A.C. Doyle & Herman Cyril McNeile – Der Gezeitenstrom (Sherlock Holmes Folge 48)

Ein toter Angler und jede Menge rote Heringe

Der aufgrund seiner mürrischen Art allseits unbeliebte und verhasste Mr. Yarrow wird ertrunken seinem bevorzugten Angelplatz am Fluss Ling, einem Gezeitenstrom, aufgefunden. Zunächst geht man von einem Unfalltod aus, alsbald deutet aber alles auf Mord hin. Allzu schnell wird ein junger Verdächtiger verhaftet. Und obwohl der Meisterdetektiv diesen für unschuldig hält, findet er zunächst keine Spur zu einem anderen Täter… (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörbuch ab 12 Jahren.

Die Serie wurde mit dem „Blauen Karfunkel“ der Deutschen Sherlock Holmes-Gesellschaft ausgezeichnet.

Die Autoren

1) Herman Cyril McNeile (28. September 1888 – 14. August 1937), meist bekannt als Cyril McNeile der unter dem Namen „H. C. McNeile“ oder dem Pseudonym „Sapper“ veröffentlichte, war ein britischer Soldat und Schriftsteller der Nachkriegszeit. Er starb wahrscheinlich an den Spätfolgen eines Gasangriffs im Ersten Weltkrieg. Die Wikipedia bringt ihn an keiner Stelle in Zusammenhang mit Sherlock Holmes, was erstaunlich ist, denn McNeile schrieb in erster Linie Detektivgeschichten.

2) Sir Arthur Conan Doyle lebte von 1859 bis 1930 und gelangte mit seinen ca. 60 Erzählungen um den Meisterdetektiv Sherlock Holmes zu Weltruhm. Dabei begann der Mediziner, der eine eigene Praxis hatte, erst 1882 mit dem Schreiben, um sein Einkommen aufzubessern. Neben mystischen und parapsychologischen Themen griff er 1912 auch die Idee einer verschollenen Region (mit Dinosauriern und Urzeitmenschen) auf, die von der modernen Welt abgeschnitten ist: „The Lost World“ erwies sich enorm einflussreich und wurde schon 13 Jahre später von einem Trickspezialisten verfilmt. Schon 1913 ließ Doyle eine Fortsetzung unter dem Titel „The Poison Belt“ (dt. als „Im Giftstrom“, 1924) folgen.

Marc Gruppe ist der Autor, Produzent und Regisseur der erfolgreichen Hörspielreihe GRUSELKABINETT, die von Titania Medien produziert und von Lübbe Audio vertrieben wird.

Die bisherigen Folgen der Sherlock Holmes Reihe

Folge 1: Im Schatten des Rippers
2: Spuk im Pfarrhaus
3: Das entwendete Fallbeil
4: Der Engel von Hampstead
5: Die Affenfrau
6: Spurlos verschwunden
7: Der Smaragd des Todes
8: Walpurgisnacht
9: Die Elfen von Cottingley
10: Der Vampir von Sussex / Das gefleckte Band / Der Fall Milverton / Der Teufelsfuß (Neuausgabe)
11: Das Zeichen der Vier (4/2014, Neuausgabe)
12: Ein Skandal in Böhmen (4/2014)
13: Der Bund der Rotschöpfe (5/14)
14: Eine Frage der Identität (9/14)
15: Das Rätsel von Boscombe Valley (10/14)
16: Der blaue Karfunkel
17: Die fünf Orangenkerne
18: Der Mann mit der entstellten Lippe
19: Der Daumen des Ingenieurs
20. Der adlige Junggeselle
21. Die Beryll-Krone
22. Das Haus bei den Blutbuchen
23. Silberblesse (6/16)
24. Das gelbe Gesicht (6/16)
25. Der Angestellte des Börsenmaklers (7/16)
26: Die „Gloria Scott“ (11/16)
27: Das Musgrave Ritual (12/16)
28: Eine Studie in Scharlachrot (2 CDs)
29: Die Junker von Reigate
30: Der bucklige Mann
31: Der Dauer-Patient
32: Der griechische Dolmetscher
33: Das graue Haus
34: Die quietschende Tür
35: Der Hund der Baskervilles (2 CDs)
36: Das unheimliche Pfarrhaus
37: Der verschwundene Kutscher
38: Das Haus mit den Zwingern
39: Eine Frage des Teers
40: Die dritte Botschaft
41: Mayerling (2 CDs)
42: Der Tote im Extra-Waggon
43: Der Zuträger
44: Der zweite Hund
45: Harry Price und der Fall Rosalie
46: Der Mann in Gelb
47: Das verlassene Haus
48: Der Gezeitenstrom
49: Das Grauen von Old Hall
50: Ludwig II. – Der Tod im Würmsee
51: Was das Feuer übrigließ

