André Ziegenmeyer – Schatten über Schinkelstedt: Fabelwesen reloaded

Fabelwesen im Dienste des Vatikans

Auguste Fledermeyer, eine Hexe des frühen 16. Jahrhunderts, erwacht im 21. Jahrhundert und weiß nicht, wie ihr geschieht. Die Lage wird nicht übersichtlicher, als sie zwei Elfen aus Britannien begegnet und einem Wolpertinger. Wo kommen bloß dieser Fabelwesen her, fragt sie sich selbst und dann das Orakel Eulalia. Dieses orakelt, wie es Orakel zu tun pflegen, höchst verschlüsselt und verweist auf die Höhlen nahe dem Südharstädtchen Schinkelstedt.

In den Höhlen des Südharzes geht in der Tat Seltsames vor sich. Ein Vertreter des Heiligen Vaters kommt ihr besonders bekannt vor: Er hat sie vor 400 Jahren auf den Scheiterhaufen geschickt. Das muss bei ihrer Verbrennnung Nummer 37 gewesen sein. Aber was geschah danach?

Der Autor

„André Ziegenmeyer ist Jahrgang 1983 und studiert in Leipzig Germanistik im Endstadium. Mit den Büchern ‚Visionen eines Tagediebs‘ und ‚Ungewisse Lieder‘ konnte er frühzeitig einen ureigenen Schreibstil etablieren. Seine radioerprobte Stimme gibt dem Meister der skurril-humorvollen Seltsamkeit zudem die Fähigkeit, auch ohne kurzweilige Schenkelklopfer sein Publikum in den Bann zu ziehen. Mit ‚Schatten über Schinkelstedt‘ ist ihm ein meisterhafter Debütroman gelungen, der in der Fantasy-Landschaft vollkommen neue Akzente setzt.“

Dieser Klappentext ist ein Meisterstück der Verlagswerbeprosa und lässt sich sehr gut für parodistische Zwecke nutzen. Was der Text verschweigt: Der Autor hat mit „P.L.Ü.S.C.H.“ bereits ein Hörbuch produziert, das diverse Texte, pardon: „Hörbarkeiten“ präsentiert.

Handlung

„Auguste Fledermeyer ist Jahrgang 1517 und verbrachte ihre Jugend als autodidaktisches Kräuterweib. Nach erfolgreichem Ablegen des Schierlingsdiploms kehrte sie als praktizierende Hexe in ihre Heimat im Harz zurück, wo sie mit der lokalen Inquisition in Konflikt geriet. Insgesamt brachte es Auguste dabei auf 37 Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen, bevor sie eines Frühsommertages plötzlich verschwand.“ So beginnt der wortgewandte Chronist der merkwürdigen Vorgänge im Südharz.

Und er fährt fort: „Kürzlich tauchte Frau Fledermeyer, auch zu ihrer eigenen Verwunderung, am Waldrand des harmlosen Städtchens Schinkelstedt wieder auf.“ Schön, dass auch auch Städtchen harmlos sein können! „Und mit ihr eine ganze Reihe anderer Gestalten, die wir eigentlich nur aus Märchenbüchern kennen. Sie verursachen natürlich ein Chaos. Aber die Katastrophe ist beabsichtigt und von den selben Mächten gesteuert, die Auguste einst hinterhältig aus dem Verkehr zogen.“

Um es in Augustes pränanten Worten zusammenzufassen: „Ihr habt mich gefangen genommen, für Jahrhunderte in eine Höhle gesperrt, um mich dann wieder freizusetzen, damit ich die Leute erschrecke. Und anschließend wolltet ihr dann Helden spielen und damit Eindruck schinden. Richtig?“

Richtig, Auguste, prägnanter geht’s nicht. Bliebe noch nachzutragen, wer unter SIE bzw. IHR zu verstehen ist. Es handelt sich um einen späten (sorry, das wäre noch zu klären) Nachfahren jenes Inquisitors Monsignore De Vendetta, der Auguste vor vier Jahrhunderten so ruchlos auf den Scheierhaufen schickte. De Vendetta ist mittlerweile ein enger Freund des Papstes Athanasius XIII. und hat freie Hand erhalten, im Südharz ein, ähem, theologisches Experiment durchzuführen: die Remagikalisierung.

