Andrea Camilleri – Das Spiel des Poeten. Commissario Montalbano liest zwischen den Zeilen


Der Kommissar, die Sexpuppe und der Zauberlehrling

Das greise Geschwisterpaar Gregorio und Caterina Palmisano lebt seit Jahren zurückgezogen in religiösem Wahn. Doch neuerdings feuern die Palmisanos Schüsse ab, sobald Nachbarn sich der Wohnung nähern. Als Commissario Montalbano der Sache nachgeht, findet er sich, mit einer Pistole bedroht, inmitten eines Meeres von Kruzifixen wieder.

Nachdem die Situation unter Kontrolle gebracht worden ist, entdeckt Montalbano im Schlafzimmer eine malträtierte Gummipuppe. Und wenig später taucht in einem anderen Stadtteil eine weitere Puppe mit denselben Blessuren auf.

Darüber hinaus macht ihm eine weitere Herausforderung zu schaffen: Ein anonymer Verfasser schickt ihm kryptische Botschaffen in Reimform zu, die ihn schließlich auf die Spur eines seit Jahren ungeklärten Falles bringen: das mysteriöse Verschwinden eines Mädchens, dessen Leiche nie gefunden wurde… (Verlagsinfo)

Der Autor

Andrea Camilleri ist kein Autor, sondern eine Institution: das Gewissen Italiens. Der 1925 in dem sizilianischen Küstenstädtchen Porto Empedocle geborene, aber in Rom lebende Camilleri ist Autor von Kriminalromanen und -erzählungen, Essayist, Drehbuchautor und Regisseur. Er hat dem italienischen Krimi die Tore geöffnet.

Die Hauptfigur in vielen seiner Romane, Commissario Salvo Montalbano, gilt inzwischen als Inbegriff für sizilianische Lebensart, einfallsreiche Aufklärungsmethoden und südländischen Charme und Humor. Er ermittelt in komplett erfundenen, aber „echt“ erscheinenden Orten wie Vigàta und Monte Lusa.

Allerdings ist der Commissario nicht der Liebling aller Frauen: Zu oft hindert ihn sein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein daran, dringende Termine mit seiner festen Freundin Livia wahrzunehmen, mit der er seit Jahren verlobt ist, die aber in Genua lebt, also aus „dem Norden“ kommt. (Auch Camilleris Frau stammt von dort, aus Mailand.)

Ein paar Montalbano-Krimis:

– Die Form des Wassers
– Das Spiel des Patriarchen
– Der Hund aus Terrakotta
– Die Stimme der Violine
– Der Kavalier der späten Stunde
– Der Dieb der süßen Dinge
– Die Nacht des einsamen Träumers
– Das kalte Lächeln des Meeres
– Die dunkle Wahrheit des Mondes
– Die schwarze Seele des Sommers
Und viele weitere.

Handlung

Schüsse fallen in Vigata, mitten auf der Straße! Ein Großaufgebot der Polizei und der Medien belagert das dreistöckige Haus des greisen Ehepaars Gregorio und Caterina Palmisano. Commissario Montalbano liest konsterniert und mit wachsender Sorge die Plakate, die die beiden Alten über die Brüstungen ihrer diversen Balkone gehängt haben. Was dort steht, zeugt nicht nur von religiösem Wahn, sondern auch von nahem Unheil. Und nun die Schüsse: aus zwei Gewehren und einem Revolver. Alles geht in Deckung.

Da hilft nur ein Zwei-Fronten-Angriff, entscheidet Montalbano und teilt seine Leute ein. Minuten später erklettert er eine Leiter der Feuerwehr, um ins Obergeschoss zu gelangen. Diesmal fallen weitaus mehr Schüsse seitens der Polizisten, die ihm Feuerschutz geben. Glücklich gelangt Montalbano auf den ersten Balkon, Fazio folgt, zusammen stürmen sie die Wohnung. Sie treffen auf keinerlei Widerstand, sind aber erstaunt über die Unmengen von Kruzifixen aller Größen. Da bekommt sogar der Commissario unheimliche Anwandlungen.

Nachdem endlich Cateria Palmisano vom anderen Team überwältigt worden ist, lässt sich auch Gregorio widerstandslos festnehmen. Aber er protestiert heftig, als sich der Commissario allzusehr für die Gummipuppe in seinem Bett interessiert. Diese mindestens 30 Jahre alte Aufblaspuppe ist x-mal geflickt worden und derart beschädigt, dass man schon einen sehr andersartigen Geisteszustand braucht, um sie noch attraktiv zu finden.