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher und ihre Rollen:

Joachim Tennstedt: Sherlock Holmes
Detlef Bierstedt: Dr. John Watson
Nicolas König: Mervyn Davidson
Helmut Zierl: Mr. Stapleton
Bernd Kreibich: Dr. Granger
Jonas Minthe: Christopher Stern
Patrick Bach: Mr. Vickers
Horst Naumann: Mr. Yarrow
Sigrid Burkholder: Mrs. Yarrow
Bodo Primus: Richter
Marc Gruppe: Mann
Peter Weis: Mr. Briggs

Die Macher

Regie führten die Produzenten Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden bei Titania Medien Studio und den Planet Earth Studios statt. Alle Illustrationen – im Booklet, auf der CD – trugen Ertugrul Edirne und Firuz Askin bei.

Handlung

Holmes und Watson erhalten Besuch von Mervyn Davidson, der sich an sie wegen eines mysteriösen Todesfalls in seiner Gemeinde am Fluss Ling wendet. Dort wurde der allseits verhasste Mr. Yarrow (dt. „Schafgarbe) ertrunken an seiner bevorzugten Angelstelle im Wasser des Flusses Ling aufgefunden. Der Ling wird von den Gezeiten bestimmt, Mr. Yarrow muss also bei Flut ertrunken sein. Seine Taschenuhr ist stehengeblieben und zeigt nach Auffassung aller den genauen Todeszeitpunkt an: ungefähr drei Uhr nachmittags.

Der Befund des Arztes Dr. Granger, dass Mr. Yarrow erschlagen wurde, ändert alles. Die Polizei habe inzwischen einen jungen Mann namens Christopher Stern verhaftet und wolle ihm den Prozess machen. Sein angebliches Motiv: Er habe sich um Mrs. Yarrow bemüht, die 20 Jahre jünger als ihr Gatte ist und nun ein beträchtliches Erbe erwarten kann. Zudem ist sie immer noch attraktiv. Der junge Stern bestreitet, die Tat begangen zu haben. Holmes empfindet Mitgefühl für den jungen Mann und steht potentiellen Liebespaaren immer günstig gegenüber. Er beschließt, den Fall zu übernehmen, um einen Justizirrtum zu verhindern.

Der Tatort

Holmes‘ Ortstermin wird mit Watson, Davidson, Dr. Granger und dem Polizisten Sgt. Grayson gestaltet. Sie bestätigen lediglich, was Holmes bereits von Davidson weiß. Doch nun tritt auch ein gewisser Mr. Stapleton auf den Plan. Dieser Nachbar von Mr. Yarrow will kurz vor Yarrows Ableben eine Photographie angefertigt haben, die den Angler lebendig zeigen soll. Das Foto zeigt das Flussufer und natürlich den Fluss mit seinem um die Tatzeit üblichen Pegelstand. Oder vielleicht doch nicht?

Kurz vor dem Gerichtstermin, bei dem der junge Christopher Stern zum Tode verurteilt werden soll, bittet Holmes, als Sachverständiger hinzugezogen zu werden. Ihm gelingt es in letzter Sekunde, die zahlreichen Ungereimtheiten dieses Falles zu klären. Wie kann eine hochkarätige Uhr stehenbleiben, wenn das Innere ihres Gehäuses trocken ist? Wie kann eine Fotografie einen Zustand des Tatortes am Fluss zeigen, der nicht dem wahren Tatzeitpunkt entspricht? Ein paar Gezeitentabellen klären den Pegelstand und den Fotozeitpunkt. Aber was bezweckt Mr. Stapleton mit seiner Fotografie? Hat er etwas zu verbergen?

