Chinua Achebe – Alles zerfällt

Als „Alles zerfällt“ im Jahre 1958 veröffentlicht wurde, rückte es den jungen Schriftsteller Chinua Achebe schnell in den Fokus aller Fans von Afrika-Literatur, da es zu den wenigen Werken zählte, die nicht über Afrika, sondern sozusagen aus Afrika erzählt wurde. Von einem Nigerianer, der über die jüngste Geschichte seines eigenen Volkes, dem in Nigeria beheimateten Igbo-Stamm, erzählt. Nicht umsonst entwickelte sich das Werk zu einem Klassiker der afrikanischen Literatur, das heute mehr als zehn Millionen Mal verkauft und in 45 Sprachen übersetzt wurde.

_“Alles zerfällt“ spielt_ Ende 19. Jahrhunderts in einem kleinen Dorf des Stammes der Igbo im heutigen Nigeria. Protagonist ist der Stammeskrieger Okonkwo, an dessen Leben exemplarisch der Zerfall der alten Stammesstrukturen der Igbo während der Kolonialisierung durch die Briten dargestellt wird. Der erste Teil des Buches befasst sich zunächst mit dem Auftrieg Okonkwos innerhalb des Stammes. Angetrieben davon, anders als sein Vater zu werden, der als schwacher Taugenichts galt, tut er alles dafür, sich Stellung, Einfluss und Ehre im Stammesgefüge zu erkämpfen und versteckt dabei seine eigenen Ängste und Schwächen hinter betont herrischem, männlichem und zuweilen auch jähzornigem, gewalttätigem Verhalten gegenüber seinen Frauen und Kindern. Dennoch erntet er schnell den Respekt des Stammes, kommt zu Reichtum und gewinnt fast alle Ehrentitel des Stammes für sich. Er gilt als starker Mann, der sich penibel an die Stammesbräuche hält und an Traditionen festhält. Doch schon bald gerät er in einen inneren Konflikt zwischen seinem Starrsinn und seinen Gefühlen, der darin gipfelt, dass er seinen eigenen Adoptivsohn ermordet. Kurz darauf tötet er bei einem Fest versehentlich einen anderen Mann und wird deshalb für sieben Jahre in ein anderes Dorf verbannt.

Zur selben Zeit tauchen englische Missionare im Dorf des Stammes auf, die versuchen, die Einheimischen zum Christentum zu bekehren, ihre Götter diskreditieren, eine Kirche errichten, nicht nur versuchen, ihnen ein anderes Leben näher zu bringen, sondern es ihnen regelrecht aufzwingen. Aus Angst und Unsicherheit schließen sich einige Dorfbewohner den Eindringlingen an, andere versuchen sich, gegen sie zur Wehr zu setzen, allerdings mit wenig Erfolg, wieder andere dulden die Briten und müssen stumm mit ansehen, wie ihr Stamm gespalten und unterdrückt, ihre Kultur zerstört, ihre Religion als falsch dargestellt wird. Als Okonkwo nach seiner Verbannung in das Dorf zurückkehrt, muss er mit Schrecken feststellen, dass sich alles verändert hat. Als einziger setzt er sich offen gegen die Briten zur Wehr, in der Hoffnung, seinen Stamm aufzurütteln und zum Kampf um ihre eigenen Werte zu bewegen. Schnell muss er jedoch merken, dass sein Stamm nicht bereit ist, wirklich zu kämpfen, sondern sich den Briten beugt. Als sogar sein eigener Sohn zum Christentum konvertiert, bricht für Okonkwo eine Welt zusammen. Durch seinen Charakter und seine Ideale unfähig zu Veränderungen und, führt er bald ein Leben in psychischer Isolation und die Verzweiflung darüber, dass seine Welt vor seinen Augen zerbricht, bringt ihn schließlich zu einer letzten hoffnungslosen Tat.

Chinua Achebe hat in seinem Werk auf wirklich einzigartige Weise und aus einer völlig neuen Perspektive die Folgen der Kolonialisierung auf das Volk der Igbo dargestellt. Er vermittelt am Beispiel des Okonkwo und seines Stammes nicht nur so deutlich die Angst, Verzweiflung und den Schock der Stammesangehörigen darüber, dass alles, was sie gelebt haben, falsch sein soll und ihre Götter nicht existieren, sondern gestattet zugleich einen Blick in die Welt der Igbo vorm Eintreffen der Briten. Insbesondere dieser Blick auf das Stammesgefüge, die Stammestraditionen und die Religon der Igbo machen „Alles zerfällt“ so besonders, da einem Autor, der das Geschehen von der anderen Seite her betrachtet, dieser Blick verwehrt bleibt. Greifbar macht er all diese Gefühle durch die Exemplifizierung anhand des extremen Einzelschicksals des Okonkwo, der zwischen Traditionen und Wandel fast zerrissen wird und schlussendlich keine Möglichkeit mehr sieht, diesem Reißen standzuhalten.

_Lesenswert ist „Alles zerfällt“_ also allemal, auch für diejenigen, die sich bisher noch nicht intensiv mit Afrika-Literatur befasst haben. Denn, wie schon gesagt, nicht umsonst, ist dieses Werk ein Klassiker. Einzig „warnen“ sollte ich wohl vor der sehr eigenwilligen Sprache des Buches, die für Leser von moderner Literatur zunächst sehr ungewohnt und schwierig sein wird, auch wenn die neue Übersetzung bestimmt schon für die Modernisierung der einen oder anderen Formulierung gesorgt hat. Doch nach einigen Seiten hat man sich auch an die Sprache gewöhnt, kein Grund also, dieses Werk nicht anzutesten.

Gebunden, 236 Seiten
Originaltitel: Things Fall Apart
Ins Deutsche übersetzt von Uda Strätling und Reinhild Böhnke
ISBN-13: 978-3100005403
www.fischerverlage.de