Seltsamer- oder bezeichnenderweise ist es gerade diese Gummipuppe, die in der Reportage von televigata immer und immer wieder gezeigt wird. So lange, bis sich die Kirche und diverse Minister bemüßigt fühlen, erst zu jammern und zu klagen, dann aber die Kassette mit dem Filmmaterial beschlagnahmen zu lassen. Montalbano schüttelt nur den Kopf, und als auch noch Livia die Sprache die Puppe bringt, platzt ihm endgültig der Kragen. In welchem Land leben wir eigentlich, fragt er sich.

Das Rätsel

Vor lauter Aufregung hat er den Brief vergessen, den jemand unter seiner Haustür durchgeschoben hat. Ein anonymer Briefschreiber gibt ihm ein Rätsel in gereimten Versen auf. Als er den Brief wiederentdeckt, macht er sich an die Aufgabe, das Zahlenrätsel auszurechnen: Herauskommt eine Telefonnummer. Das war aber auch zu leicht, findet er: Es ist die Nummer seiner Bar in Marinella. Doch dort wartet schon ungeduldig ein zweiter Brief, eine zweite Aufgabe. Es handelt sich um eine Ortsangabe mit einer Serpentinenstraße nahe Vigata.

Wie sich herausstellt, gibt es von Vigata keine Straßenkarte, und den – vorläufigen – Bebauungsplan behandelt die Straßenverwaltung, als wären es die englischen Kronjuwelen: Nur eine amtliche Anfrage mit Brief und Siegel reicht aus, um dieses Top-Secret-Dokument zu erhalten. Eine Anfrage bei Google Maps wäre vielleicht schneller gegangen, aber Montalbano lehnt das Internet ab und lässt allenfalls andere recherchieren. Catarella, der eifrige, aber etwas unterbelichtete Pförtner, ist ein Ass am PC.

Die Puppe

Die Gummipuppe entwickelt allerdings ein seltsames Eigenleben. Als eine Anwohnerin Zeter und Mordio schreit, im Müllcontainer ihrer Straße befinde sich eine Leiche, lässt Montalbano alles anfordern, was Beine hat. Wie peinlich aber seine Erkenntnis, dass es sich dabei erneut um eine alte, lädierte Gummipuppe à la Gregorio Palmisano handelt! Sie sieht einer Frauenleiche verblüffend ähnlich. Während ihm seine Kollegen gewisse unerfüllte Bedürfnisse zu unterstellen beginnen, wundert sich der Commissario, wer es nötig hat, eine nahezu exakte Kopie von Gregorios Puppe herzustellen.

Dass Montalbano die beiden Exemplare ausgerechnet in seinem eigenen Besenschrank „parkt“, verursacht bei seiner auf Reinlichkeit bedachten Haushälterin Adelina, die so göttlich zu kochen weiß, für einen Ohnmachtsanfall. Ihr Enkel Pasquale macht Montalbano eindeutig zweideutige Angebote, die junge, willige Damen aus Moldawien betreffen. Wütend und sprachlos knallt Salvo den Hörer auf die Gabel. Wann hat dieser Wahnsinn nur ein Ende?

Zauberlehrling

Er wendet sich an Infrid Sjöström, eine distinguierte Exgeliebte, deren Mann regelmäßig längere Zeit in Rom weilt. Wenn sie sich einsam fühlt, umgibt sie sich mit einem willigen Mann – oder einer Frau. Hausangestellte wechselt sie wie andere ihre Hemden. Zu einem Abendessen mit Salvo ist sie stets bereit. Am Ende dieses Abends erwähnt sie Arturo Pennisi, einen jungen Verehrer, der sich sehr für Salvos Arbeit interessiert.

Bei einem ersten Gespräch mit Arturo findet Montalbano, dass der eifrige junge Mann mit seiner Brille aussieht wie Harry Potter. Um herauszufinden, der Bursche, der sich für ein Cleverle hält, wirklich ist, gibt er ihm die Rätselbriefe zu lesen. Im Handumdrehen hat Arturo die Zahlenrätsel und Codes geknackt, aber die späteren Reime lassen Unheil vorausahnen. Als ob er, Montalbano, dies nicht selbst wüsste! Doch im Umgang mit den Straßenplänen von Vigata begeht Arturo einen Fehler, an den sich Montalbano erst viel später erinnern wird.

Verschwunden

Ein trauriger Vater, der weit außerhalb der Stadt wohnt, spricht beim Commissario vor, seine 18-jährige Tochter Ninetta, eine Schülerin, sei nicht von einem Besuch bei ihrer Freundin nach Hause zurückgekehrt. Sie hätte zwei Busse nehmen müssen, um nach Hause zu gelangen. Sie hätte niemals ihre schwerkranke Mutter im Stich gelassen, also muss ihr etwas zugestoßen sein.

