Agatha Christie – Das unvollendete Bildnis (Hercule Poirot 23)

Vor 16 Jahren starb ihre Mutter als verurteilte Gattenmörderin. War Caroline Crale womöglich unschuldig? Auf Bitte der Tochter rollt Detektiv Poirot den Fall neu auf. Obwohl sich die Zeugen von einst drastisch widersprechen, kann er das Geschehen rekonstruieren, was zu einem dramatischen Ergebnis führt … – Aus fünf scheinbar eindeutigen Zeugenaussagen destilliert Privatermittler Hercule Poirot in seinem 23. Fall nachträglich völlig logisch eine Wahrheit, die mit einem gelungenen Täuschungs-Twist präsentiert wird: Agatha Christie legt einen weiteren Höhepunkt ihrer Serie vor.

Das geschieht:

Carla Lemarchant ist die Tochter einer berüchtigten Mörderin: Vor 16 Jahren wurde Mutter Caroline verurteilt, weil sie Vater Amyas Crale Koniin – das Gift des Schierlings – in sein Bier gemischt hatte, als der gerade auf seinem Landsitz Alderbury in der Grafschaft Devonshire an seinem nun letzten Bild arbeitete: Crale war ein prominenter Maler, aber auch ein notorischer Schürzenjäger, der zum Zeitpunkt seines Todes der blutjungen Elsa Greer verfallen war, der zuliebe er Frau und Tochter Carla – damals fünf Jahre alt – verlassen wollte.

Dies trieb Caroline zu ihrer Tat, obwohl sie Amyas vor Gericht halbherzig Selbstmord unterstellte. Nach einem Gefängnisjahr starb sie – und hinterließ der Tochter einen Brief, den dieser erst jetzt anlässlich ihrer Volljährigkeit ausgehändigt wurde. Hier beschwor Caroline ihre Unschuld, ohne allerdings zu offenbaren, was wirklich geschehen war. Weil sie ihrer Mutter glaubt, wendet sich Carla an Hercule Poirot. Der berühmte Ermittler übernimmt den längst kalten Fall und rollt ihn zum Unmut der damals darin Verwickelten wieder auf. Zunächst befragt er die Polizei sowie diverse Anwälte, bevor er sich den fünf am Tatort präsenten Zeugen widmet.

Die Brüder Philip und Meredith Blake, Nachbarn und Hausfreunde der Crales, die inzwischen mit einem Adligen verheiratete Elsa, Carolines jüngere Schwester Angela Warren sowie deren ehemalige Gouvernante Cecilia Williams werden von Poirot sanft aber intensiv in die Zange genommen. Sie schildern ihre Erinnerungen an den Mord-Tag. Poirot wertet diese Schilderungen mit der ihm eigenen Sorgfalt aus, denn handfeste Indizien existieren längst nicht mehr. Dabei bemerkt der Detektiv gewisse Unstimmigkeiten, die naturgemäß sein Interesse erregen. Er löst das Rätsel und enthüllt schließlich eine Wahrheit, die sämtliche ‚Fakten‘ dramatisch auf den Kopf stellt …

Selbst im Stillstand liegt manchmal Kraft

1942 war Agatha Christie auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskraft. „Das unvollendete Bildnis“ wurde ihr 32. Kriminalroman, und er setzte eine lange Reihe späterer Klassiker fort, die sowohl Kritiker als auch Leser damals begeisterten (und weiterhin fesseln). Christie spürte den Druck, den die daraus resultierende Erwartungshaltung produzierte. Sie interpretierte ihn als Herausforderung und war bereit, inhaltlich wie formal neue Wege zu gehen – mit vorsichtigen Schritten natürlich, denn der „Landhauskrimi“ war nicht das Genre für echte Experimente.

Dieses Mal band sich Christie quasi eine Hand selbst auf den Rücken: Hercule Poirot betritt zwar den Ort des Verbrechens, doch dies geschieht 16 Jahre nach der Tat und belegte höchstens sein Interesse, den Ort der Tragödie wenigstens zu sehen, denn ermitteln kann er in Alderbury nicht mehr. Deshalb schränkt Christie Poirot dieses Mal auf die Funktion des „armchair detective“ ein. Dieses Geschöpf des ‚gemütlichen‘ Krimis („cozy“) vermag die gesamte Arbeit zu leisten, ohne sich aus seinem Sessel zu erheben. Es ist nur ‚Kopf‘ = Geist und in der Lage, Orte und Indizien vor dem geistigen Auge Revue passieren zu lassen, um daraus den Tathergang zu rekonstruieren.

