John Wyndham – Die Kobaltblume. Erzählungen

Besucher aus der Zukunft und auf dem Mars

Raum und Zeit sind die Themen, die der bekannte britische SF-Autor mit großem Einfallsreichtum in diesen Erzählungen abwandelt. Die Skala reicht von romantisch-heiteren Reisen durch die Zeit bis zum erschütternden Untergang einer außerirdischen Spezies. Mit Phantasie, menschlicher Wärme, Einfühlungsvermögen und liebenswürdigem Humor werden Probleme des modernen Menschen angesichts des Unbekannten dargestellt. (aus der Verlagsinfo)

Der Autor

John Wyndham P. L. B. Harris wurde am 10. Juli 1903 in Knowle, Warwickshire, bei Birmingham geboren. Als er acht war, trennten sich seine Eltern; somit wuchs er in verschiedenen Internaten auf. Nach seiner Schulzeit arbeitete er u. a. als Landwirt, Grafiker, Werbefachmann und Verwaltungsangestellter. Ab 1925 versuchte er sich als Autor. 1931 erschien mit „Worlds to barter“ seine erste Story in „Wonder Stories“, einem der klassischen Pulp-Magazine der Zeit.

In seinen Anfangsjahren publizierte er meist unter Pseudonymen wie John Beynon Harris und orientierte sich vor allem an H. G. Wells. Durch seine Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg reifte er jedoch stark. Als Mitglied einer Nachrichteneinheit erlebte er ihn an vorderster Front mit, u. a. bei der Invasion in der Normandie 1944. Vor allem die durchaus realen Bedrohungen durch das Wettrüsten im Kalten Krieg inspirierten ihn zu postapokalyptischen Romanen wie „The Day of the Triffids“ oder „The Midwich Cuckoos“.

Diese SF-Klassiker beziehen ihre Spannung auch heute noch aus den Reaktionen der Protagonisten auf die Katastrophe und setzten inhaltlich und stilistisch neue Genre-Maßstäbe. Wyndhams humanistische Weltsicht offenbarte sich auch in seinen weiteren Storys, Weltraumabenteuern und Zeitreisegeschichten. Unter ihnen ragt die Novelle „Consider her Ways“ heraus. Wyndham starb 1969 in Petersfield.

Wichtige Romane:

1) [Die Triffids 4281 (The Day of the Triffids, 1951, dt. 1955)
2) [Wenn der Krake erwacht 1441 bzw. Kolonie im Meer (1953, The Kraken wakes, dt. 1962)
3) Das Dorf der Verdammten bzw. Es geschah am Tage X (The Midwich Cuckoos, 1957, dt. 1965)
4) Wem gehört die Erde? (The Chrysalids, 1955, dt. 1961)
5) Eiland der Spinnen (Web, 1979, dt. 1981)
6) Ärger mit der Unsterblichkeit (Trouble with Lichen, 1960, dt. 1970)

Die Erzählungen

1) Meteor

Im Acker der englischen Familie Fontain schlägt ein Objekt ein, das Grundbesitzer Fontain als einen Meteor bezeichnet. Der Knall des Einschlags ist jedenfalls laut genug dafür, und einen Krater gibt es auch. Er verständigt die Polizei, die mit einem Sergeant und einem Inspektor anrückt. Der Inspektor verlangt nach einem Sachverständigen des Militärs, als er sieht, was Fontains Leute da ausgraben: eine metallisch schimmernde Kugel von etwa 60 Zentimeter Durchmesser. Sieht nicht nach einem Meteor aus. (Fachliche Anmerkung: Ein ‚Meteor‘ ist eigentlich eine Leuchterscheinung am Himmel, erzeugt von einem ‚Meteoroid‘.) Sie stellen das Ding in den Schuppen und bewachen es. Doch schon bald interessiert sich die Hofkatze dafür …

Die Aussiedler des Planeten Fora haben ihre 30 Sphären bestiegen und sind in den Weltraum auf einen heldenhaften Flug gestartet: Sie wollen neue Welten zur Besiedlung suchen und dort in Frieden ein neues Fora aufbauen. Sollten sie auf Intelligenz treffen, so wollen sie diese fördern und mit ihr zusammenarbeiten. Der Tagebuchschreiber der Foraner erwacht aus dem Kälteschlaf über einer blauen Welt, die viel Wasser enthält – ideal für eine Besiedlung! Allerdings ist die Landung ziemlich hart. Doch ein Foraner lässt sich durch nichts unterkriegen.

