Adam Nevill – Der letzte Tag

Das geschieht:

Produzent Max Solomon bietet Dokumentarfilmer Kyle Freedman einen ausgezeichnet dotierten Auftrag an: Er soll die Geschichte eines obskuren Kultes nachzeichnen. Ende der 1960er Jahre hatte „Schwester Katherine“, eine skrupellose Seelenfängerin, jene Sekte übernommen, die später unter dem Namen „Tempel der Letzten Tage“ berüchtigt wurde. Sie unterzog ihre Anhänger einer brutalen Gehirnwäsche und verwandelte sie in hörige Sklaven. Von London zog die Gruppe erst in die französische Normandie und später in die Sonora-Wüste des US-Staates Arizona. In einer verlassenen Kupfermine kam es 1975 zum finalen Drama: Katherine ließ sich in der „Nacht des Aufstiegs“ rituell köpfen und die meisten Kultmitglieder ermorden. Nur wenige konnten flüchten, andere blieben spurlos verschwunden.

Mit seinem Kumpel Dan stürzt Kyle sich in die Arbeit. Solomon hat die Überlebenden der Sekte ausfindig machen und als Interviewpartner gewinnen können. Aber noch in London kommt es zu mysteriösen Zwischenfällen: In dem Haus, das der Kult einst bewohnte, hören die beiden Dokumentarfilmer seltsame Geräusche. Die Kamera zeigt eine gruselige Gestalt, die nur teilweise sichtbar ist.

Kyle und Dan scheinen einen echten Spuk aufgezeichnet zu haben. Die anfängliche Euphorie schwindet spätestens in Frankreich. Auf dem Gelände eines verlassenen Bauernhofes, den die Sekte früher bewohnte, werden die unheimlichen Manifestationen nicht nur handfester, sondern deutlich gefährlicher. Vor allem scheinen sie auf Kyle aufmerksam geworden zu sein, den sie nun gezielt verfolgen.

Trotzdem reisen Kyle und Dan in die USA, um dort das Schlusskapitel der Tragödie zu rekonstruieren. Zu spät erkennen sie, dass sie hereingelegt wurden: Der Tod konnte Schwester Katharine keineswegs Einhalt gebieten. Sie hat den „Heiligen Schrecken“ erweckt, der nun mit Macht und mörderisch zurückkehren will …

Geister sind keineswegs altmodisch

Die Freunde des (angeblich) altmodischen Grusels haben es heutzutage nicht leicht. Angstgestalten der Vergangenheit wie Vampir oder Werwolf treiben vor allem als pseudo-brünstige Lachgestalten ihr weichgespültes Unwesen. Für groben Horror sind Zombies zuständig, die in endlosen Wellen immer wieder neu aber einfallsfrei die Welt überrennen. „Subtil“ scheint zum Schimpfwort geworden zu sein; Spuken wurde zu einem Job, der offensichtlich möglichst publikumswirksam über die nächtliche Bühne zu bringen ist.

Umso erfreulicher sind die seltenen aber überzeugenden Gegendarstellungen. Adam Nevill legt mit „Der Letzte Tag“ eine lupenreine Geistergeschichte vor. Sie ist durchaus zeitgemäß, wie schon der heute übliche Umfang von 600 Seiten beweist. Aber auch inhaltlich kann Nevill das Genre um einen bemerkenswerten und erinnerungswürdigen Titel bereichern sowie unter Beweis stellen, dass Geister immer noch unheimlich sind, wenn man weiß, wie man sie darzustellen hat.

Nevills „Alte Freunde“ sind definitiv Gestalten ganz besonders großen Grusel-Kalibers. Dramaturgisch geschickt bleiben sie lange in der Dunkelheit. Im Vordergrund stehen stattdessen die Umtriebe eines jener Kulte, die in der „Flower-Power“-Ära der 1960er und 70er Jahre weltweit aus dem Boden schossen. Eine unzufriedene und suchende Generation probierte neue Lebensentwürfe aus. Nicht jede Gruppe endete als bekiffte, glückliche, dumme Hippies, wie spätestens die „family“ des gescheiterten Musikers Charles Manson belegte, die 1969 in pseudo-religiöser Verblendung blutigen Massenmord beging.