Darunter ist die Freilassung von Fabelwesen diverser Art zu verstehen, aber auch von Hexen wie Auguste. Sie hat den Zweck der Aktion erkannt: Die Fabelwesen sollen die mittlerweile vom rechten Glauben abgefallenen Christenschäflein so in Angst und Schrecken versetzen, dass sie wieder nach der helfenden Hand von Mutter Kirche schreien. Daraufhin konnen De Vendettas Kapuzen-bewehrte Kohorten der katholischen Konfession „Helden spielen und damit Eindruck schinden“, wie Auguste klar erkannt hat.

Fragt sich natürlich, ob die Fabelwesen dabei mitspielen. Auguste hat jedenfalls nicht vor, sich als Marionette ihrer Henker zu deren höherem Ruhm benutzen zu lassen. Sie dringt in die Höhlen ein, aus denen sie kam, und stößt dort auf unerwartete Verbündete. Justament an dem Tag, als der Heilige Vater himself das Projekt De Vendettas loben will, treten sie, ihr Wolpertinger und der echte De Vendetta auf. Die Wirkung ist verblüffend.

Mein Eindruck

Der Geübte wird sofort das grundlegende Problem erkennen, das der Roman aufweist. Um die beiden Zeiten des 16. und des 21. Jahrhunderts zu verbinden, wird ein Mechanismus zur Aufhebung des Zeitflusses benötigt. Als technische Lösung bietet der Autors die Stasis an, also die Aufhebung der Zeit in einem speziell dafür konstruierten Behälter, einem Stasisfass. Wie das Wunderding funktioniert, wird an keiner Stelle erklärt, denn dies ist ja ein Fantasyroman, oder? Na, bitte.

Und dreimal darf man raten, an welchem verborgenen Ort diese Stasisfässer aufbewahrt worden sind: in den Höhlen von Schinkelstedt, versteht sich. Erstaunlich, über welch fortschrittliche Technik das 16. Jahrhundert bereits verfügte. In den Geschichtsbüchern sucht man danach vergeblich. Aber wer weiß, was uns der Vatikan noch alles verschwiegen hat. Das Grabtuch von Turin ist ja schließlich auch bloß eine Fälschung. Wer aber hat das echte?

Der Roman weist ein ganze Reihe solch netter Einfälle auf, doch mit den Erklärungen hapert es ein wenig. Das konnte den Autor aber nicht davon abhalten, eine weitere Terry-Pratchett-Kopie abzuliefern. Nachdem sich schon Gerhard Herm erfolgreich mit [„Der Nomadengott“ 2638 als Mythenzertrümmerer à la Pratchett betätigt hat, konnte das Projekt „Pratchett-Epigone“ wohl kaum schiefgehen.

Selbst die Erhebung von Abstrakta wie „Stille“ und „Schweigen“ zu Subjekten ist dort abgekupfert, und der Wolpertinger ist das beste Beispiel für Pratchetts Technik, noch aus dem Reich der verschrobenen Gedanken von Fantasy-Schriftstellern Fabelwesen entstehen zu lassen. Deshalb verwandelt sich das possierliche Tierchen auch ständig proteusmäßig, einmal sogar in eine Teekanne.

Pratchett hat uns immer wieder gelehrt: Geschichte ist eben nur das, was man daraus macht. Und dieses kleine, unverdächtige Wörtchen „man“ lässt sich von allen möglichen Instanzen missbrauchen, darunter Autoren, Historiker und nicht zuletzt vatikanische Bibelforscher.

Auguste Fledermeyer

Auftritt Auguste Fledermeyer. Sie ist neben dem lokalen Bischof Korkenbaum, der sich mit De Vendettas Projekt herumschlagen muss, die Hauptfigur. Zwar wird sie einigermaßen gut charakterisiert, aber nachdem sie durch die Jahrhunderte geschleudert worden ist, fehlen ihr sämtliche Bindungen, die helfen würden, sie uns als menschliches Wesen näherzubringen. Bis auf eine: das Orakel Eulalia. Leider ist Eulalia jedwedem weltlichen Kontakt abhold und will zunächst nicht einmal mit Auguste sprechen. Das hilft ebenfalls nur wenig, Auguste zu charakterisieren. Notgedrungen lässt uns der Erzähler an Augustes Gedankengängen teilhaben, und die sind nicht sonderlich aufregend oder überraschend. Sie ist wütend. Wer hätte das gedacht?

