Rennie Airth – Orte der Finsternis

Der ehemalige Polizist John Madden wird im Spätsommer 1932 gegen seinen Willen in einen grausamen Mordfall verwickelt: Nahe Highfield, einem Dorf in der südenglischen Grafschaft Surrey, entdeckt man in einem Waldstück die gut versteckte Leiche der zwölfjährigen Alice Bridger. Das Mädchen wurde vergewaltigt und erwürgt, ihr Gesicht mit einem Hammer völlig zerschmettert. Will Stackpole, ein einfacher Constable, ruft Madden, der sich inzwischen als Farmer niedergelassen hat, zur Hilfe. Auch Detective Inspector Wright, der die Ermittlung offiziell übernimmt, hat nichts gegen den Rat Maddens einzuwenden, der als Kriminalist einen legendären Ruf genießt und dessen Kündigung in Scotland Yard noch immer bedauert wird.

Madden, den persönliches Unglück und entsetzliche Erfahrungen in den Schützengräben des I. Weltkriegs seelisch gezeichnet haben, kann sich wider besseres Wissen nicht zurückhalten. Er erkennt, dass man es hier nicht mit einem Gelegenheitsmord zu tun hat. Der Täter ist hoch organisiert und tilgt sorgfältig seine Spuren. So ein Mensch, das ahnt Madden, hat bereits gemordet und wird weitermachen.

Für die Kriminalistik ist die Fahndung nach einem Serienmörder Neuland. Auf Anraten Maddens zieht Wright Scotland Yard hinzu. Tatsächlich lassen sich durch die Nachforschungen zwei ähnliche Fälle nachweisen, die deutlich machen, dass der Killer schon seit mehreren Jahren aktiv ist. Vor allem erkennen die Beamten beklommen ein Muster: Die Brutalität der Bluttaten steigert sich ebenso wie ihre Frequenz. Der Mörder späht bereits sein nächstes Opfer aus. Diese Erkenntnis lässt Madden nicht ruhen. Obwohl die Gefahr eines gesundheitlichen Rückfalls droht, schaltet er sich aktiv in die Ermittlung ein, die identisch mit dem Wettlauf um das Leben eines Kindes ist …

Die inhaltliche Zusammenfassung belegt es: Hier wird dem Genre Krimi kein neuer Meilenstein gesetzt. Der Plot ist ebenso bekannt wie bewährt, er lässt sogar mehr als ein Klischee durchschimmern. Dass er seine Sogwirkung entfalten kann, ist dem Geschick des Verfassers zu verdanken. Rennie Airth weiß genau, wie sich Spannung erzeugen lässt. Zudem platziert er die eigentlich auf Zellophandünne ausgewalzte Story vom irren aber schlauen Serienmörder nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Kulisse des typischen britischen „Landhauskrimis“, wie ihn Ngaio Marsh, Agatha Christie und viele andere Autorinnen und Autoren der „guten“ alten Zeit zur noch heute ungebrochenen Beliebtheit kultivierten.

Im Zeitalter von „CSI“, Kay Scarpetta & den „True Crime“-Shows des Privatfernsehens hat man die unzähligen Als-ob-Lecters satt, die seit mehr als anderthalb Jahrzehnten weltweit die Krimiregale der Buchhandlungen belauern. Die fleißigen Leser wissen längst, wie sie Täterprofile entwerfen können. Alle Spielarten des Grauens sind durchgespielt, die Tiefen serienmörderischer Seelen ausgelotet. Dem begegnet Rennie Airth mit einem simplen aber funktionierenden und geradezu genial anmutenden Trick: Mit dem Serienmord konfrontiert er Ermittler, für die dieses kriminalistische Phänomen unbekanntes Terrain bedeutet. Im idyllischen Neuengland des Jahres 1932 ist es schier unfassbar, dass ein Mörder gezielt und geplant auf die „Jagd“ nach Kindern geht. Solche Täter – das können nach Auffassung der Zeitgenossen nur irre Perverse mit Schaum vor dem Mund sein: Außenseiter, die sich weder an Gesetze noch an gesellschaftliche Regeln halten: Landstreicher, Zigeuner, „Verrückte“.

Genau das ist dieser Mörder jedoch nicht. Man kann ihm nicht mit der altbewährten Polizeiarbeit beikommen. Dieser Täter weiß um die Kraft von Indizien, die er deshalb planmäßig tilgt. Solch „böse“ Intelligenz überfordert die Polizei, die in diesem Jahr 1932 höchstens mit einem Bein in der modernen Zeit steht. Viel getan hat sich in den Ermittlungsmethoden seit zu vielen Jahren nichts mehr. Völlig unbeachtet blieben u. a. die Erkenntnisse der Psychologie, einer noch jungen Wissenschaft, die Aufsehen aber – vor allem bei den konservativen Kräften – auch Misstrauen erregt: Das Verbrechen als Krankheit – das ist ein Denkansatz, der die meisten Menschen überfordert. Auf dem europäischen Kontinent ist man in dieser Hinsicht fortschrittlicher, doch das britische Establishment prägt auch die hohen Ränge der Polizei und hegt großes Misstrauen gegen solche „ausländischen“ Narreteien. Dies weiß der Mörder und nutzt es aus.

