Alma Katsu – The Hunger. Die letzte Reise

1846 schleppt sich ein Siedlertreck schlecht vorbereitet nach Westen. Die Gruppe ist untereinander zerstritten, falsche Entscheidungen werden getroffen, bis man im unwegsamen Gebirge strandet. Der Winter kommt, die Nahrung wird knapp, und aus dem tiefen Wald greift eine böse Macht nach ihren hilflosen Opfern … – Eine tragische Episode der US-Geschichte wird mit phantastischen Elementen aufgeladen und ‚erklärt‘. Die Schilderung des harten Treckalltags überzeugt, während Story und Figurenzeichnung etwas zu deutlich auf eine zukünftige TV-Serie ausgerichtet sind: solides, aber wenig originelles (Psycho-) Gruselgarn.

Das geschieht:

Im Sommer des Jahres 1846 bricht in Springfield, einer Stadt im US-Staat Illinois, ein Treck von Siedlern auf, die ihr Glück in Kalifornien versuchen wollen. Dort lockt fruchtbares Land, auf das (außer den einheimischen Indianern – Pech für sie) niemand Ansprüche erhebt. Zudem bietet der Aufbruch in den Westen die Möglichkeit auch eines gesellschaftlichen Neuanfangs, da man alte Sünden im Osten zurücklassen kann.

Doch der Weg ins gelobte Land ist weit und mühsam. Brennende Wüsten, hohe Gebirge und noch höherer Schnee sind nur einige der Schwierigkeiten, denen die Siedler nicht immer gewachsen sind. Die Gruppe um George Donner ist dafür ein Paradebeispiel. Man ist schlecht ausgerüstet, trödelt herum und ist untereinander notorisch zerstritten. Donner ist ein untauglicher Anführer, dessen Ruf zusätzlich darunter leidet, dass ihm Gattin Tansen Hörner aufsetzt.

Um verlorene Zeit einzuholen, trifft Donner die verhängnisvolle Entscheidung, eine ‚Abkürzung‘ einzuschlagen. Niemand kennt diese Route wirklich, die tatsächlich für schwer beladene Planwagen untauglich ist. Nur unter Aufbietung der letzten Reserven überwindet die „Donner-Party“ dieses Hindernis, doch es ist zu spät: Der Winter bricht an, sodass die Gebirgskette der Sierra Nevada nicht mehr überquert werden kann. Die Gruppe sitzt in der Falle; die Nahrung geht zu Ende, und die eisige Kälte nimmt stetig zu.

Das lockt Kreaturen an, die weder Mensch noch Tier sind, aber einen unstillbaren Hunger auf Menschenfleisch entwickeln. Sie kreisen die „Donner-Party“ ein und bescheren ihr ein Ende, das schlimmer ist als der Tod …

Das reale Rätsel als Quelle der Inspiration

Die Fakten stehen fest; sie werden in einem Nachwort zum hier vorgestellten Roman kurz und prägnant zusammengefasst und erzählen eine schaurige, traurige Geschichte aus der Siedler-Ära des US-amerikanischen Westens. Das Ende der „Donner-Party“ war im Rückblick vorgezeichnet, und es war selbstverschuldet. Zudem war dies keineswegs der einzige Siedlertreck, der tödlich scheiterte. Dennoch hat sich gerade diese historische Episode in die kollektive Erinnerung der US-Amerikaner quasi eingebrannt.

Das liegt nicht nur an den erschütternden Leiden der Treck-Mitglieder, sondern primär an einer ‚Tatsache‘, die zwar nie eindeutig belegt werden konnte, aber aufgrund der zeitgenössischen ‚Berichterstattung‘ für bare Münze genommen wurde: Um zu überleben, haben die Mitglieder der „Donner-Party“ demnach ihre verstorbenen Familienmitglieder und Mitreisenden gefressen und womöglich sogar Pechvögel geschlachtet, wenn keine Leichen mehr zur Verfügung standen!

Aus solchem Stoff werden Legenden gewoben. Selbstverständlich hat sich die gruselige Variante der Ereignisse von 1846/47 durchgesetzt. Kannibalismus ist zumindest im abendländischen Kulturkreis schon so lange ein Tabu, dass ein Verstoß nachhaltig für Verstörung, Ablehnung und angenehmes Gruseln gleichzeitig sorgt. Schon die Überlebenden des Donner-Trecks waren und blieben stigmatisiert. Wer niemals in ihrer Haut gesteckt hatte, war trotzdem gern bereit ein Urteil zu fällen, das selbstverständlich die „Menschenfresser“ verdammte.