Mein Eindruck

Man sieht schnell: Hier hat es Holmes mit einer ganzen Reihe von Fake News bzw. roten Heringen zu tun. Sie sollen ihn und das Auge des Gesetzes in die Irre führen, so dass ein anderer als der wahre Täter als schuldig verurteilt wird. Dem wahren Täter winken nicht nur die Hand der schönen Erbin Mrs. Yarrow, sondern auch ihr erkleckliches Erbteil, das sie als Witwe zu erwarten hat. Dass es noch einen weiteren, schwerwiegenderen Grund gibt, findet Holmes erst nach der Gerichtsverhandlung heraus. Ein weiterer Nachbar wirft ein ganz neues Licht auf die Beziehung zwischen Mr. und Mrs. Yarrow…

Bemerkenswert ist diesmal ist die Auswertung der Indizien: Sie werden alle widerlegt. Das ist zunächst die Taschenuhr, die angeblich die Tatzeit anzeigt, aber nun kaputt ist. Der Polizist, der dieses Indiz für bare Münze genommen hat, blamiert sich bis auf die Knochen. Dann ist da die Fotografie, die Mr. Stapleton kurz vor der Tatzeit gemacht haben will – wir haben nur sein Wort dafür, denn damals tragen Fotos keinen Zeitstempel. Und schließlich ist da die Tabelle mit den zeitlich exakt eingeordneten Pegelständen. Sie passen nicht zur Szene, die auf der Fotografie zu sehen ist.

Dem Autor ist es gelungen, auf nahezu wissenschaftliche Weise einen Fall, der schon abgeschlossen war, auf den Kopf zu stellen. Eine feine Sache. Die Pointe gibt dem Fall eine weitere, finstere Wendung.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher

Dr. Watson nimmt die Stelle des zweifelnden gesunden Menschenverstandes gegenüber Holmes ein, welcher ein getriebener Junkie der Vernunftarbeit zu sein scheint. Watson ist der Gemütsmensch, ein Jedermann mit dem Herz auf dem rechten Fleck. Holmes jedoch ist nicht nur Kopfarbeiter, sondern auch Schauspieler und Manipulator von Menschen.

Sherlock Holmes

Es gibt mehrere Hauptfiguren, die auch stimmlich herausragen. Am besten gefällt mir Joachim Tennstedt als Sherlock, denn was er in diese Figur hineinlegt, ist sehr sympathisch und humorvoll – so als würde ein strahlender John Malkovich völlig entspannt aufspielen (liegt’s am Koks?). Holmes‘ einziger Fehler ist seine Ablehnung des weiblichen Geschlechts oder vielmehr des Umgangs mit dessen Vertretern. Das soll aber weniger an latenter Homosexualität liegen, als vielmehr an seiner Abneigung gegen jede Art von emotionaler Sentimentalität.

Aber Holmes ist auch ein ausgezeichneter Schauspieler und engagierter Boxer. Ab und zu treibt er sich als aktiver Detektiv in Londons Sauwetter herum und kehrt völlig ausgehungert ins Hauptquartier zurück. Dann darf Mrs. Hudson, die auch hier moralisches Zentrum auftritt, ihm Essen kredenzen.

Dr. John H. Watson

Dr. John H(amish) Watson, 36, ist das genaue Gegenteil seines Freundes: jovial, höflich, frauenfreundlich und durchweg emotional, außerdem glücklich verheiratet. Leider sind seine logischen Schlüsse von dementsprechend unzulänglicher Qualität. Das war zu erwarten und dürfte keinen überraschen.

Nebenfiguren

Zu den Nebenfiguren zählen eine ganze Reihe meist älterer Herrschaften: Yarrow, Stapleton, Dr. Granger, Mr. Vickers und Mr. Briggs. Mrs. Yarrow tritt bedauerlicherweise nur in einer winzigen Rückblende in Erscheinung, dafür hat ihr putativer Liebhaber Christopher Stern (Jonas Minthe) eine größere Szene. Er tritt sehr überzeugend auf, wie alle anderen, so dass Holmes nichts anderes übrigbleibt, als die Fakten sprechen zu lassen.