Der Moment des Ausstiegs ist gekommen. Tausend gingen an Bord, und nur vier von ihnen kamen bei der Landung ums Leben. 996 Foraner treten durch die Ausstiegsluke, und der gewählte Anführer hält eine bewegende Ansprache. Man werde diese Welt friedlich erobern. Da fällt ein Schatten über die Versammlung. Ein riesiges schwarzes Ungeheuer mit einem dreieckigen Gesicht, glühenden Augen, Dornen um das Maul und abstehenden Ohren. Die Foraner erstarren. Mit solchen Schrecken haben sie nicht gerechnet.

Die zuschlagende Tatze sehen sie gar nicht kommen. Zwanzig ihrer Kameraden gehen sofort drauf. Ein zweiter Schlag – weitere zehn verloren. Mit schier überforanischer Nervenstärke reißt sich jedoch der Anführer aus seiner Schreckstarre und eröffnet das Laserfeuer auf das riesige Ungeheuer. Es bricht über ihm zusammen …

Der Inspektor wundert sich, was ihm sein Sergeant jetzt schon wieder anschleppt: eine tote Katze. Na und? Doch dann zeigt ihm der Sergeant die zwei Löcher, die den Schädel der Katze sauber perforieren …

Mein Eindruck

Was hier als Umkehrung der Liliputaner beginnt, ist in Wahrheit eine Absage an den Sinn der Raumfahrt. Sally Fontain schwärmt uns ebenso wie die Propagandisten der Raumfahrzeughersteller vor, wie toll es wäre, gemeinsam zu einer fremden Welt aufzubrechen und dort in Frieden alles neu aufzubauen. Genau dies machen ja auch die liliputanischen Foraner, doch haben sie nicht damit gerechnet, dass sie derartig schlecht an die Größenverhältnisse auf ihrer Zielwelt angepasst sind, dass sie entweder als Jagdbeute oder als Ungeziefer eingestuft werden. Beide Male sind die Jäger – also wir Erdlinge – zu dumm, um sie als fremde Siedler zu erkennen.

Der Autor greift auf [„Gullivers Reisen“ 1076 im Thema wie in der Methode zurück, und Anklänge an Richard Mathesons Roman „The Incredible Shrinking Man“ („Die seltsame Geschichte des Mr. C“) finden sich ebenfalls: die monströse Katze, die furchterregende Spinne usw.

2) Besuch aus der Zukunft (Das Chronoklasma, 1953)

Der Junggeselle George Lattery lebt in dem kleinen englischen Dorf Plyton, irgendwann in den altmodischen 1950er Jahren. Zum ersten Mal hört er von Tavia zwei Jahre, bevor sie selbst auftaucht. Der Unbekannte, der ihn nach Tavia fragt, hat sich einfach in der Zeit vertan und verduftet schleunigst. Erst viel später erinnert sich Lattery an seinen Namen: Dr. Gobie. Zwei Jahre später taucht dann diese junge Frau auf. Sie nähert sich ihm nur verzagt und haut sofort ab, sobald jemand in der Nähe ist. Daher dauert es eine Weile, bis sie die Gelegenheit ergreift, ihn direkt anzusprechen.

Sein Haus mit der gemieteten Wohnung liegt in einem schönen bewaldeten Tal. Als er sich am Waldrand befindet, tritt sie hervor. Sie hat kaum ein Wort geäußert, als Stimmen sich nähern. Sie bittet ihn sofort, sie zu verstecken. Im Haus sind sie sicher, und George ist Manns genug, die drei Männer, die eindringen und sie mitschleppen wollen, zu vertreiben. Er hat sogar ein Gewehr im Anschlag. Dann besieht er sich die Besucherin genauer.