Im letzten Drittel von „Orte der Finsternis“ weitet sich die Perspektive. Der Leser kann die Polizei wie bisher bei ihrer Arbeit beobachten. Rasche Aufklärung tut Not, das hat uns der Verfasser klargemacht. Airth schürt die Spannung, indem er schildert, wie an anderer Stelle der Mörder seine nächste Bluttat vorbereitet. Ihn dabei lesend zu „beobachten“ und nichts ausrichten zu können – das ist Hitchcockscher „suspense“ in Vollendung! Quälend langsam bewegen sich die beiden Handlungsstränge aufeinander zu. Niemals darf man sicher sein, dass sich das Verbrechen verhindern lässt. Das Finale verschont uns mit Wundertüten-Action und wird dennoch nicht enttäuschen. Ein Happy-End bleibt ohnehin aus – der Epilog beschreibt, wie in Europa die Lichter ausgehen und die Dunkelheit schließlich auch die britische Insel erreichen wird.

„Orte der Finsternis“ muss vor allem der in dieser Hinsicht mit Erfahrungen allzu reich gesegnete Ex-Inspektor Madden aufsuchen. Ihn hat das Schicksal fast ein wenig zu sehr gepiesackt: Die erste Familie fiel der Grippe zum Opfer, den verzweifelten Witwer verschlug es in die Schützengräben des „Großen“, d. h. Ersten Weltkriegs, dem er nicht nur mit körperlichen Blessuren, sondern vor allem mit einem ernsthaften seelischen Knacks gerade eben entkam. Madden wurde ausgerechnet Polizist und als solcher 1921 in ein so grausames Verbrechen verwickelt, dass es ihn seine geistige Gesundheit und fast das Leben kostete (s. „River of Darkness“; 1999; dt. „Nacht ohne Gesicht“, Goldmann-TB Nr. 44917).

Erst die Rückkehr ins „zivile“ Leben, eine zweite Heirat und die Gründung einer neuen Familie wurden Madden zur Rettung. Doch er leidet unter der typischen Krankheit aller fähigen literarischen Detektive: Er weiß zu viel und ist gleichzeitig zu schwach, sich seiner deduktiven Instinkte zu erwehren. Madden ist zudem als Ermittler zu erfolgreich gewesen, als dass ihn seine ehemaligen Kollegen vergessen hätten. Insofern hat er von Anfang an keine Chance, sich seiner Verantwortung – und so sieht er es – zu entziehen. 1932 kehrt Madden dorthin zurück, wo er keineswegs sein möchte und wohin er sich gleichzeitig sehnt: in die Welt der Kriminalistik nämlich, die ihn mit offenen Armen aufnimmt (und umgehend zu würgen beginnt).

Airth stellt Madden in eine Welt, die mit einprägsamen Figuren reich gesegnet ist. Herauszuheben ist eine Nebenperson, die nur kurz auftritt und doch von großer Bedeutung ist: Dr. Franz Weiss ist nicht von ungefähr ein Landsmann von Sigmund Freud, ebenfalls Psychiater und als solcher wenigstens ansatzweise in der Lage, das Bild von der Psyche des Mörders so zu entwerfen, wie es der zeitgenössischen Forschung möglich ist. Außerdem stellt Weiss eine Identifikationsfigur dar: Diese Geschichte spielt 1932, d. h. nur kurz bevor in Deutschland die Nazis die Macht an sich reißen. Deutschland, bald ein weiterer „Ort der Finsternis“, spielt in Airth’ Roman eine wichtige Rolle: Nur die Situation, welche diesseits und jenseits des Kanals von Verwirrung und Misstrauen geprägt ist, und die damit einher gehende Verrohung der politischen „Sitten“ ermöglicht dem Killer sein Wirken.

Dieser Killer ist eine Figur, die so im „echten“ Landhauskrimi niemals aufgetreten wäre. Zu nahe an unbehaglichen, inzwischen bekannten Tatsachen über psychopathische Serienmörder bewegt sie sich. Die Platzierung im Historienkrimi erspart es Airth (und uns), den Mörder mit blutig-bizarr-exotischen Sonderlichkeiten auszustatten; er wirkt im Verborgenen und tritt nie auf, um uns womöglich mit „kultigen“ Lector-Witzchen zu drangsalieren.

Sehr nahe kommt Airth dem klassischen Landhauskrimi indes mit dem Figurenpersonal, das er in die Landschaft von Surrey versetzt. Hier wimmelt es von Bauern, Arbeitern und Hausmädchen recht schlichten Gemüts. Jede/r weiß in diesem Jahr 1932 noch, wo sein oder ihr Platz in der Gesellschaft ist. Die einzige Unterbrechung bedeutete bisher der I. Weltkrieg, der auch anderthalb Jahrzehnte nach seinem Ende Spuren hinterlassen hat. Nicht nur John Madden leidet darunter. Praktisch alle Männer seiner Generation haben entsprechende Erfahrungen gemacht, was sie manchmal endgültig aus der Bahn geworfen hat.

Erstaunlich wenig ist trotz Internet über Rennie Airth bekannt. Er wurde bereits 1935 in Südafrika geboren und arbeitete als Auslandskorrespondent für |Reuters|. Heute lebt er in Italien. Als Schriftsteller wurde er zum ersten Mal um 1970 mit den Romanen „Snatch“ und „Once a Spy“ aktiv. Fast dreißig Jahre später entstand „River of Darkness“ (1999; dt. „Nacht ohne Gesicht“), der erste Krimi mit John Madden.

Taschenbuch: 448 Seiten
Originaltitel: The Blood-Dimmed Tide
www.randomhouse.de/Verlag/Goldmann