Andréa de Nerciat – Lolotte oder Die Stufenleiter der Wollust / Mein Noviziat / Liebesfrühling

Liebesdolch und Purpurschnecke

Frankreich, im 18. Jahrhundert: Die junge Lolotte ist tief unglücklich, als es nach dem Tod ihres Vaters und Bankrott der Familie nur noch eine Zukunft für sie gibt: ein Leben im Kloster! Doch Lotte gelingt es, ein verbotenes Buch voller sündiger Zeichnungen in die heiligen Mauern zu schmuggeln – und findet in ihrer Zofe eine ebenso erfahrene wie willige Lehrmeisterin: Felicia hat die Geheimnisse und Unartigkeiten der Liebeskunst schon früh kennengelernt – als sie als Junge verkleidet mit einigen Burschen durch die Lande zog und schließlich einer Madame zu Diensten war, deren Verlangen keine Scham und keine Grenzen kannte… (Amazon.de)

„Küß mich! Küß mich doch, sag ich. – Warum sollt ich sie nicht küssen? so sehr ich auch ihresgleichen war, so fand ich Sie doch verführerisch; und tat mir meine Herrschaft nicht immer eine Ehre damit an? Ich küßte sie also. – Da, nimm meine Brüste und gib mir deine Hand – ich wette, du hast noch keine Bauchspalte gefühlt – eine hübschere wirst du nicht zu sehen bekommen – – (Sie steigt auf den Stuhl und hält sie mir dicht vor Augen.) – Sieh sie recht an! Greif zu! Nicht wahr? Sie ist frisch und niedlich! Nun ist die Reihe an mir…“ (Auszug)

Es gibt mehrere Versionen der ersten deutschen Übersetzung aus dem Jahr 1970. Die Rowohlt-Ausgabe enthält eine Biographie, die Apollinaire 1910 zusammengestellt und veröffentlicht hat. Das Titelbild ziert ein Foto aus einem Film über Giacomo Casanova.

Die Übersetzungsversion, die unter dem Titel „Mein Noviziat“ 1980 bei Moewig (inzwischen aufgelöst) erschien, bietet eine übersichtliche Sortierung des Textes und eine modernisierte Ausdrucksweise ohne unverständliches Vokabular.

Der Autor

Robert-André Andréa de Nerciat (* 17. April 1739 in Dijon; † 1800 in Neapel) war ein französischer Schriftsteller, Soldat, Architekt und Bibliothekar. Er arbeitete als Geheimagent in Diensten der französischen Armee (1783 bis 1789) und lebte zwei Jahre lang in Deutschland, vor allem in Kassel.

Der neue kulturelle Luxus und die damit einhergehende Sittenverwilderung des Adels erreicht unter Ludwig XV. einen bis dahin nie gekannten Gipfelpunkt. Versailles und vor allem Paris werden das Sündenbabel Europas (siehe die Werke von z. B. Crébillon dem Jüngeren). Das Gesellschaftsspiel der Sinne, die Jagd nach wollüstigen Sensationen, die zügellose Lebensweise der reichen französischen Oberschicht zeigt sich in der Kunst des Rokoko wie auch im ausschweifenden Lebensstil des Adels. Dies ist die Thematik des erzählerischen Werks Nerciats, das deutliche Bezüge zur Pornographie offenbart.

Mehr als ein Jahrhundert lang war sein literarisches Werk in Vergessenheit geraten, ehe es von Guillaume Apollinaire ca. 1910 wiederentdeckt wurde. (Wikipedia.de)

Werke (Auswahl)