Der alte Teufel Neugier

Nevill orientiert sich in der Schilderung des „Tempels der Letzten Tage“ stark an der Manson-Familie. Er hat die Mechanismen studiert, die den ‚Führerkult‘ ermöglichen, wie er in einem Nachwort anmerkt. Nicht nur Charles Manson, sondern auch Hitler, Stalin oder Pol Pot führten ihre Untertanen in den Untergang. Die wahrlich Verblendeten folgten ihnen bis zuletzt, weil sie ihren eigenen Willen quasi aufgegeben und ihre Persönlichkeit dem ‚Führer‘ untergeordnet hatten. So wurden Einzeltäter zu wahren Massenmördern, denn sie konnten über die entstandene Befehls- und Glaubenskette auf eine ganze Gruppe willfähriger Handlanger zurückgreifen.

Kulte dienen seit jeher vor allem der persönlichen Befriedigung ihrer ‚Führer‘. Unter dem Deckmantel einer alternativen Lebensführung und dem Versprechen, auf diese Weise dem ungeliebten Alltag eine sinnvolle Absage erteilen zu können, fangen sie ihre Schafe, aus deren Wolle sie sich anschließend eine bequeme Hängematte stricken. Selbst Versager und Dummköpfe können zu ‚Führern‘ werden, wenn sie ihre Sirenengesänge in der richtigen Tonlage sowie zur rechten Zeit ertönen lassen.

Üblicherweise enden die Karrieren solcher ‚Führer‘ spätestens dann, wenn sie es mit den Prophezeiungen oder dem persönlichen Luxus übertreiben und ihre Jünger endlich die Augen öffnen. Mancher Kult geht bis zum Äußersten und zerstört sich wie der ebenfalls von Nevill erwähnte „Peoples Temple“ unter seinem selbsternannten Oberhaupt Jim Jones, der im November 1978 mit mehr als 900 Anhängern in den Tod ging.

Das Geschäft mit dem Bösen

Von der Realität schlägt Nevill den Bogen in das historisch belegte Obskure. Schwester Katharine ist auch eine Nachfahrin von Aleister Crowley (1875-1947), dem britischen Okkultisten, der sich u. a. mit einer Gruppe ihm höriger Anhänger 1920 in Sizilien niederließ (und nach einer Reihe von Skandalen 1923 von Mussolini persönlich ausgewiesen wurde). Crowley gab vor, als „Magicker“ Umgang mit übernatürlichen bzw. dämonischen Wesen zu pflegen. Nevill geht einen Schritt weiter: Katharine ist es tatsächlich gelungen, das Tor zu einer fremden Dimension aufzustoßen.

Für die „Alten Freunde“ kreiert Nevill eine fesselnde Herkunftsgeschichte, ohne durch allzu intensive Informationsvermittlung den unheimlichen Kern bloßzulegen. Die „Freunde“ erinnern an jene Kreaturen, die Nevill für seinen Roman „Apartment 16“ geschaffen hat. Sie sind erfreulich weil ausschließlich böse und machen keine Kompromisse, wenn es darum geht, ihr Ziel – die Rückkehr in menschliche Gestalt – zu erreichen.

Die Tragik ihrer gescheiterten und grotesk veränderten Existenz lässt sie nicht freundlicher wirken. Nevill orientiert sich an Montague Rhodes James (1862-1936), den Meister der englischen Gespenstergeschichte. Seine Geister waren stets rachsüchtig und mordlustig. Wer sie aufstörte, musste damit rechnen, auf die Liste ihrer Opfer gesetzt zu werden. Das daraus resultierende Ende war in der Regel übel.

Konzentration auf das Wesentliche

Noch in einem weiteren Punkt hält sich Nevill an James: Eine weibliche Hauptrolle oder gar eine Liebesgeschichte klammert der Autor vollständig aus. Man muss ihn bewundern – für das Risiko, auf zwischenmenschlichen Seifenschaum zu verzichten und so womöglich eine potente Käuferinnenschicht vor die Köpfe zu stoßen, mehr aber noch für die Entscheidung, das Gewicht ausschließlich auf die Geschichte zu legen.