Doch was sie erzählt, ergibt keinen Sinn. Er versucht, Haltung zu bewahren, wie es sich vor einer Lady gehört, doch als sie dann auch noch in Tränen ausbricht, weiß er sich nicht anders zu behelfen, als Tee zu kochen. Das hat noch immer geholfen. Schließlich behauptet sie, eine Historikerin zu sein und mit einer Geschichtsmaschine hierher gelangt zu sein. Wie sich herausstellt, kann dieser Apparat nur eine Art Zeitmaschine sein. Sie kommt aus dem 22. Jahrhundert, hat sich aber fast die richtigen Kleider angezogen – bis auf die Schuhe.

Später taucht Dr. Gobie auf. Sie hat von ihm berichtet: Er ist ihr Onkel und der Erfinder der Geschichtsmaschine, mit der qualifizierte Historiker in die Epochen ihres jeweiligen Studiengebiets reisen. Sie selbst hat den Apparat unerlaubt benutzt. Wegen des Briefes, den er, George Lattery, ihr schrieb: dass er sie liebe, geheiratet habe und niemals vergessen werde …

Mein Eindruck

Die Erzählung schildert die romantische Variante des Zeitreisens: die hübsche Herzensdame aus der Zukunft, die dem erst verstörten, dann umso beglückteren jungen Mann nicht nur ihre Liebe – sie war ja vorherbestimmt! – sondern auch Ideen für erfolgreiche Erfindungen schenkt. Es ist ein kausaler Zirkel, der sich selbst in den Schwanz beißt.

Wer soll sich da noch über Ereignisse in der falschen Zeit aufregen, über so genannte Chronoklasmen? Als Dr. Gobie seine großen Sorgen über solche Chronoklasmen äußert, beruhigt ihn Tavia: Dies sei ja alles vorherbestimmt, denn woher sonst käme denn der Fortschritt, auf dem die Zukunft beruhe? Würde man die Chronoklasmen, die Tavia mit ihrer Wissensweitergabe verursacht hat, unterbinden, dann käme es noch zu viel heftigeren Störungen. Da gibt Dr. Gobie Ruhe, aber Tavias und Georges Glück, das ist klar, kann nicht von langer Dauer sein. Aber lange genug für ein Baby …

3) Wer zuletzt lacht

Duncan Weaver kauft sich auf dem Mars von den geistig zurückgebliebenen Marsbewohnern das Mädchen Lellie. Mit ihr will er die fünf Jahre überstehen, die er auf einer Frachtstation nahe dem Jupitermond Kallisto verbringen soll. Schon so manchen Weltraumarbeiter, so überlegt er, hat die Einsamkeit wahnsinnig gemacht. Allerdings hat er nicht erwartet, dass zu den 1000 Pfund Kaufpreis noch einmal 1360 Pfund an Gebühren hinzukämen, unter anderem für die Heiratsurkunde.

Auf Kallisto II ist das Leben ziemlich ruhig, doch Lellie bekocht ihn und hält die Wohnung sauber. Allerdings spielt sie weiter den unterbelichteten Bauerntrampel, was ihn immer wieder auf die Palme bringt. Duncan selbst ist kein Bücherwurm, sondern hält sich mit irgendwelchen Aufgaben auf Trab. Die Frachten enthalten vor allem seltene Erden und Erze von Kallisto.

Die Monate vergehen. Eines Tages landet ein Raumschiff, und es gibt eine Wiedersehensfeier. Da erfährt er, dass der Geologe Alan Whint ein Jahr auf diesem Mond Kallistos verbringen werde. Duncan muss das akzeptieren, aber er ahnt nichts Gutes. Whint behandelt Lellie wie eine Lady, die sie gar nicht ist, und bringt ihr das Lesen bei. Duncan kocht vor Wut, und spätestens nach drei Monaten kommt es zu scharfen Auseinandersetzungen. Da Kämpfen in der Schwerelosigkeit sinnlos ist, bleibt es bei verbalen Attacken. Aber eines Tages kehrt Whint von einer Exkursion nicht mehr zurück.

Während Duncan so tut, als wäre nichts, verändert sich Lellie unmerklich. Aber als sie nichts deswegen unternimmt, beruhigt sich Duncan wieder. Er wird unvorsichtig. Eines Tages – er freut sich schon auf die Abreise mit dem nächsten Raumschiff – ist die Luftschleuse verschlossen …

Mein Eindruck

Der Autor greift hier das Thema Gleichberechtigung der Frauen auf, verlegt es in die Tiefen des Alls, um dort eine archaische Dreiecksbeziehung zu schildern. Die Gleichberechtigung für Frauen war gerade in den fünfziger Jahren, als die Story entstand, nicht gerade leicht zu erlangen, denn die Kultur der Nachkriegszeit – sowohl in England wie auch in Amerika – war auf die Familienwerte ausgerichtet, und darin hatte die Frau gegenüber dem Mann nur die unterordnete Rolle vom Mütterchen am Herd zu spielen.