Romane

• Ich war eine Kurtisane. Droemer Knaur, München 1993, ISBN 3-426-71010-2.
• Geliebte Freundin. Droemer Knaur, München 1992, ISBN 3-426-71008-0.
• Julie philosophe ou le Bon patriote …. Éditions Tchou, Paris 1968.
o deutsche Übersetzung: Julie. Die Abenteuer eines Straßenmädchens während der Französischen Revolution (Heyne Exquisit; Bd. 48). Heyne, München 1986, ISBN 3-453-50351-1.
• Mon noviciat ou les joies de Lolotte
o deutsche Übersetzung: Liebesfrühling. Blätter aus dem Tagebuch der Marquise de Montrevers. Aufbau-Taschenbuchverlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-7466-2269-9 (früherer Titel: Mein Noviziat bzw. Lolotte oder die Stufenleiter der Wollust, 1979).
• Die schöne Cauchoise. Moewig, Rastatt 1985, ISBN 3-8118-6555-2.
• Lust und Laster im Kloster. Stephenson, Flensburg 1980.
• Liebesfrühling (Heyne Exquisit; Bd. 48). Heyne, München 1971 (EA Krusaa/Dänemark 1921).
• Félicia ou Mes fredaines. Lattes, Paris 1979. Erstausgabe 1921, mit einer Einleitung von Guillaume Apollinaire.
o deutsche Übersetzung: Felicia oder Meine Jugendtorheiten. Heyne, München 1979 (EA Hamburg 1969; früherer Titel: Die Nächte einer Liebestollen 1970).
1. Der erotische Bestseller aus dem 18. Jahrhundert (Heyne Exquisit; Bd. 178). 1979.
2. Der erotische Bestseller aus dem 18. Jahrhundert (Heyne Exquisit; Bd. 183). 1979.
• Les aphrodites. Union Générale, Paris 1997, ISBN 2-264-02557-3.
o deutsche Übersetzung: Les aphrodites oder die Abenteuer einer erotischen Geheimgesellschaft. Greno, Nördlingen 1988, ISBN 3-89190-906-3 (EA Magstadt 1967).
• Le doctorat impromtu. EJL, Paris 2000, ISBN 2-290-30762-9.
o deutsche Übersetzung: Der über Nacht erworbene Doktorhut (Heyne Exquisit; Bd. 163). Heyne, München 1978, ISBN 3-453-50132-2 (EA Hamburg 1965).
• Le diable au corps. Merivaux, Paris 1980, ISBN 2-86380-015-9 (3 Bde.). (Band 5 von 1803: Digitalisat)
o deutsche Übersetzung: Den Teufel im Leibe. Kiepenheuer, Leipzig 1986 (EA München 1976).
• Dorimon, ou le marquis de Clarville. Gay, Strasbourg 1778, ISBN 3-628-63415-6.
• L’étourdi. Belser Wissenschaftlicher Dienst, Wildberg 1989/90, ISBN 3-628-55134-X (2 Bde., EA Paris 1784).
o deutsche Übersetzung: Der Lebemann. Roman (Heyne Exquisit; Bd. 362). Heyne, München 1985, ISBN 3-453-50331-7.

Theaterstücke

• Constance, ou l’heureuse témerité comédie en trois actes. Hampe, Kassel 1780.
• Télescope de Zoroastre ou clef de de la grande cabale divinatoire des mages. Alexandre de Dánann, Paris 2006 (EA Paris 1796).

Handlung

Durch verschiedene ungünstige Umstände muss Lolotte, die 16-jährige Erzählerin, in ein Kloster nahe Paris ziehen. Sie ist eine behütet aufgewachsene Jungfrau, die von der Liebe keine Ahnung hat. Dass sie in einem Bett mit der drallen, erfahrenen Felicia, einer Savoyardin gleichen Alters, schlafen muss, ist für sie ein Glücksfall Schon bald findet sie heraus, welche ihrer Körperteile es gefällt, berührt und gestreichelt zu werden. Sie erwidert den gefallen mit gleicher Münze und entdeckt, dass Felicia nicht nur dralle Brüste, sondern eine wollüstige Muschi besitzt, die verwöhnt werden will.