Geräusche

Eine schier unglaubliche Vielfalt von Geräuschen verwöhnt das Ohr des Zuhörers. Der Eindruck einer real erlebten Szene entsteht in der Regel immer. Papierrascheln, klappernde Teetassen, knisterndes Kaminfeuer in der Baker Street, sowie zahlreiche Naturgeräusche am Tatort – all diese Samples setzt die Tonregie zur Genüge ein, um einer Szene eine Fülle von realistisch klingenden Geräuschen zu vermitteln.

Die Musik

Das Intro, eine Art flott-dezente Teemusik, bildet den heiter-beschwingten Auftakt des Hörspiels und deutet die häusliche Idylle von Baker Street 221B an. Von einem Score im klassischen Sinn kann keine Rede mehr sein. Hintergrundmusik dient nur dazu, eine düstere oder angespannte Stimmung zu erzeugen, und zwar nur dort, wo sie gebraucht wird. Hier steigert sich die Spannung sehr dezent von Szene zu Szene. Wer wie ich eine Soundbar verwendet, hört die tiefen Bässe sofort, die Gefahr und Bedrohung signalisieren.

Das Booklet

Das Titelmotiv zeigt die Szene, in der der alles andere als bedauernswerte Mr. Yarrow mausetot im Fluss Ling treibt. Dargestellt ist mehr oder weniger die Szene, die auf Mr. Stapletons Fotografie zu sehen ist. Der mit Fischen gefüllte Metalleimer am linken Bildrand signalisiert, dass der Angler schon ziemlich erfolgreich gewesen sein muss, bevor er vom Schemel – links hinten – und in den Fluss fiel. Die alles entscheidende Frage lautet allerdings: Ist hier der Pegelstand zu sehen, wie er kurz nach der Tat geherrscht haben muss?

Im Booklet sind die Titel des GRUSELKABINETTS verzeichnet sowie Werbung für den verstorbenen Illustrator Firuz Askin zu finden. Die letzte Seite zählt sämtliche Mitwirkenden auf. Die CD und der Einleger sind mit den Sherlock-Holmes-Motiven versehen, die die Reihe von Anfang an begleitet haben.

Unterm Strich

Wie jeder Krimifreund weiß, gehören zu einer kriminellen Tat drei Dinge: das Motiv, die Mittel und die Gelegenheit. Was aber, wenn eines davon verschleiert und das andere gefälscht ist? Das Mittel zeigt in diesem Fall Dr. Granger: Yarrows Schädel wurde vermutlich mit einem Flussstein eingeschlagen. Alle Indizien zur Tatzeit sind gefälscht. Und das wahre Motiv ist nicht etwa der allgegenwärtige Hass auf den Widerling und Grobian Yarrow, sondern das genaue Gegenteil: Liebe.

Wird die Gerechtigkeit in die richtigen Bahnen gelenkt werden, bevor der Richter den Falschen verurteilt? Wir drücken Holmes die Daumen – auch wenn er diesmal eine sehr lange Leitung an den Tag legt und es sehr spannend macht. Außerdem liegt er mit dem Motiv erst ziemlich falsch.

Das Hörspiel

Diesmal wird der Fall nahezu wissenschaftlich gelöst, denn Holmes zieht Gezeitentabellen und Fotografien heran: Alles muss korrekt belegt werden, denn es geht nicht, dass ein Mensch aufgrund von Fake News sein Leben lassen soll. Bei dieser ernsten Angelegenheit bleibt diesmal der Humor ein wenig auf der Strecke. Aber das ist in Ordnung, denn eine plausible und saubere Auflösung ist mir diesmal lieber als launige Unterhaltung. Das unvermeidliche Schulterklopfen kommt am Schluss dennoch. Diesmal wird es von einer unerwarteten Neuigkeit beendet.

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen.

Die Sprecherriege für diese neue Reihe ist höchst kompetent und renommiert zu nennen, handelt es sich doch um die deutschen Stimmen von Hollywoodstars wie John Malkovich (Tennstedt) und George Clooney (Bierstedt). Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für spannende Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen der Hollywoodstars Clooney und Malkovich vermitteln das richtige Kino-Feeling.

CD: über 67 Minuten
ISBN 97837857-83924
www.titania-medien.de

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