Angesichts dessen ist die Forderung, dass auch ungebildete Frauen ein Anrecht auf Bildung und Ausbildung haben, etwas provokativ. Allerdings startet die Lellie in der Geschichte von einem so tiefen Niveau, dass Bildung schon wieder wie ein Menschenrecht und ein Teil der Menschenwürde aussieht. Der Verdacht, dass es auch ein Frauenrecht sein sollte, kommt deshalb weniger schnell auf.

Die Erzählung liest sich ebenso flott wie alle anderen Storys dieses Auswahlbandes, und besonders der Schluss ist sehr spannend gestaltet.

4) Heute Fremdenführung

In Westwich werden in letzter Zeit beunruhigende „Störungen“ gesichtet: Arme oder Beine, die aus Mauern oder Decken ragen, nur um dann ebenso plötzlich wieder zu verschwinden. Jerry berichtet seiner Freundin Sally davon, doch sie glaubt nicht daran. Von dieser weiblichen Logik beeindruckt, unterhält sich Jerry mit Jimmy Lindley, denn der sammelt, was er „Tatsachen“ nennt – besonders wenn sie in der Zeitung stehen. Es gibt jede Menge Sichtungen von Köpfen, die aus dem Plaster ragen, von Beinen, die aus der Decke hervortreten und so weiter. Jimmy weiß auch die Ursache: Teleportation. Das Bewegen von Körpern über große Distanzen hinweg.

Okay, aber wo ist der Sender, der die Körper verschickt, will Jerry wissen. Und wer betreibt ihn? Wenige Tage später wird das Phänomen schlimmer. Nicht mehr verirrte Einzelpersonen tauchen aus Wänden und Mauern auf, sondern ganze Busse. Sally und Jerry selbst werden Zeugen davon. Noch beunruhigender ist jedoch das Erscheinen einer jungen Frau, die große Ähnlichkeit mit Sally hat. Sie bekommt es mit der Angst zu tun.

Die dritte Phase beginnt. Die „Touristen“ erscheinen nicht mehr nur auf der Straße, sondern überall und zu allen Tages- und Nachtzeiten. Jerry kann Sally nicht einmal einen Heiratsantrag machen, ohne unterbrochen zu werden. Auf einer Kreuzung taucht unvermittelt eine schwebende Besucherplattform auf. Der Verkehrspolizist schlägt die Besucher, die sich über die Westwicher lustig machen, vergeblich: Sie bestehen nur aus einem Bild und können ihn nicht hören.

Wenig später sehen Jerry und Jimmy sogar eine Prozession solcher Besucherplattformen, mit frivolen Mädchen und Jungs sowie der Aufschrift „Pawleys Rundfahrten in die Vergangenheit – die größte Erfindung unserer Zeit“. Die „Touristen“ suchen nach ihren Vorfahren, um an einem Preisauschreiben teilzunehmen. Und sie erkennen Sally auf einem Foto in einer uralten Zeitung – neben einem jungen Stadtrat …

Das ist der Moment, in dem Jerry endlich die rettende Idee hat. Warum nicht den Spieß einfach umdrehen?

Mein Eindruck

Auf unterhaltsame, wenn auch leicht gruselige Weise verbindet Autor die praktischen Auswirkungen der Teleportation und Zeitreise mit der Plage des Tourismus. Die Geschehnisse werden leichthin und ironisch geschildert, doch versetzt uns Jerrys Perspektive direkt in die Lage der angegafften und überall gestörten Bewohner Westwichs. Ihr Dorf ist unvermittelt zu einem Museum gemacht gemacht, mit ihnen selbst als Ausstellungsobjekten. Schlagender kann man die Tourismusplage eigentlich nicht vermitteln. Kein Wunder also, wenn ein gewisser Zynismus Platz greift und Jerry den Spieß einfach umzudrehen beginnt. Die Besucher werden zu den Begafften gemacht. Die Wirkung bleibt nicht aus. Was würde passieren, wenn man dies auch in unserer Zeit machte?