Felicias Abenteuer

Felicia wird in Savoyen als Junge aufgezogen und muss mit zwölf in die Fremde, um in der Hauptstadt Geld zu verdienen. Die Savoyarden haben ein eigenes Haus, in dem „Felix“ wie alle anderen Miete zahlen und daher Geld verdienen muss. Eine seiner Kundinnen ist eine lebensfrohe Prosituierte, der sie zur Hand gehen muss. Natürlich hält diese sie für einen dummen Jungen. An diesem Tag ist indes noch ein Abbé mit seinem roten Liebesinstrument im Unterleib der Lebedame zugange, und erstmals kapiert Felicia den Unterschied zwischen Männlein und Weiblein; was sich mit diesem Unterschied alles anfangen lässt; und dass diese Tätigkeit große Lust bereiten kann. Der Abbé spritzt seiner Schönen einen Strahl Liebesbalsam auf die Nase, was diese sehr lustig findet. Zu guter letzt borgt er sich sogar noch einen Louisdor für seine Mühen.

Dann wendet sich die Dame dem Jungen zu. Sie ist immer noch hungrig nach Sex und will herausfinden, aus welchem Holz Felix geschnitzt ist, der wehrt sich nach Kräften, doch erlahmt er auf Dauer: Sie da: ein Mädchen! Felicia kapiert schnell, dass ihre Kundin sie nun selbst prostituieren möchte, um ein Zubrot zu verdienen, daher verduftet sie, indem sie das Versprechen ihrer Rückkehr bricht.

Im Schlaflager der Savoyarden kann nun Felicia nicht anders, als ihre Neugier stillen zu wollen. Sie hat gelernt, dass es außer Männlein und Weiblein noch mindestens zwei weitere Klassen von Menschen geben muss. Der neben ihr liegende Franz schnarcht, dass sich die Balken biegen, doch sie vollbringt an ihm ein Wunder, denkt sie, indem sie seinem Liebesschwengel zur Wiederauferstehung verhilft. Wird er in ihr eigenes Loch passen, fragt sie sich beim Selbstversuch. Doch da erwacht Franz und schreit Zeter und Mordio, denn er glaubt sich neben einem warmen Bruder und von diesem missbraucht. Erst als ihre geschlechtliche Identität entdeckt ist, vermag sich Felicia in Sicherheit zu bringen.

Auf der regennassen, kalten Straße läuft sie einem Schauspieler und Verseschmied über den Weg, der sie in seine warme Wohnung einlädt. Es gelingt ihm, sie im falschen Loch zu entjungfern, doch hat er wenig Zeit, sich darüber zu freuen: Die Polizei klopft mit macht an seine Tür – er soll in den Schuldturm. Ein anderer Mieter nutzt die Gunst der Gelegenheit, sich Felicia zu schnappe und bei sich einzuquartieren. Nachdem er auch ihre Sachen besorgt hat, macht er sich selbst ans Werk, um die Tiefenbohrung, deren Vorarbeiten der Schauspieler am falschen Loch angefangen hat, im richtigen Eingang zu Ende zu bringen. Felicia genießt diese Aufmerksamkeit durchaus, denn der Garten der Wollust ist manchen ein Paradies.

Lolottes Abenteuer

Eine Stimme verspricht wiederzukommen. Und in der tat erscheint in dunkler Nacht über eine Leiter, die ans Fenster des Gemachs gelehnt wird, eine Nonne. Lolotte schwant Übles und will die Leiter umkippen, doch Felicia hindert sie: Ein junger Adonis hat sich zur Tarnung als Nonne verkleidet! Welche der beiden Grazien dürfe er zuerst beglücken, fragt der Graf.

Da Lolotte im Rang über dem Kammerkätzchen steht, soll sie zuerst an die Reihe kommen. Doch der Dolch will einfach nicht in ihre jungfräuliche Purpurschnecke passen, selbst dann nicht, als sein Liebesbalsam die Pforte schmiert. Er verspricht, einen Kollegen zu besorgen, der mit einem passenderen Schlüssel für ihr Liebesschloss ausgestattet sei – und wendet sich der wartenden Felicia zu. Für diesen Liebeskampf ist sein Amorpfeil noch gerüstet und wird freudig empfangen. Sein hervorschießender Liebesbalsam schießt nicht in Felicias Leibestiefe, sondern auf ihren Venusberg.