Der verhängnisvolle Traum vom Westen

Selbst ohne phantastische Einschübe sorgt die Geschichte der „Donner-Party“ für (mehr als) Unterhaltung. Hier trifft zu, was oft nur Sprichwort bleibt: Die Realität übertrifft die Fiktion. Man wird in eine Zeit zurückversetzt, in welcher der Aufbruch in ein neues Leben buchstabengetreu umgesetzt werden konnte. Nachdem das Land für neue Siedler im Osten der USA allmählich knapp wurde, zogen abenteuerliche (oder verzweifelte bzw. ahnungslose) Familien nach Westen. Sie schoben die „frontier“ immer weiter, wobei zur Zeit der „Donner-Party“ der mittlere Westen weitgehend ausgespart blieb. Das Gelobte Land lag jetzt (angeblich) an der Pazifik-Küste bzw. in Kalifornien, einer Region, die 1846 Kriegsgebiet war. Erst im Januar 1847 musste Mexiko nach einem verlorenen Krieg Kalifornien (und weitere südwestliche Gebiete und spätere US-Staaten) an die Vereinigten Staaten abtreten.

Gerüchte, Übertreibungen und Lügen über ein Land, in dem für Siedler Milch & Honig flossen, lockten Menschen, die nicht selten schon mit der weiten Anreise durch Wüsten und Steppen sowie über schroffe Bergketten überfordert waren. Angeheuerte Scouts entpuppten sich als Aufschneider und Betrüger. Schon die bewährten Routen waren gefährlich, weshalb angebliche ‚Abkürzungen‘ gemieden werden sollten.

Alma Katsu schildert am realen Beispiel der „Donner-Party“ einen solchen Siedlertreck nach Westen. Es gelingt ihr herauszustellen, wieso diese Gruppe die durchaus bekannten Tatsachen ignorierte: Der Wunsch nach Glück vernebelte den Realitätssinn. Sie stellt uns außerdem eine ‚Gemeinschaft‘ vor, die nicht an einem Strang zieht, obwohl es die äußeren Umstände fordern. Nur das Ziel eint diese Menschen, die ansonsten eifersüchtig auf ihre Rechte pochen. Meist sind es Familien, die nach Westen ziehen. Sie bleiben unter sich, und sie haben kein Problem damit, weniger glückliche Mitreisende buchstäblich verhungern zu lassen. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass sich Schwierigkeiten keineswegs in Nichts auflösen, wenn man sie zurücklässt. Darauf setzen und hoffen viele Mitglieder der „Donner-Party“, doch sie müssen feststellen, dass Probleme überaus wanderlustig sind und ihre Opfer vergnügt begleiten.

Wenn Fehler in den Tod führen

Schon die reale Geschichte der „Donner-Party“ hat für eine Flut mehr oder weniger sachlicher Berichte gesorgt. Auch die (meist triviale) Literatur hat sich dankbar der Ereignisse bedient. Alma Katsu hat sich besagter Flut entgegengestemmt. In einem Nachwort beschreibt sie die daraus resultierenden Schwierigkeiten und nennt einige Werke, denen sie die notwendige historische Authentizität zuspricht.

Dass Katsu ihr Historien-Drama mit Horror-Elementen anreichert, ist eine Entscheidung, die in der Umsetzung beim Leser gemischte Gefühle erzeugt. Der Alltag eines Siedlertrecks wird unter ihrer Schreibhand durchaus plastisch, Katsu hat gründlich recherchiert. Allerdings lässt sich bei der Lektüre eine Frage recht bald nicht mehr unterdrücken: Welchen Sinn hat die (übrigens aufwendig bis umständlich ‚erklärte‘) Heimsuchung durch untote Gestaltwandler eigentlich? Die Story würde ohne diesen ‚Zusatz‘ funktionieren, denn Katsu stellt nicht den ‚realen‘ Horror, sondern jene Schrecken, die sich der Mensch selbst bereitet, in den Vordergrund.

Jede Hauptfigur schleppt ein ungelöstes Lebensproblem mit sich. Die lange Reise nach Westen bekommt ihm vorzüglich, bis es irgendwann kein Geheimnis mehr bleibt, sondern dramatisch und mit spektakulären Folgen enthüllt wird. Bis es soweit ist, gesellt sich besagtes Problem zum Treckalltag und schürt die daraus resultierenden Konflikte. Sie sorgen darüber hinaus für jene Fehlentscheidungen, die der „Donner-Party“ ein qualvolles Scheitern in einer gnadenlosen Winter-Hölle bringen.

Das wird (TV-) Folgen haben!