5) Spiegelbild

Was wäre, wenn es eine Zeitmaschine gäbe, die den Reisenden nicht in die Zukunft oder Vergangenheit, sondern seitwärts in eine alternative Gegenwart versetzen würde? Dies bewirkt die Whetstone-Übertragungskammer.

Peter Ruddle ist Physiker an einem Institut, an dem auch Whetstone arbeitete. Aber in Ruddles Erinnerung entzog er vor drei Jahren dem visionären Physiker seine Unterstützung und bewirkte damit einen handfesten Krach mit seiner Verlobten, Joan Whetstone. Die Verlobung wurde aufgelöst, Joan heiratete Freddie Tallboy und Peter Miss Trenter, seine gegenwärtige Frau.

Doch nun sieht Peter Joan mit seinem Doppelgänger durch die Straßen gehen – und alle anderen Leute ebenfalls. Da die beiden verheiratet sind, aber nicht miteinander, gibt es einen heimlichen Sittenskandal, den auch der echte Peter Ruddle zu spüren bekommt. Nach einer Weile stellt er das Paar vor seinem Haus zur Rede. Er versucht die Nerven zu behalten, aber es ist wirklich nicht einfach. Sie haben einen Denkfehler begangen, und er selbst hat keine Erklärung für die Existenz einer Kopie seiner selbst.

Der zweite Peter Ruddle, der nun mit Joan verheiratet ist, liefert die Erklärung mit Hilfe des Whetstone-Apparats. Joan bittet Peter Nr. 1, die Joan Nr. 1, von der er sich trennte, nicht abzuschreiben, sondern vielmehr zu ihr zurückzukehren. Dann verschwinden sie durch die Whetstone-Übertragungskammer in ihre eigene Zeit und Welt. Überrascht stellt Peter Ruddle Nr. 1 fest, dass er es nicht schafft, nach Hause zu gehen. Wenig später hat die Stadt einen handfesten Skandal und zwei Scheidungen mehr.

Mein Eindruck

Der Autor ist offenbar mit der Viele-Welten-Theorie von Hugh Everett und Bryce DeWitt vertraut und setzt sie um. Sie basiert auf der Quanten- und der Unbestimmtheitstheorie. Allerdings muss der Leser moderne Physik nicht kennen, um die Auswirkungen dieser Theorien zu verstehen. Der Autor hat diese Auswirkungen zudem in eine so bewegende Handlung menschlichen Dramas umgesetzt, dass ich dachte, ich würde einen psychologischen Mainstream-Roman lesen und nicht Science-Fiction. Das ist ganz große Klasse (zumindest für SF).

6) Wanderer auf dem Mars

Bert ist ein fahrender Händler auf einem Mars, der durchaus eine menschliche Kultur tragen kann: Meere, Bäume, Äcker, atembare Luft ist alles da. Auch Eingeborene, Ureinwohner, leben hier, und sie unterscheiden sich von Erdmenschen wie Bert im Körperbau wie auch in der Weltanschauung. Annika beispielsweise versteht nicht, warum Bert so rastlos von einem Ort zum nächsten zieht. Er sollte sich niederlassen und ihre Tochter Zaylo heiraten, eine Familie gründen.

Doch Bert hat die Erde auf dem letzten Raumschiff verlassen. Er hat durchs Bullauge beobachtet, wie seine Heimatwelt auseinanderbarst, aus welchem Grund auch immer: wegen eines explodierenden Atomkraftwerks, wegen explodierender Bodenelemente oder was auch immer. Die Erde ist verloren. Nun ist Bert ein Waisenkind auf einer anderen Welt. Aber als er Zaylo kennenlernt, merkt er, dass sich etwas in ihm verändert.

Mein Eindruck

Die Erzählung ist mehr ein Charakterporträt als eine Handlung mit einem Plot. Auch darin sind die Engländer gut: Sie können eine elegische Stimmung wie aus dem Nichts herbeizaubern, einfach durch die Schilderung von Erinnerung und Verlustgefühlen. Dies kontrastiert mit der neuen, aber fremden Welt des Mars, der den Waisen der Erde eine neue Zukunft bieten kann. Wenn sie es wollen.