Lolotte fallen zahlreiche Stellen an ihrem Halbgott ein, an denen sie ihm streichelnd und leckend helfen kann. Das macht den Minnediener wieder so munter, dass er es mit beiden Mädchen gleichzeitig aufnehmen will: Felicia setzt sich auf seinen Liebesdolch, während sich es sich Lolotte über seiner leckenden Zunge bequem macht. Schon bald glaubt sie sich im siebten Himmel. Er verspricht wiederzukommen, denn das Kloster sei in Wahrheit eine Art Bordell.

Heuchelei

Einen ersten Hinweis darauf, dass der Graf die Wahrheit gesagt haben könnte, erhält Lolotte, als sie am nächsten Morgen durchs Schlüsselloch der Tür schaut, die ihr Klostergemach mit dem ihrer Mutter verbindet. Maman holt sich munter einen runter, als sie in die Seiten desjenigen Buches hineinschaut, das sie von Lolotte konfisziert und es „unanständig“ und „verderblich“ genannt hat. Nun verschafft sie sich damit selbst einen Schneckentriller nach dem anderen. Felicia darf natürlich ebenfalls zuschauen. Doch die Zofe weiß Bescheid über die Heuchelei der Menschen und wundert sich über gar nichts mehr. Die Gardinenpredigt, die Maman ihr kurz darauf hält, veranlasst sich nur zum Lügen und hinterher zum Lachen.

Zu viert

Um Mitternacht steigen auf dem gewohnten Weg drei Männer ins Klostergemach. Es sind der Graf sowie zwei junge Männer, denen die Augen verbunden wurden. Wie sich später zeigt, handelt sich um einen Baron und einen Ausländer. Der Graf stellt sie vor und verabschiedet sich über die Leiter, die er mitnimmt, damit sie nicht Verdacht erregt. Die beiden Burschen werden erst von Felicia überrascht, die sich den Blinden als betagtes Mütterchen vorstellt und von ihnen Liebestribut fordert. Den beiden schwant bereits Schlimmstes, als die beiden Mädchen ihnen die Augenbinden abnehmen. Was für eine heitere Erleichterung! Da ist es nun leicht, froh ans Werk zu gehen und die beiden Mädchen zu beglücken. Endlich spürt auch Lolotte, welche Wonnen ihr ein bis zum Anschlag drinsteckendes Liebeszepter ihr verschafft.

Zu sechst

Genau im schönsten Moment platzt Frau Maman ins Zimmer. Alles erstarrt. Man erwartet das Schlimmste. Doch Maman sinkt geschockt einfach in den nächsten Sitz, um Luft zu holen. Hilfe ist zwecklos, und Entkommen ist nicht möglich, weil die Leiter ja fehlt. Als Retter in der Not eilt der Graf durchs Fenster. Er erfasst die Situation nur allmählich. Wo er Lust und Freude erwartet, breitet sich nur betretenes Schweigen aus. Die Ursache ist bald ausgemacht: Madame. „Seraphine!“ ruft er und eilt zu Lolottes Mutter. Sie ist ja erst 36 Jahre alt, also im besten Alter.

Doch woher kennen sich die beiden, wundert sich Lolotte. Sind sie Liebhaber? Nun ist der nicht ganz ideale Zeitpunkt, ein paar unbequeme Wahrheiten zu enthüllen…

Mein Eindruck

Lolotte, die Erzählerin, wettert gleich zu Anfang gegen jene verklemmten Typen, die sich wie „Die philosophische Therese“ benehmen. Jener Roman aus dem Jahr 1748 verarbeitete einen massiven Justiz- und Moralskandal aus dem Jahr 1731. Mutmaßlicher Verfasser ist der Marquis d’Argens. Vor diesem Hintergrund nehmen sich der Autor und seine Erzählerin die Freiheit, eine gegensätzliche Position in Sachen sexueller Moral einzunehmen. Der geehrte Leser darf sich daher auf eine relativ herausfordernde Schilderung von Begebenheiten im Leben Lolottes gefasst machen.