Natürlich freut sich nicht jeder darüber, am theologischen Experiment des Erzfeindes teilzunehmen. Und das trifft auf Auguste, die 37 Verbrennungen über sich ergehen lassen muste – Hexen brennen nicht, schon gewusst? -, erst recht zu. Folglich nimmt sie den Kampf mit der modernen Welt ebenso auf wie mit den Schergen ihres Widersachers. Diese Schergen erweisen sich meist als rechte Waschlappen, die ihr nichts entgegenzusetzen wissen. Sie braucht deshalb nicht einmal zur Magie zu greifen, die ihr schon in den Fingerspitzen kribbelt. Lediglich ein vorwitziger Biker-Rüpel, der ihr an die Wäsche will, sieht sich unversehens in eine Kröte verwandelt.

Doch wenn es Auguste nicht war, wer hat dann das „harmlose Städtchen“ Schinkelstedt in Brand gesteckt, wie wir am Ende des ersten Teils zu unserer Verblüffung erfahren? Da nirgends eine Erklärung nachzulesen ist, müssen wir wohl annehmen, dass auch dies zum ruchlosen Experiment De Vendettas gehört. Wenn so die „Remagikalisierung“ aussieht, werden wohl auch bald wieder Konzentrationslager eingeführt, oder?

Die Illustrationen

Recht interessant sind die wenigen Illustrationen des Romans. Es handelt sich nämlich um Fotos, die per Solarisation und Adobe Photoshop zu detaillierten Strichbildern in Schwarzweiß verfremdet wurden. So findet sich etwa ein exakt wiedergegebenes Ortsschild des Städtchens Schinkelstedt – neben einer als Hexe kostümierten Frau mit einer aufregenden Figur. Diese Dame namens Equinox soll wohl Auguste Fledermeyer vorstellen.

Auf Seite 73 und dem Titelbild ist der Wolpertinger zu sehen. Das Mischwesen sieht, da es sich ständig verwandelt, jeweils anders aus. Wer mehr davon erfahren will, wende sich an die im Impressum angegebene Wolpertinger Model Agency in Bamberg. Das Impressum ist wohl auch eher parodistisch gemeint, also Vorsicht!

Unterm Strich

Im Subtext seines Romans verbirgt sich die Kritik des Autors an dem wachsenden Einfluss der christlichen Kreise (lies: CDU und CSU) auf den Rest der deutschen Bevölkerung. In der Nachfolge von Pratchetts entlarvenden Parodien verknüpft er die Wiederkehr der Fabelwesen mit einem vatikanischen Komplott, wie es heute in der Nachfolge von Dan Browns Bestsellers immer noch Mode ist. Von „vollkommen neuen Akzenten in der Fantasy-Landschaft“ kann also wohl kaum die Rede sein.

Die Logik der Handlung weist Löcher auf, durch die locker zwei Zeppeline nebeneinander passen. Wie konnte das Stasisfeld im 16. Jahrhundert erfunden werden? Eine hübsche Gelegenheit, Alchimisten vom Schlage eines Dr. Faust auftreten zu lassen, wurde vertan. Auch die Frage, wie Schinkelstedt in Brand gerät, bleibt unbeantwortet. Man kann als zündelnde Übeltäter aber unschwer die Schergen der Inquisition verdächtigen, Beweise jedoch gibt es nicht. Der Brand an sich ist völlig sinnlos und hat weder szenische noch dramaturgische Funktion – er ist reine Kulisse am Rande. Man könnte genausogut den Eiffelturm sprengen und sich am Donnerhall erfreuen.

Der Roman erweist sich insgesamt als netter Versuch eines jungen Schriftstellers. Neben ein paar netten Ideen stößt der erfahrene Fantasyleser aber schon bald auf ein paar Sirnrunzel erzeugende Schwächen, wenn nicht sogar Fehler. Schwächen in der Charakterisierung und der Dialoggestaltung lassen sich aushalten, Logikfehler nicht. Und wer Pratchett gelesen hat, dem werden einige Ideen bekannt vorkommen.

Taschenbuch: 171 Seiten, illustriert
ISBN-13: 978-3-940767-08-0

http://www.andre-ziegenmeyer.de

www.periplaneta.com

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