Da erinnert sich Montalbano an die Aussage eines gutbetuchten „Ingegnere“, der seinen teuren Geländewagen als gestohlen gemeldet hat. Tatsächlich hat er seinen Wagen sogar am Stadtrand gesehen, und darin saß ein Mann, der gerade den Kopf einer Blondine nach unten drückte. Ninetta ist eine Blondine. Die Fahndung nach diesem SUV, die Montalbano (inoffiziell, denn wieder einmal ist ihm der Fall von höherer Stelle entzogen worden) sofort an Fazio rausgibt, fördert lediglich das ausgebrannte Wrack des Wagens zutage. Von dem Mädchen keine Spur.

Da Ninettas Eltern viel zu arm sind, um ein Lösegeld von Entführern bezahlen zu können, kommt eine Erpressung als Tatmotiv nicht infrage. Schon bald beschleicht den Commissario eine schlimme Vorahnung…

Mein Eindruck

Zartbesaitete Gemüter seien gewarnt: Dies ist einer der düstersten Fälle, die ihr Lieblingskommissar je zu lösen hatte. Die Geschichte beginnt mit einem (in der TV-Serie eindrucksvoll verfilmten) Actioneinsatz bei den Palmisanos. Montalbano als Bruce Willis zu bezeichnen, wie Catarella, der Telefonist, es tut, mag allerdings übertrieben sein.

Aber in die Action mischt sich auch das Groteske in gestalt der Gummipuppe und eindeutig ein unterschwelliges Horrorelement. All diese vielen Kruzifixe, Kerzen und Inschriften – so sieht also religiöser Wahn aus, findet der Commissario – und sieht sich zu seinem Erstaunen in einen Zustand versetzt, der von furchtsamer Beklemmung nicht weit entfernt ist. Erst das Eintreffen der Kollegen löst den Bann.

Als drittes Element kommt nun das Rätsel hinzu, das der unbekannte Briefeschreiber als „Schatzsuche“ anpreist, als ginge es um ein besonderes Abenteuer. Das hat Montalbano zu seinem Glück gerade noch gefehlt. Er nimmt sich der Rätsel nur an, weil gerade alle Verbrecher Siziliens in Urlaub zu sein scheinen: Es ist nix los.

Als er aber einer Anweisung folgt und auf eine einsame Hütte auf dem Lande stößt, findet er darin den Medien-Alptraum des Jahres wieder: Alle Wände sind mit Fotos tapeziert, die ihn bei seinem heroischen Einsatz gegen die Palmisanos zeigen. Es handelt sich um Abzüge von den TV-Bildern die auf Video aufgenommen wurden – eine technische Meisterleistung.

Welches Genie ist nur sein Rätselmeister, fragt er sich. Und was soll überhaupt diese Herausforderung bringen? Ein Schafskopf in einem Paket birgt ein weiteres Rätsel. Nur die Aussicht auf einen wie auch immer gearteten „Schatz“ lässt den Commissario die Sache weiterverfolgen, so albern sie ihm auch vorkommen mag. Aber wie albern ist ein blutiger Schafskopf wirklich? Es handelt sich um einen Ortshinweis, denn so etwas wird nur in einer ganz bestimmten Gaststätte serviert.

Diese Gaststätte liegt an einem See, „in den Bläue ausgegossen wurde“, wie der Rätselmeister tönt. In der Tat ist der See so blau wie der Himmel. Aber hier verschwand vor zwei Jahren ein Mädchen, weiß Fazio. Wie es scheint, will der Rätselmeister Montalbanos Wissen auf die Probe stellen. Und jetzt ist wieder ein Mädchen verschwunden. Wird auch sie im See enden?

Harsche Kritik

In diesem Krimi prangert der Autor eine ganze Reihe von kulturellen Phänomenen an. Gemeint sind nicht so sehr die allfälligen Torheiten des Polizeiapparats – die kennt der Leser zur Genüge. Der Hunger der Medien nach Sensationen ist eines der Dinge, die dem Autor ein Dorn im Auge sind. Anzüglichkeiten und Schlüpfrigkeiten wie eine alte, lädierte Sexpuppe – darauf fahren die Hyänen von den Medien ebenso ab wie ihre entsprechend konditionierten und verblödeten Zuschauer.

Auch an Phänomenen wie die verfilmten Schnitzeljagden aus Dan Browns „Illuminati“ und „The Da Vinci Code“ lässt der Autor letzten Endes kein gutes Haar. Was sich zunächst wie eine harmlos-lustige Schatzsuche anlässt, entpuppt sich als perfides Spiel eines geisteskranken Hirns, das glaubt, es sei schlauer die dämliche Polizei, allen voran der Commissario.