Dieser Roman ist insofern außergewöhnlich, als er nicht dem sattsam bekannten Schema der Nummernrevue folgt, sondern dem der Resonanzen. Vielmehr baut jeder Liebesakt à la „Stufenleiter“ auf dem vorhergehenden auf, variiert ihn dabei und demonstriert so die zunehmende Erfahrenheit der Erzählerin, die in ihrer Heirat mit 16 Jahren kulminiert. Sie bewegt sich dabei nicht nur durch alle Schichten der Pariser Gesellschaft, sondern macht auch mal gute, mal weniger erfreuliche Bekanntschaft mit Deutschen, Italienern, Savoyarden und Engländern (ähnlich wie ihr Schöpfer). Zunehmend kann sie ihr diplomatisches Geschick einsetzen. Diese Klugheit treibt sie gegen Ende der Aufzeichnungen zu gewitzten Spielen in der Liebe.

Kreise der Liebe

Der innerste Kreis der Beziehungen wird von Lolotte, ihrer Mutter und ihrem Vater gebildet. Dies ist keineswegs eine bürgerliche, sondern adlige Familie, die völlig anderen Konventionen gehorcht. Die Mutter lebt mit Lolotte im Kloster, doch dort geht’s zu wie im Bordell, und der Graf (Villefranche) spielt dabei den Zuhälter: Maman, kesse 36 Jahre alt, lässt wirklich nichts anbrennen. Der Vater ist ein Marschall, aber leider der Verschwendungssucht zugetan, weshalb er ständig bemüht ist, seine Position in der Politik zu verbessern – genau wie Maman.

Der zweite Kreis wird einerseits vom Personal wie etwa dem unternehmungslustigen Kammermädchen Felicia und dem Diener Fanfaro, Mans Liebhaber, gebildet. Andererseits rangieren auf einer viel höheren Ebene der Gesellschaft zwei Beamte, die eminent viel Einfluss haben und Mamans Prozess entscheiden können: ein „Präsident“ und sein „Sachwalter“. Nicht ganz zufällig ist der Sachwalter zugleich der Onkel des Grafen Villefranche und somit ein potentieller Verwandter, sollte Lolotte bereit sein, den Grafen zu heiraten.

Lauschangriff

Glücklicherweise ist dieses illustre Paar von alten Lustmolchen leicht zu ködern. Sie werden vom Grafen und seinen Günstlingen in ein Gasthaus gelockt, das sieben französische Meilen vor den Stadtmauern von Paris liegt. Hier spielt eine italienische Truppe auf, die aus zwei Jungs und zwei Mädchen besteht. Madame Gaillard, die Wirtin, sorgt dafür, dass Graf und Co. hinter einer dünnen Wand, die Gucklöcher aufweist, den Lustbarkeiten folgen können, die den zwei Alten geboten werden. Schon bald hat man Grund, die Ohren zu spitzen: Die Alten plaudern über den Prozess Mama Seraphines, die sehr gerne Marquise de Montrevers werden möchte. Sie spekulieren darüber, was man aus Madame herausholen könne, etwa die Hand ihrer niedlichen Tochter Lolotte. Es sieht nicht gut aus für Maman. Aus den Praktiken jedoch, derer sich die beiden Alten befleißigen, ließe sich etwas macht, denkt Lolotte: Sie sind Anhänger der homosexuellen Vereinigung.