7) Das Zeitduell

Die Nervenheilanstalt hat einen sonderbaren Patienten. Weil dieser Anspruch auf ein Erbe erhebt, schreibt der Direktor einen Brief an gewisse Anwälte, wonach dieser Patient offensichtlich an einer bemerkenswerten Geistesstörung leidet. Sein Schreiben soll belegen, dass es sich keinesfalls um einen Erbberechtigten handelt. Der Patient behauptet zwar, der verstorbene Terry Molton zu sein, aber wie dessen eigenen Aufzeichnungen zu entnehmen ist, ist dies äußerst unwahrscheinlich …

Terry Molton ist im Krieg schwer verletzt worden, so dass er nun immer noch Schmerzen in dem halb amputierten Bein verspürt. Um sie zu betäuben, nimmt er Morphium. Dadurch fühlt er sich leicht und schwebend, geradezu gelöst … Diesmal erwacht er jedoch in der fernen Zukunft, Millionen Jahre von seiner eigenen Zeit entfernt. Die schöne junge Frau neben seinem Bett nennt ihn fragend „Hymorell?“, doch als er nicht antwortet, versucht sie ihm in gebrochenem Englisch zu erklären, was mit ihm passiert ist. Sie selbst heiße Clytassamine.

Nach einem Verhör durch die Ältesten und ein wenig Sprachunterricht erkennt er folgenden Sachverhalt: In dieser Zeit hat der Erfinder Hymorell eine Vorrichtung gebaut, mit der er seinen Körper nicht wie üblich in einen geistig minderwertigen, aber körperlich jungen, kräftigen Körper übertragen kann, sondern in einen zeitlich weit entfernten Körper. Zufällig hatte sich die Verklammerung von Terry Moltons Geist mit seinem defekten Körper gelockert, so dass der Austausch leicht stattfinden konnte.

Der Grund für die Technik dieser Zukunftsgesellschaft, sich stets neue, gesunde und kräftige Körper für ihren Geist zu besorgen, liegt laut Clytassamine in einer genetischen Degeneration, die ständig fortschreite. Schon fünfmal hat sich Menschheit fast selbst ausgerottet und nun siecht sie praktisch dahin. Sie selbst bewohne gerade ihren vierzehnten Körper und habe schon viele Kinder zur Welt gebracht, aber nur drei davon überlebten. Die moralischen Bedenken Moltons gegen diesen geistigen Kannibalismus wischt sie beiseite, denn das sei einfach eine Notwendigkeit, um überleben zu können.

Terry wird klar, dass er es in Hymorell mit einem genialen Erfinder zu tun hat, der möglicherweise selbst in dem primitiven 20. Jahrhundert imstande sein könnte, eine Geisttransfermaschine zu bauen. Er muss damit rechnen, wieder in seiner eigenen Zeit zu landen – und wieder die Schmerzen seines alten Körpers erleiden zu müssen. Alles, nur nicht das, schwört er sich, doch irgendwann muss auch er wieder schlafen.

Das Unglaubliche wiederholt sich. Er erwacht wieder in seinem Krankenbett. Doch diesmal gibt er nicht auf, sondern versucht, wieder in die Zukunft zurückzukehren. Aber auch Hymorell fand seinen Aufenthalt im Körper eines Beinamputierten gar nicht witzig und hat einiges gegen eine Rückkehr einzuwenden. Ein Duell durch die Zeit beginnt …

Mein Eindruck

Der Autor verknüpft in dieser ziemlich irrwitzigen Story mehrere Themen. Da ist zum einen die Zeitreise – sie ist gar keine, denn nicht der Körper reist, sondern nur der Geist. Wie das geht, braucht er nicht zu erklären, denn die Technik ist so weit fortgeschritten, dass sie uns wie Magie erscheint (man beachte das entsprechende Clarkesche Axiom).