Auch die Figur des Harry Potter, verkörpert durch Arturo Pennisi, bekommt ihr Fett ab. Dieser Zauberlehrling hält sich für einen Intelligenzbolzen, der meint, einem Kriminalisten eine wertvolle Hilfe sein zu können. Dass die Einsichtnahme in die Rätselbriefe, die Montalbano als Prüfung zeigt, einen ganz anderen Effekt hat als beabsichtigt, kommt unserem Lieblingskommissar erst viel zu spät in den Sinn.

Leider darf hier das Ergebnis der ungewöhnlichen Ermittlung Montalbanos nicht verraten werden, um nicht das Vergnügen an der Lektüre zu verderben. Nur soviel: In einer ungewöhnlich niederschmetternden und bissigen Weise greift der Autor die Anwendung von kaltem Intellekt auf menschliche Wesen und Leben an. Vernunft mag ja schön und gut sein, aber nur solange sie mit Mitgefühl gepaart ist. Doch wenn sie alleine wüten darf, bringt sie Monster hervor…

Indirekt prangert der Autor das Interesse an Psychopathen wie Hannibal Lecter an, die zu „Helden“ in den Medien verklärt werden. Ja, sie bekommen sogar ihre eigenen Fernsehserien, wie „Hannibal“ gezeigt hat. Und woher rührt das Interesse an Psychopathen-Thrillern, wie sie Mankell, Olsen-Adler und viele andere so erfolgreich schreiben?

Für dieses Interesse hat Camilleri nicht etwa ein müdes Lächeln übrig, sondern er greift solche Auswüchse mit beißendem Sarkasmus an. Denn was die Zuschauer nicht sehen wollen, erkennt er klar: Die ach so „genialen“ Psychomonster machen aus ihren Opfern lediglich Gegenstände, um sich ihre Macht über Leben und Tod zu beweisen.

In umgekehrt proportionalem Verhältnis steht dazu das Interesse der Zuschauer, das aus unbelebten Gummipuppen lebende (*sabber*) Leichen machen möchte. (Man erinnere sich an die zeternde Anwohnerin, die eine harmlose Puppe für eine Leiche hält.) Etwas läuft in unserer westlichen Kultur eindeutig falsch.

Die Übersetzung

Die Übersetzung liest sich sehr flüssig, was nicht zuletzt dem modernen Sprachgebrauch zu verdanken ist. „jemandem tierisch auf den Senkel gehen“ – das ist durchaus moderne deutsche Umgangssprache, wenn auch kein Szene-Jargon.

Unterm Strich

Religiöser Wahn und Sexpuppen – das Groteske verbindet sich in einem fulminanten Auftakt (der erfolgreich verfilmt wurde) mit Horror und Erotik. Die Zuschauer von Televigata sind hingerissen, so sehr, dass schließlich die Moralwächter einschreiten müssen. Seinen Ruf ruiniert der Held des Tages denn auch bei einem falschen Alarm: Diesmal gab’s keine Leiche, sondern schon wieder so eine blöde Sexpuppe. Ja, man bietet ihm sogar eine Nutte an, als wäre das nur eine weitere Sex-Ware – Frechheit! Und das auch noch im Beisein von Ingrid, seiner „besten Freundin“…

Wie harmlos lässt sich doch im Vergleich dazu die titelgebende Schatzsuche (la caccia al tesoro) an. Es gilt nur ein paar Codes zu knacken, verschlüsselten Anweisungen zu folgen, die grottenschlecht gereimt sind (Montalbano ist Lyrikkenner), und zu seltsamen Orten wie etwa einer Hütte voller Montalbano-Fotos zu gelangen. Doch auch diese Spur erweist sich als verfolgenswert.

Welchen kulturellen und soziologischen Phänomenen Camilleris geharnischte Kritik gilt, habe ich bereits oben erörtert. Indem er sich in den Clown verwandelt, der lustige Geschichten zum Besten gibt, bringt er doch seine Sorge zum Ausdruck: um den Verlust des Menschlichen, das unter Sensationsgier, Technikverliebt und den Auswüchsen kalter, berechnender Vernunft begraben und vergessen zu werden droht. Dieser Sorge wird sich der Leser, soviel scheint mir sicher, am Schluss ohne Zögern anschließen. Und damit ist schon viel gewonnen.

Gebundene Ausgabe: 272 Seiten
Info: La caccia al tesoro, 2010
Aus dem Italienischen von Rita Seuß und Walter Kögler
ISBN-13: 978-3785725351
www.luebbe.de

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)