Der dritte Kreis

In Madame Gaillards Gasthof verkehren nicht bloß Franzmänner, sondern auch Deutsche und Engländer. Ein veritabler Lord samt Gefolgschaft hat sich einquartiert und bandelt mit der Gesellschaft des Grafen an. Die Engländer indes, das ist bekannt, sind spleenige Burschen, und der Lord bildet keine Ausnahme. Nach diversen Techtelmechteln fordert er Lolottes Papa zum Duell heraus. Er sei beim Kartenspiel betrogen worden, klagt er und wolle Satisfaktion. Durch diverse Machenschaften gelingt es der gewitzten Lolotte, ihn dazu zu bewegen, von diesem Vorhaben abzulassen. Ihr Vater ist durchaus dankbar und findet, seine Tochter – die vielleicht, vielleicht auch nicht von ihm ist – sei eine kluge Person und näherer Beachtung wert.

Ich habe mich mehrfach gefragt, was diese Lord-Episode für einen Sinn haben mag, doch am Schluss ist klar, dass sie nicht nur dazu dient, Lolottes Klugheit zu demonstrieren, sondern auch die emotionale Nähe zwischen Vater und Tochter herzustellen. Sie sorgt sich um sein Leben, das ja durch das Duell auf dem Spiel steht. Und Vater sorgt sich fortan um sein Töchterchen, und diese Beziehung wiederum wird entscheidend für den Verlauf des Finales.

Lolottes Wahl

Der Graf spekuliert ja, nicht ohne Grund, dass Lolottes Hand ihm gehören und er demzufolge Mans vermögen erben wird. Pustekuchen! Lolotte sieht viel mehr Aussichten darin, seinen Onkel, den „Sachwalter“, zu heiraten. Der mag zwar schon mit einem Bein im Grab stehen, doch in der Ehe fiele ihr eine stattliche Ausstattung zu und bei seinem – nicht mehr lange ausstehenden – Ableben sein ganzes Vermögen. Da würde der Graf, sein Sohn, ganz schön in die Röhre gucken.

Doch Lolotte wäre nicht ein lustvolles Luder, wenn sie nicht schon für einen Nachfolger des Grafen gesorgt hätte. Der Glückliche ist kein anderer als ihr Vater, selber erst Mitte dreißig. Sie muss ihn bloß noch verführen und rumkriegen. Dass Maman sich darüber aufregen würde, ist abzusehen. Doch wie Lolotte heimlich von ihrer Freundin Felicia erfährt, hat Maman einen Lover namens Fanfaro. Dieser stellt sich als ihr lang vermisster Bruder heraus – und er hat seine Schwester schon lange in Paris gesucht.

Nun kann man sich darauf freuen, wie Lolotte all diese Chancen optimiert und Entwicklungen einfädelt, die ihr nicht nur materiellen, sondern auch erotischen Gewinn einbringen. Natürlich will sie als Geniestreich auch Felicia und Fanfaro alias Elias zusammenbringen, aber nur im geeigneten Augenblick. Wenn nur der Graf ihr nicht dazwischen gefunkt hätte, so wäre Lolottes multipler Plan vollständig aufgegangen. Aber es gibt ein probates Mittel, auch renitente Grafen, umzustimmen…

Variationen

Der Autor spielt mit den Geschlechtern, wie es ihm gefällt. Mal ist Felicia, wie gewohnt, als Junge verkleidet und ein Junge namens Alexis als Mädchen, was zu allerlei pikanten Spielen verleitet. Mal sind Vater und Tochter verbandelt, dann wieder Brüderlein und Schwesterlein. Maman spielt gerne den Moralapostel, doch damit scheitert sie bereits bei ersten Auftritt des Grafen im Kloster (siehe oben) und später, als sie Lolotte mit ihrem Vater in flagranti erwischt. So führt der Autor durch die Worte seiner Erzählerin jede Art von moralischen Tabus (außer Tieren und Kindern) ad absurdum.

Während dieses Spiel durchexerziert wird, führt die Beschränkung auf die genannten drei Personenkreise dazu, dass sich eine durchaus stringente Handlung entwickelt, die sich nicht im Spiel verliert, sondern durch Resonanz zu einem oder sogar zwei Finali führt. Diese Interaktionen fand ich durchaus zufriedenstellend. Am Schluss ist Lolotte, die Heldin ihrer eigenen Geschichte, gesegneten Leibes. Und dreimal darf man raten, wer der glückliche Zeuger ihres Kindes ist.

