszuschälen. Allmählich kommt Ben dahinter, worum es bei der Entführung seiner Tante und den Überfällen auf Romanfiguren überhaupt geht. Und warum ihre Verfolger unbedingt die Hälfte des Amuletts haben wollen, das er um den Hals trägt.

Konkreter ausgearbeitet haben die Autoren die Rahmenhandlung allerdings nicht. Die Detailverliebtheit der epischen Fantasy fehlt hier völlig. Zwar sind die logischen Zusammenhänge nachvollziehbar und ohne Brüche, auch bietet die Geschichte eine gewisse Entwicklung im Hinblick darauf, dass Ben die Situation allmählich in den Griff bekommt und dadurch ganz nebenbei mit seinem Trauma fertig wird. Das Hauptaugenmerk liegt aber eindeutig auf dem rasanten Handlungsverlauf, der zusammen mit der zügigen Erzählweise nicht viel Zeit für Ausschmückung oder Abschweifung lässt. Ja, selbst der Spannungsbogen geht darin zunächst unter und strafft sich erst unmittelbar vor dem Showdown.

Trotzdem fand ich die Idee des Buches ausgesprochen interessant. Nicht nur, weil es Spaß gemacht hat, anhand der knappen Einführung nach einem Ortswechsel zu erraten, in welchem Buch Ben und seine Freunde sich gerade befinden, auch die Art und Weise der Ortswechsel steckten voller Ideen und boten genügend Vielfalt, um den Leser immer wieder zu überraschen.

Zudem steckte das Buch voller unerwarteter Details, die aus der Störung des Ursprungsromans resultieren und mal befremdlich, mal dramatisch, mal amüsant wirken. Es hat schon was, wenn Julia Capulet sich mit Werther über die Tragik unerfüllbarer Liebessehnsucht unterhält, und der Wortschwall, mit dem Ben in „Oliver Twist“ eine Haushälterin geradezu überfährt, war wirklich erheiternd. Und auch die Herkunft Gondars und seiner Schattenkrieger war eine Idee, die mir gut gefallen hat, auch wenn die Darstellung derselben eher eklig bis gruselig geraten ist.

Ganz ohne kleinere Unebenheiten ging es allerdings auch hier nicht ab. So war die Wirkungsweise von Bens Amuletthälfte stellenweise etwas widersprüchlich, und die Anwesenheit der rothaarigen Frau auf dem Hausdach in New York wird zwar später von den Autoren selbst hinterfragt, letztlich aber ohne Antwort ins Leere laufen gelassen. Wirklich störend wirkten diese Kleinigkeiten aber nicht.

So ist „Der Geist der Bücher“ hauptsächlich eine wilde Verfolgungsjagd durch ein buntes Sammelsurium von diversen literarischen Szenen. Vielleicht hätte die Reduzierung dieses Sammelsuriums um zwei oder drei Exemplare ein wenig den Eindruck gemildert, dass hier möglichst viele berühmte Romane mit mehr oder weniger Gewalt zu einer neuen Geschichte zusammengequetscht werden sollten. Dieser Eindruck entsteht vor allem zu Beginn, verliert sich allerdings im Verlauf der Geschichte wieder, als Ben anfängt nachzudenken und die einzelnen Romanszenen nicht mehr so willkürlich aufeinander folgen, sondern durch die Rahmenhandlung einen gewissen inneren Zusammenhang erhalten. Und wem es gelingt, sich von der Hast des Anfangs nicht ganz mitreißen zu lassen, dem entgehen auch die kleinen Perlen, die Details am Rande, nicht so leicht.

Mit anderen Worten: Für wen eine intensive Charakterzeichnung ein absolutes Muss ist, dem wird dieses Buch wahrscheinlich weniger zusagen. Alle anderen erwartet eine vielleicht nicht unbedingt anspruchsvolle oder vielschichtige, zumindest aber abwechslungsreiche Geschichte mit vielen Ideen, die zwar nicht bis ins Kleinste ausgearbeitet sind, sich aber trotzdem sehen lassen können. Ich würde das Buch in der Jugendsparte einordnen, auch wenn es nicht ausdrücklich als solches bezeichnet wird.

„Der Geist der Bücher“ ist nach „Der König der Welt“ (|Ueberreuter|) die zweite Zusammenarbeit von Christoph Wortberg und Manfred Theisen. Christoph Wortberg studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte, und absolvierte außerdem eine Schauspielausbildung. Er schreibt Krimis für Hörfunk und Fernsehen und seit 2004 auch Jugendromane, unter anderem „Novembernacht“ und „Keine Wahl“. Manfred Theisen studierte Germanistik, Anglistik und Politik und wurde zunächst Journalist. Diverse Reisen führten ihn unter anderem nach Äthiopien, Russland und Malaysia und prägten sein Leben und sein Werk spürbar. Seit 2001 arbeitet Manfred Theisen als freier Schriftsteller, aus seiner Feder stammen unter anderem „Regenzeit“, „Checkpoint Jerusalem“ und „Täglich die Angst“.

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