Der Plot ist interessant, der historische Aufhänger fesselt, die Umsetzung ist handwerklich solide. Dennoch kann „The Hunger“ nicht wirklich zufriedenstellen. Zu deutlich scheint sich die Konstruktion dieser Story an einer zukünftigen (Mini-) TV-Serie zu orientieren. Sieben Großkapitel geben spätere Episoden praktisch vor.

Man sieht diese beim Lesen schon vor sich, weil Katsu nicht gerade raffiniert vorgeht. Also werden die persönlichen Probleme der Protagonisten breit ausgewalzt. Mehrfach unterbricht Katsu den Erzählfluss, um einschlägige Rückblenden einzublenden, die ein Drehbuch vorwegnehmen. Dabei trägt die Autorin Sorge, ein möglichst breites = massentaugliches Spektrum menschlicher Beschwerlichkeiten auszubreiten. Unglückliche Liebe, Homosexualität und berufliches Scheitern sind nur einige Beispiele, die aus der „Donner-Party“ eine Karawane der seelisch schwer Beladenen machen. Vor allem mit Mittelteil bremsen solche Einschübe die Handlung empfindlich ab; eine Ansicht, die jedoch nur zutrifft, wenn man dem eigentlichen Geschehen den Vorrang gibt. Doch ist dies die Intention der Autorin? Dies zu entscheiden fällt schwer. Zwar räumt sie dem Übernatürlichen viel Raum ein, doch geschieht dies offensichtlich auch, um einer ansonsten recht bekannten Geschichte ein wenig Würze zu verleihen.

Katsu selbst freut sich in ihrem Nachwort darüber, dass Produzent (und Regisseur) Ridley Scott ihren Roman als Drehbuchvorlage angekauft hat. Er soll offenbar der (dritten Staffel der) Serie „The Terror“ als Vorlage dienen. Genau daraus speist sich ein weiterer Kritikpunkt. Staffel 1 der genannten Serie basierte auf dem Roman „The Terror“ von Dan Simmons. Er beschreibt die katastrophal gescheiterte Arktis-Expedition unter Admiral Sir John Franklin, die übrigens ebenfalls 1846 stattfand. Dramaturgisch scheint Katsu in den Fußstapfen von Simmons und Scott zu wandeln, die Parallelen sind unverkennbar, selbst Details – so der ‚Opfertod‘ von Tansen Donner, der den von Dr. Goodsir in der TV-Serie widerspiegelt – werden aufgenommen.

Für einen letzten Minuspunkt sorgt ein finaler ‚Höhepunkt‘, der deutlich verrät, dass Katsus Augenmerk eben nicht der (vordergründigen) Handlung gilt. Der Horror verpufft wie ein zündschnurfeuchter Knallkörper. Die ‚dämonisierten‘ Opfer des „Hungers“ springen weiterhin durch die Wälder der Sierra Nevada, aber statt nun über die Rettungsexpedition herzufallen, glänzen sie durch Abwesenheit – eine Entwicklung, die dem bisher Erzählten widerspricht und das zwiespältige Urteil über einen Roman fixiert, der wieder einmal primär von der Werbung zum Lese-Ereignis hochgejubelt wird, ohne sich faktisch über Mittelmaß erheben zu können.

Autorin

Als Tochter eines US-amerikanischen Vaters und einer japanischen Mutter wurde Alma Katsu am 29. November 1959 in Fairbanks, Alaska, geboren. Ihre Jugendjahre verbrachte sie im US-Staat Massachusetts, wo sie in den 1970er Jahren Literatur und Kreatives Schreiben an der Brandeis University studierte. (In den frühen 2000er Jahren schloss sich ein weiteres Studium an der John Hopkins University, Maryland, an.)

Ein erster Roman („The Taker“) erschien 2011 und wurde zu einer Trilogie ausgebaut. Sie schildert das Leben einer unsterblichen Frau, die an ihrem unendlichen Leben und den damit verbundenen Problemen verzweifelt. Nach einer vierjährigen Pause veröffentlichte Katsu „The Hunger“, erneut ein Roman mit phantastischen Elementen, der das Interesse der Autorin an der US-Geschichte widerspiegelt.

Paperback: 447 Seiten
Originalausgabe: The Hunger (New York : G. P. Putnam’s Sons/Penguin Group 2018)
Übersetzung: Michael Pfingstl
http://www.randomhouse.de/heyne
www.almakatsubooks.com

E-Book: September 2018 (Heyne Verlag)
6238 KB (Kindle)
ISBN-13: 978-3-6412-2627-5
http://www.randomhouse.de/heyne

Der Autor vergibt: (3.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)