Die Übersetzungen

Der Stil ist der eines Autors um das Jahr 1800. Das bedeutet sehr viele gewöhnungsbedürftige Ausdrücke und umständliche Satzkonstruktionen. Ich hatte Gelegenheit, die Rowohlt-Version mit der von Moewig zu vergleichen. Das Ergebnis erstaunte mich. Die Rowohlt-Version enthielt zahlreiche Passagen, die in der Moewig-Version fehlten, so auf S. 95, 11/112, 135, 150 und S. 152. Das sind eine ganze Menge Stellen – und nur diejenigen, die ich entdecken konnte.

Welche Stellen hat Moewig unterdrückt, fragte ich mich. Immer solche, die entweder nicht verständlich waren und eine Fußnote erfordert hatten. Aber auch mit dem Einsatz der Peitsche oder mit Schilderungen des Inzests hatten die Moewig-Lektoren ein Problem. Das war den Tugendwächtern aus Rastatt wohl doch zu riskant, und was riskant ist, das muss weg. (Moewig gibt zudem im Klappentext das Veröffentlichungsjahr mit 1789 an, was der Angabe aller anderer Quellen – nämlich 1792 – widerspricht.)

Die protestantischen Nordlichter des Rowohlt-Verlags hatten kein Problem damit, die Erstübersetzung des Münchner Rogner & Bernhard Verlags zu übernehmen. Das wirklich Verblüffende entdeckte ich, als ich in der Moewig-Version Sätze entdeckte, die in der Rowohlt-Version fehlten. Fazit: Am besten liest man beide Versionen – oder greift gleich zur alten R&B-Ausgabe aus dem Jahr 1970. Damit ist man auf der sicheren Seite.

Weitere Unterschiede

Die verschiedenen Versionen der ersten deutschen Übersetzung aus dem Jahr 1970 weisen deutliche Unterschiede auf. Auf 155 Seiten wurde der Text zusammengequetscht, der stilistisch noch nah am Veröffentlichungsjahr 1792 ist. Direkte Rede reiht sich an direkte Rede, kenntlich nur durch Gedankenstriche. Hier ist leider auch viel unverständliches Vokabular zu finden, das das Lesen erschwert. Deshalb stieg ich ab Seite 55 genervt auf die Moewig-Version um.

Die Übersetzungsversion, die unter dem Titel „Mein Noviziat“ 1980 bei Moewig (inzwischen aufgelöst) erschien, bietet eine übersichtliche Sortierung des Textes und eine modernisierte Ausdrucksweise ohne unverständliches Vokabular. An vielen Stellen lässt sich auch eine unverblümte Formulierung von Sachverhalten beobachten, so wird aus „neckischen Spielen“ bei Moewig unversehens eine „Plünderung“ der Frauen.

S. 14: „sie also derb zu hudeln…“: unklar

S. 15: „Grille“: Laune

S. 17: „Du sollst mich nicht anführen!“: So viel wie „Verarsch mich nicht!“

S. 18: „Ei was, du musst nicht so blöde sein…“: „blöde“ im alten Sinne von „schüchtern“.

S. 26: „die Feige zu küssen“: unklar
S. 26: „die Pfoten zu vergolden“: bestechen, Schmiergeld zahlen.
S. 26: „laulich“: lauwarm, angewärmt.

S. 27: „Gelegenheitsmacher“: ein Vermittler in Liebesdingen; nicht unbedingt ein Zuhälter.
S. 27: „Buhlschwester“: Prostituierte.