Wichtiger sind die Folgen des Bewusstseinstransfers: Wie sieht es mit der Identität aus? Wie das Schreiben des Anstaltsdirektors deutlich macht, steht sowohl die Identität als auch der Geisteszustand des Patienten nicht fest, zumindest nicht objektiv gesehen. Subjektiv hält sich Terry Molton natürlich für sich selbst. Ebenfalls eine Frage der Identität ist seine Beziehung zu Clytassamine: Sie ist ja auch nur eine Körperbewohnerin wie er selbst. Sie wechselt Körper wie Hemden, wenn es Zeit dafür ist. Das erinnert an „Das Unsterblichkeitsprogramm“ von Richard Morgan sowie ähnlich gelagerte Romane.

Drittens gibt es noch ein Wiedersehen mit H. G. Wells. Der alte Skeptiker und Evolutionstheoretiker, der erst 1946, nur wenige Jahre vor der Entstehung dieser Story, starb, drückte schon in „Die Zeitmaschine“ aus, dass die Verbesserung des Menschen nicht ewig weitergehen, sondern sich vielmehr in ihr Gegenteil verkehren könnte. Die genetische Degeneration ist in Clytassamines Zeit so weit fortgeschritten, dass die meisten Körper mit einem Defekt geboren werden, der sie lebensunfähig macht. Nur die besten Körper werden daher bewohnt – und zwar nur von den führenden Köpfen der Gesellschaft. Eigentlich sollte man durch diesen Selektionsprozess jedoch erwarten, dass die genetische Qualität wieder ansteigt. Hier ist der Autor nicht sehr logisch.

Dass die Maschinen alle körperlichen Arbeiten verrichten, ist ein altes Motiv, das schon John W. Campbell in „Abenddämmerung“ auszuschlachten wusste. Natürlich führt dies nicht zur Verbesserung der menschlichen Konstitution, sondern zu ihrer Verminderung. Offensichtlich hat Clytassamine ihren Campbell nicht gelesen, sonst wüsste sie es besser.

Die Erzählung wird erst am Schluss richtig spannend. Aber es gibt einen Spannungsbogen, der vom Anfang bis zum Schluss reicht: das Schreiben des Anstaltsleiters. Dadurch wird die Handlung zusammengehalten und die Neugier des Lesers aufrechterhalten. Bis auf ein paar unplausible Details ist das eine ziemlich gelungene Erzählung.

8) Die Kobaltblume

Felicity Fray ist die Lehrerin an einer Mädchenschule auf dem Lande in England. Sie erfreut sich an der grünen Natur, die das Werk Gottes preist. Aber sie verdammt das Werk der Wissenschaft, das diese Natur zerstört. Jede Stunde donnern Düsenjäger über die Schule hinweg. Doch eines Tages bringt ihr die Schülerin Marielle eine wunderschöne rosafarbene Blume. Diese Blume wächst ausgerechnet auf jenem Feldstück, auf dem sich ein Jahr zuvor ein Flugzeugabsturz ereignet hat.

Das Flugzeug explodierte in der Luft, wie Mrs. Fray sah, und die Trümmer fielen zur Erde. Das Hauptstück krachte nur wenige hundert Meter neben Mrs. Fray in den Boden. Kaum stürzte sie zu Boden, als auch schon die Metallfetzen wie Schrapnelle durch die Gegend sausten. Jemand half ihr auf, später kamen Wissenschaftler und zählten Gammastrahlen. Die Strahlung sollte aus einem geborstenen Behälter mit Kobalt kommen, das sehr gefährlich sei, erklärte man Mrs. Fray. Der Behälter wurde nicht gefunden. Aber dort, wo man ihn vermutete, erblühte die Kobaltblume.

Als Marielle und Mrs. Fray die Büschel der Kobaltblume pflücken wollen, müssen sie feststellen, dass der Bauer sie bereits mit Hormongift behandelt hat. Es hindert die Blumen an der Fortpflanzung, sagt er. Wissenschaft sei etwas Wunderbares. Mrs. Fray aber versteht endlich, was das Wunderbare an der Kobaltblume ist …

Mein Eindruck

In der Erzählung lässt der Autor Welten aufeinanderprallen. Die ländliche Idylle einerseits, das alte England Tolkiens, und auf der anderen Seite die näher rückende Industrie, die donnernden Jets, das abgestürzte Flugzeug, das radioaktive Kobalt. Hier treffen Gefühl und Verstand unversöhnlich aufeinander.