Nicht einmal die Hauptfigur ist ein Sympathieträger, der zur Identifikation einlädt. Kyle Freedman ist ein Besessener, der sein (Privat-) Leben dem Dokumentarfilm geweiht hat. In gewisser Weise folgt er seinem eigenen Kult, der ihm keinen Raum für Familie oder Freunde lässt. Freedman ist ein Gescheiterter, der sich deshalb leicht in Max Solomons Falle locken lässt. Selbst als Freedman weiß, was sich buchstäblich über ihm und seinen Gefährten zusammenbraut, schweigt er, um weitermachen zu können. Viel zu spät erkennt Freedman, welchen Preis er zahlen muss.

„Der Letzte Tag“ ist ein seitenstarkes Buch. Was viele Verfasser erreichen, indem sie die Handlung strecken, bleibt bei Nevill eine rasante Tour de Force stetig wachsenden Entsetzens. Selbst die ausführlichen Ortsbeschreibungen dienen allein der Unterfütterung der Ereignisse. Ausführliche Rückblenden in die Vergangenheit unterbleiben, Nevill lässt die Vorgeschichte der „Alten Freunde“ geschickt weil häppchenweise einfließen.

Den Leser beim Wickel gepackt

Dazu kommt ein bemerkenswertes Talent, Schrecken in Worte zu fassen. Der ‚Held‘ ist ein Dokumentarfilmer, dem das Authentische über alles geht. Auch Nevill beschreibt eher nüchtern, seine Sprache bleibt ausgewogen. Das ausbrechende Grauen ist ‚echt‘, schon sehr früh steht fest, dass es sich hier um keinen Fake-Spuk handelt. Ohne Ablenkung läuft die Handlung einem Finale entgegen, das genretypisch ein wenig zu deutlich wird. Die „Alten Freunde“ treten aus der Dunkelheit, das „Unheilige Schwein“ schließt sich ihnen an, und schließlich taucht sogar Katharine kurz auf.

Nichtsdestotrotz findet Nevill eine schlüssige Auflösung. Er kann es sich sogar gestatten, mit einem Gag zu enden. Damit signalisiert er, dass dem Schrecken eine Grenze gesetzt werden konnte – hoffentlich. Während Kyle Freedman wohl trotzdem keinen inneren Frieden mehr finden dürfte, kann sich der Leser hochzufrieden zurücklehnen: „Der Letzte Tag“ ist Horror in handwerklicher Vollendung. Nach drei immer besser gewordenen Büchern steigert dies die Erwartung auf den nächsten Nevill-Roman.

Autor

Adam L. G. Nevill wurde 1969 im englischen Birmingham geboren. Er wuchs dort sowie auf der Insel Neuseeland auf, später studierte er an der schottischen Universität von St. Andrews. Nach seinem Abschluss schlug Nevill die Laufbahn eines Schriftstellers ein. Es schlossen sich 15 Jahre entsprechender Versuche und ein Leben am Rande des Existenzminimums an, in denen sich Nevill u. a. mehrere Jahre als Pförtner und Nachtwärter in West-London durchschlug; die hier gesammelten Erfahrungen flossen 2010 in den Roman „Apartment 16“ ein.

Seinen ersten Phantastik-Roman, eine Gespenstergeschichte in der Tradition des englischen Großmeisters M. R. James, veröffentlichte Nevill bereits 2004: „Banquet for the Damned“ wurde 2005 von der „British Fantasy Society“ als bester Roman des Jahres nominiert.

Hauptberuflich ist Adam Nevill Herausgeber für erotische Literatur. Nachdem er in dieser Position bis Juni 2009 für „Virgin Books“ tätig war (und selbst neun Romane für Imprints wie „Black Lace“ und „Nexus“ schrieb), wechselte er nach Einstellung dieser Reihen zu „Xcite Books“.

Über sein Werk informiert Adam Nevill auf einer sehr schönen Website.

Paperback: 592 Seiten
Originaltitel: Last Days (London : Macmillan 2012)
Übersetzung: Ronald Gutberlet
ISBN-13: 978-3-453-31433-7
eBook (epub): 898 KB
ISBN-13: 978-3-641-10384-2
www.heyne-verlag.de

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