S. 28: „Sodomit“: Jemand, der Analverkehr vorzieht und praktiziert. Von der biblischen Stadt Sodom (neben Gomorrha).

S. 29: „das Opfer seiner brennenden Fackel genossen“: Orgasmus erleben.

S. 30: „zurechtmachen lassen“: vögeln lassen.
S. 30: „das ist billig“: Das ist gerecht und angemessen.

S. 31: „Mutw[e]illen“: Das e ist überflüssig.

S. 36: „Hier wurden ihre Bewegungen schrecklich“: schreckhaft?

S. 38: „Ünd nun…“ Das Ü sollte wohl ein U sein.

S. 39: „Ich war überaus lustig, als ich hereintrat…“: Hier ist wohl „geil, aufgekratzt, heiter“ gemeint.

S. 41: „anheischig gemacht“: etwas vorgehabt.

S. 44: „Mein schöner Kämpfer, im Begriff, den Strauß zu bestehen“: Strauß im Sinne von „Duell, Zweikampf“.

S. 51: „Notzüchtigung“: Vergewaltigung.

S. 57: „die aus unserem weltlichen Aufzug leich[t] auf Werke des Satans hätte schließen können.“ Das T fehlt. „Aufzug“: Aufmachung wie in einem Theaterstück (Nerciat schrieb selbst zwei Theaterstücke).

S. 57: „dass Venus von jeher auch über eine Hebe den Vorzug behauptet hat.“: Venus ist die erfahrene Liebesgöttin, Hebe hingegen die Jungfrau, denn ihr Name bedeutet „Jugendblüte“. Sie war zunächst die Mundschenkin der olympischen Götter, wurde dann von Ganymed abgelöst und die Frau des Herakles.

S. 137: „Ich habe bei meiner Treu nicht ermangelt, sei[t] sechs Monaten früh und spät zu beten, dass…“: Das T fehlt.

S. 152: Am Schluss des Rowohlt-Textes fehlen drei Zeilen. Sie sind in der Moewig-Ausgabe zu finden.

Unterm Strich

„Lolotte“ bietet beim zweiten Lesen ein recht amüsantes Leseerlebnis. Beim ersten Lesen gilt es nämlich, die Sprachbarriere zu überwinden. Hierbei bietet die Moewig-Ausgabe weniger Schwierigkeiten. Doch nach einer Weile zeigt sich, dass der Moewig-Lektor ein eigenwilliges Verständnis von zulässigen Inhalten hatte: Alle Erwähnungen von Gewaltanwendung und ausgedehntem Inzest wurden unterdrückt. Ohne die neuesten Ausgaben ab 2007 zu kennen, würde ich doch zu einer Ausgabe raten, die den kompletten Text bietet, aber moderne Diktion anwendet.

Lolotte, die Ich-Erzählerin, ist ein gewitztes Frauenzimmer, denn mit ihren 16 Jahre kann es mit den Erwachsenen bereits aufnehmen und sie manipulieren. Sie kann sich auf die Erlebnisse ihrer Freundin Felicia stützen und auch von dem Bericht des Grafen profitieren. Sie weiß bald, wie es in der Welt zugeht, insbesondere in Paris. Ob der Graf die Oberhand behält oder Lolotte, darf hier nicht verraten werden.

Auffallend ist die vielfältige Verwendung von Theaterkennzeichen. Dazu gehören nicht nur entsprechende Locations wie etwa im Gasthaus Gaillard oder woanders: Überall treten Figuren wie auf einer Bühne auf und sprechen ihre Zeilen. Am besten sind die vielen Täuschungen gelungen, so etwa Verkleidungen, Täuschungen und ein Happy End, das Lolotte persönlich nach allen Regeln der Kunst herbeiführt. Das macht wirklich Laune und weiß bestens zu unterhalten.

Info: Mon Noviciat ou Les Joies de Lolotte, 1792
Rowohlt 1979
Zuerst 1970 bei Rogner und Bernhard;
Liebesfrühling. Blätter aus dem Tagebuch der Marquise de Montrevers. Kiepenheuer, 1990 & Aufbau-Taschenbuchverlag, Berlin 2007.
155 Seiten,
aus dem Französischen von Nina Lenz
ISBN 9783499143410
ISBN-10: 3499143410