Schon vor Christie gab es Autoren, die diese Konstellation liebten, die (nur scheinbar beschränkten) Möglichkeiten ausloteten, den „armchair detective“ aber auch in ein Klischee verwandelten. Fast vergessen ist heute die „Denkmaschine“ Augustus van Dusen des Schriftstellers Jacques Futrelle, der 1912 mit der „Titanic“ unterging. Präsenter blieb der schwergewichtige, Orchideen liebende Nero Wolfe, den Rex Stout (1886-1975) ab 1933 betont ortsfest Kriminalfälle lösen ließ.

Fünf Erinnerungen an einen Todesfall

Der Fall an sich ist ein genretypisches „Wer-war-es?“-Rätsel: Der Tatverlauf scheint klar, die Schuldfrage eindeutig geklärt zu sein. Am Tag des Mordes waren außer den Crales fünf Personen anwesend, die von der Polizei als Verdächtige aussortiert und zu Zeugen befördert wurden. Primär ihre Aussagen brachten Caroline Crale hinter Gittern, wo sie an gebrochenem Herzen starb.

Bevor Poirot die Zeugen befragt, wendet er sich Polizeibeamten und Anwälte, die vor 16 Jahren den Fall Crale untersuchten. Insgesamt zehn Gespräche fasst Christie als „Buch 1“ zusammen. Es folgen fünf schriftliche Berichte, um die Poirot die Zeugen gebeten hatte („Buch 2“), bevor in „Buch 3“ das obligatorische große Finale den Roman abschließt: Poirot holt die Zeugen zusammen, um ihnen zu schildern, was einst tatsächlich geschah und wer Amyas Crale tatsächlich umgebracht hat.

Obwohl den Lesern die Ereignisse des verhängnisvollen Tages fünfmal präsentiert wird, stellt sich keine Langeweile ein. Christie weiß genau, wie sie ihr Publikum wach und neugierig hält. Dabei streut sie als Anhängerin des ‚fairen‘ Kriminalromans Hinweise ein, die auf den wahren Täter (oder die Täterin; an dieser Stelle soll nichts verraten werden) hindeuten. Wie Poirot sind die Leser angehalten, sie aus dem Schutt theoretisch interessanter aber faktisch irrelevanter bzw. trügerischen ‚Fakten‘ zu sieben: Die Erinnerung kann trügen, und dass gleich mehrere Zeugen die Wahrheit mehr oder weniger ‚verbiegen‘ oder schlicht lügen, ist nach den „Cozy“-Regeln statthaft sowie der Spannung dienlich.

Tricks und Können

Erwartungsgemäß zeichnet Christie ihre Verdächtigen sehr kontraststark. Charakterlich decken sie ein breites Spektrum ab. Etwas zu verbergen haben sie alle. Mehrfach wechselt der Leser das Pferd, wird schwankend in der Zuweisung von Schuld: So hat es Christie als Vollprofi eingefädelt!

Weil ihm keine handfesten Indizien zur Verfügung stehen, setzt Poirot stärker als sonst auf die Psychologie: Er lernt die Zeugen kennen und interpretiert ihre Aufzeichnungen zum Mordgeschehen. Dass diese Texte es nicht akkurat nachzeichnen, ist Poirot bewusst. Es geht ihm um etwas anderes: Keiner der fünf ‚Autoren‘ kann es sich verkneifen, das Crale-Drama subjektiv zu bewerten und zu interpretieren. Dabei wagt sich der Täter ein wenig zu weit aus der Deckung – eine Hoffnung, die Poirot nicht umsonst hegt. Er kennt die Menschen und ihren Geltungsdrang, der sich zum eigenen Schaden Bahn brechen kann, wenn man weiß, wann und wie man ihn weckt.

Selbst die Kapitelüberschriften stehen im Dienst des Handlungsvortriebs. Einmal mehr bedient sich Christie eines alten englischen Kinderlieds, dessen Anspielungen verständlicherweise vor allem dort zur Geltung kommen, wo man es kennt. „This Little Piggie“, in der von Christie zitierten Version erstmals um 1760 belegt, ist jedoch ein auch hierzulande bekannter Abzählreim. („Fünf kleine Schweinchen“ = die Zehen eines Kinderfußes.)

Kunst und Psyche

„Das unvollendete Bildnis“ überrascht durch geradezu ‚moderne‘ Töne. Christie geht offen damit um, dass Amyas Crale ein Ehebrecher war. Seine letzte Eroberung Elsa Greer pfeift noch in der Gegenwart auf die moralischen Vorbehalte jener, die sie als schamloses ‚love interest‘ verdammen. Sie liebte Amyas, sie wollte ihn, sie nahm ihn sich. Demgegenüber gibt der Mann ein jämmerliches Bild ab, denn Amyas drückt sich davor, seine Gattin ins Bild zu setzen, und beruft sich lieber auf die angebliche (moralische) Freiheit des Mannes und genialen Künstlers, der über die Stränge schlagen kann, weil es seinem Werk und damit dem Rest der Menschheit nutzt. Die alte Gouvernante Miss Williams bringt es auf den Punkt: „Die Männer haben alle Vorteile auf dieser Welt. Ich hoffe, das wird nicht immer so sein.“ (S. 127) Christie selbst gehörte zu jenen Frauen, die sich allen (männlichen) Widerständen zum Trotz ihr Stück vom Kuchen sicherten.