Aber Felicity Fray, die träumerische Naturverehrerin, lernt eine wichtige Lektion. Nicht nur bringen Wissenschaft und Industrie, also Menschenwerk, im Untergang wundervolle neue Werke der Natur hervor. Nein, der Untergang der Menschenwerke ist sogar schon recht nahe – und dann wird die Natur sich erst wieder richtig ausbreiten, womöglich noch prächtiger als zuvor. Man muss den Wandel nur zu nutzen wissen und sich darauf vorbereiten.

Ökologisches Gedankengut mischt sich hier mit einer Vorahnung des Endes der menschlichen Herrschaft über die Erde, wie sie in der englischen Zukunftsliteratur überaus häufig zu finden ist. Nicht umsonst kommen aus England die meisten klassischen Weltuntergangsromane, unter anderem auch von J. G. Ballard, Brian Aldiss – und nicht zuletzt von John Wyndham selbst, so etwa in „Wenn der Krake erwacht“ (1953).

Unterm Strich

John Wyndham ist einer der besten britischen SF-Autoren, neben Sir Arthur C. Clarke, Brian Aldiss und J. G. Ballard. Wie die genannten Kollegen ist er sowohl durch seine Romane wie auch durch seine Kurzgeschichten bekannt geworden – zumindest im angelsächsischen Sprachraum. In England sind seine Werke in jeder Stadtbücherei zu finden, allerdings nicht mehr in jedem Buchladen, denn auch hier macht sich die amerikanische Übermacht auf dem Medienmarkt bemerkbar.

Deutsche Leser haben bei Wyndham noch schöne Entdeckungen zu machen. Sie kennen seine Romane meist nur durch schlechte Verfilmungen wie „Die Triffids“, „Kolonie im Meer“ oder „Das Dorf der Verdammten“. Immerhin gibt es jetzt „Die Triffids“ und „Kolonie im Meer“ wieder als Hörspiele im |Audio Verlag|.

Die hier gesammelten Erzählungen – es handelt sich um eine Original-Kollektion – spiegeln die Bandbreite Wyndhams wieder. Der Leser sieht sich häufig mit neuen wissenschaftlichen Entdeckungen konfrontiert. Doch nicht die Wissenschaft steht im Vordergrund, sondern ihre Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben. Da taucht eine schöne Verwandte aus der Zukunft auf, da erscheint ein Doppelgänger in der gleichen Stadt wie das Original und zu guter Letzt kämpfen zwei Männer über den Abgrund der Zeit hinweg um den gleichen Körper – und um die gleiche Frau.

Frauen spielen bei Wyndham stets eine tragende Rolle, wenn auch die Protagonisten meist Männer sind. Das ist ein wichtiger Unterschied zu der fast schon pubertär anmutenden amerikanischen SF der 1940er Jahre. Frauen spiegeln die Sensibilität der Männer und verändern dadurch deren Wahrnehmung ihrer selbst. Sie können sogar deren objektive Wahrnehmung der Welt verändern, so etwa die liebenswerte Zaylo im Falle des wandernden Marsianers Bert.

Durch diese Ausführung und Themenbandbreite muten die Erzählungen Wyndhams heute immer noch modern und relevant an. Der Körpertausch wird in Richard Morgans Bestseller „Das Unsterblichkeitsprogramm“ und dessen Fortsetzungen durchgespielt. Ökologie und Ökonomie sind ebenso ein auflösbares Gegensatzpaar wie Raum und Zeit. Mitunter kommt bei Wyndham die englische SF-Vorliebe für den Untergang der menschlichen Herrschaft zum Durchbruch, dann wird der Autor elegisch. Aber im Grundton ist er optimistisch.

Die Übersetzung

Der Name Tony Westermayr bei einer Übersetzung macht mich immer skeptisch, denn mitunter kürzte dieser Vielübersetzer auch Werke. Aber hier hat Westermayr saubere Arbeit geleistet. Der Text ist trotz vieler Ausdrücke, die im Original aus dem Latein oder Griechischen kommen, auf verständliche Weise eingedeutscht worden, die Sätze sind flüssig zu lesen.

Taschenbuch: 164 Seiten
Originaltitel: The Seeds of Time, 1956
Aus dem US-Englischen von Tony Westermayr, 1960
ISBN-13: 9783518379745

www.suhrkamp.de

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