Im Finale läuft die Verfasserin zu ganz großer Form auf. Wie sich herausstellt, hat sie gleich zwei Beweisketten geschmiedet, die völlig plausibel zwei Täter ermöglichen. Das Legen einer solch aufwändigen falschen Spur ist eine Mühe, vor der sich vor allem heute viele Krimi-Autoren lieber drücken. Sie bevorzugen den Zufall oder ein Feuergefecht, um im Finale für spannende Unordnung zu sorgen. Christie bleibt dagegen ihrer Linie vom ersten bis zum letzten Satz treu. „Das unvollendete Bildnis“ ist Krimi-Handwerk auf beeindruckendem Niveau: ökonomisch, diszipliniert, dabei spannend und wendungsreich – oder anders ausgedrückt: ein lupenreiner, kein von der Werbung herbeigeredeter Klassiker!

„Das unvollendete Bildnis“ im Fernsehen

„Five Little Pigs“ wurde zur Auftakt-Episode von Staffel 9 der britischen TV-Serie „Agatha Christie’s Poirot“. David Suchet IST Hercule Poirot; er spielte diese Rolle zwischen 1991 und 2013 in 36 einstündigen und 34 spielfilmlangen Folgen. Nichtsdestotrotz gestattete sich die BBC Änderungen der Vorlagen, um diese ‚zeitgemäßer‘ zu gestalten. So ist hier Philip Blake Amyas Geliebter.

In der seit 2009 ausgestrahlten französischen Fernsehserie „Les Petits Meurtres d’Agatha Christie“ taucht Poirot in der Folge „Les Petits Meurtres“ gar nicht auf. Der Roman dient nur als Vorlage einer ansonsten ‚freien‘ Umsetzung, in der ein „Émile Lampion“ in Frankreich ermittelt.

Autorin

Agatha Miller wurde am 15. September 1890 in Torquay, England, geboren. Einer für die Zeit vor und nach 1900 typischen Kindheit und Jugend folgte 1914 die Hochzeit mit Colonel Archibald Christie, einem schneidigen Piloten der Königlichen Luftwaffe. Diese Ehe brachte eine Tochter, Rosalind, aber sonst wenig Gutes hervor, da der Colonel seinen Hang zur Untreue nie unter Kontrolle bekam. 1928 folgte die Scheidung.

Da hatte Agatha (die den Nachnamen des Ex Gatten nicht ablegte, da sie inzwischen als „Agatha Christie“ berühmt geworden war) ihre beispiellose Schriftstellerkarriere bereits gestartet. 1920 veröffentlichte sie mit „The Mysterious Affair at Styles“ (dt. „Das fehlende Glied in der Kette“) ihren ersten Roman, dem sie in den nächsten fünfeinhalb Jahrzehnten 79 weitere Bücher folgen ließ, von denen vor allem die Krimis mit Hercule Poirot und Miss Marple weltweite Bestseller wurden.

Ein eigenes Kapitel, das an dieser Stelle nicht vertieft werden kann, bilden die zahlreichen Kino und TV Filme, die auf Agatha Christie Vorlagen basieren. Sie belegen das außerordentliche handwerkliche Geschick einer Autorin, die den Geschmack eines breiten Publikums über Jahrzehnte zielgerade treffen konnte (und sich auch nicht zu schade war, unter dem Pseudonym Mary Westmacott sechs romantische Schnulzen zu schreiben).

Mit ihrem zweiten Gatten, dem Archäologen Sir Max Mallowan, unternahm Christie zahlreiche Reisen durch den Orient, nahm an Ausgrabungen teil und schrieb auch darüber. 1971 wurde sie geadelt. Dame Agatha Christie starb am 12. Januar 1976 als bekannteste Krimi Schriftstellerin der Welt. (Wer mehr über Leben und Werk der A. C. erfahren möchte, wende sich hierher.)

Taschenbuch: 251 Seiten
Originaltitel: Five Little Pigs (London : Collins 1943)/Murder in Retrospect (New York : Dodd, Mead & Company 1942)
Übersetzung: Cornelia Stoll
www.atlantikverlag.de

E-Book: 988 KB
ISBN-13: 978-3-455-17030-6
www.atlantikverlag.de

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)