Andreas Brandhorst – Kinder der Ewigkeit

Physikalisch-medizinische Therapien führen zur Unsterblichkeit. Wem soll man diese Unsterblichkeit zukommen lassen? Nach welchen Kriterien erfolgt diese Auswahl, in einer Gesellschaft, deren Errungenschaften es jedem Individuum erlauben, nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu leben? Was treibt eine Gesellschaft an, die alle Probleme beseitigt hat, in Frieden lebt und deren mechanische Hilfsmittel jegliche Arbeit erledigt? Der Traum der Unsterblichkeit? Doch nur, wenn sie nicht allgemein verfügbar ist, wenn sie das letzte Ziel ist, um das zu kämpfen sich lohnt. Doch warum ist sie nicht für jeden verfügbar, und was sind die Merkmale, die einen Menschen prädestinieren?

Andreas Brandhorst, produktiver Schriftsteller und Übersetzer, mithin der einzige erfolgreiche deutsche Autor, der in schöner Regelmäßigkeit Science-Fiction – noch dazu Space Operas – bei einem großen Verlag unterbringt, widmet sich in diesem Roman ausgiebig diesem Thema, und er zeigt auf, was diese seine Kinder der Ewigkeit für Probleme entwickeln, wenn das große Ziel einmal erreicht ist …

Der Auftrag

Die ferne Zukunft: In der von den unsterblichen „Erlauchten“ regierten interstellaren Gesellschaft kann sich nicht jeder den Aufstieg zum ewigen Leben durch Meriten verdienen. Wer in den „Gemischten Gebieten“ geboren wird, ist von vornherein zur Sterblichkeit verdammt. Doch in der Schattenwelt sind etliche Profiteure und Quacksalber bereit, gegen entsprechende Entlohnung den angeblichen Makel aus der Genstruktur zu entfernen – allerdings nicht immer mit Erfolg.

Esebian hat den radikalen Weg zu den „Hohen Welten“ gewählt und als Auftragskiller in unterschiedlichen Identitäten Meriten für den Aufstieg gesammelt. Dann entschließt er sich, das Töten zu beenden und als Wissenschaftler zu arbeiten. Als er jedoch erpresst wird, El’Kalentar, den Direktoriatsvorsitzenden der Erlauchten zu ermorden, hofft er, durch einen letzten Akt der Gewalt die Pforte zur Unsterblichkeit aufstoßen zu können.

Aber wer kann ein Interesse am Tod El’Kalentars haben? Ein Konkurrent, der seine Position einnehmen will? Das Untergrund-Netzwerk Aurora, das gegen die Diskriminierung der Gemischten Gebiete kämpft? Oder gar die Magister, Maschinenwesen mit einer gigantischen Datenverarbeitungskapazität, die über die Einhaltung der Gesetze auf den Hohen Welten wachen? Trotz aller Bedenken führt Esebian den Auftrag aus. Doch der Lohn ist nicht Unsterblichkeit, ganz im Gegenteil …
(Verlagsinfo)

Esebian: zwischen Moral und Streben

Der Protagonist ist ein echter mehrspältiger Charakter. Im Laufe seines Lebens hat er Unmengen an Identitäten angesammelt, die sich alle in ihm manifestieren. So kann er sich sogar zur Beratung in einen introvertierten Zustand versetzen und mit den scheinbar eigenständigen Persönlichkeiten konferieren. Und da gibt es genug Konfliktpotenzial, Zwistigkeiten unter den Persönlichkeiten, die teilweise ihr Schicksal nicht annehmen und wieder an die Oberfläche drängen wollen. Vor allem einer der erfolgreichsten Killer verlangt danach, derjenige zu sein, der die Oberhand bei Erreichen der Unsterblichkeit innehat.

Brandhorst lässt seinen Protagonisten vor und nach seinem letzten Auftrag in der Galaxis umherreisen und puzzlet so ein Bild von verschiedenen Welten, Aktivitäten ihrer Bewohner, der Erlauchten, der Magister, der Weber, die die Wurmlöcher mit ihren „Filigranen“ stabilisieren und damit die interstellare Gesellschaft erst ermöglichen, der Nischenbewohner, der Illegalen und und und. Es ist ein komplexes Bild, immer weiter ausgebaut durch die Erinnerungen Esebians an erledigte Aufträge, wodurch auch seine Charakterzeichnung verfeinert wird.

Einen Großteil des Romans verwendet Brandhorst auf die Klärung der Frage nach der Motivation der Unsterblichen und die Aufdröselung der Konstruktion der Gesellschaft, die eigentlich von den Magistern abhängt. Diese Maschinen, die neben dem Transport und Verkehr auch die Kommunikation, die Datenverarbeitung, die Medizin und damit die Unsterblichkeit, und die Gesetze kontrollieren, sind erhaben über die Probleme der Menschlichkeit und des organischen Lebens. Aber zu welchem Zweck erhalten sie die Zivilisation und was führt zur Beschränkung der Unsterblichkeit?

Esebian sammelt stückweise Erfahrungen und deckt Geheimnisse auf, während es dem Leser teilweise zu lange dauert und die actiongeladenen Fluchten, Verfolgungen und Intrigen den Rahmen liefern, in dem die Informationen tröpfeln. Es geht auch um die Hinterlassenschaften einer vergangenen Rasse, der Incera, die von den Erlauchten erforscht werden in der Hoffnung, die absolute Macht und die Unabhängigkeit von den Magistern zu erlangen. Was sie damit zu wecken drohen, entzieht sich allerdings trotz der gewaltigen, jahrtausendealten Erfahrung ihrer Vorhersehungskraft. Brandhorst entwickelt eine Argumentation, die gegen die Unabhängigkeit und für die Verantwortung und den Schutz durch die Magister spricht, deren eigene Motivation nicht endgültig geklärt wird. Fest steht nur, dass sie die Menschheit mit ihren Regeln und auch mit der Bildung einer elitären Gesellschaft, in der nur wenige den Aufstieg zur Unsterblichkeit schaffen, schützen und ihre Entwicklung, ihre Anpassungsfähigkeit im Rahmen der sich ändernden Umwelt, unterstützen und sichern.

Das Ende

Andreas Brandhorst ist ein Meister, wenn es darum geht, ein eigenes Universum zu entwickeln und mit Leben zu füllen. Kinder der Ewigkeit ist ein vor Leben strotzender Roman. Er zeigt die Abgründe menschlichen Egoismus ebenso wie die Gefahren, die von einem der ältesten Träume der Menschheit ausgeht: der Unsterblichkeit und damit einhergehend die evolutionäre Stagnation, die schließlich zum finalen Kollaps einer so gearteten Zivilisation führen müsste. Mit den Magistern entwickelt er eine wachende Instanz, die das Problem erkannt und über den genetischen Schmelztiegel, der Tausend Tiefen und der Gemischten Gebiete sowie dem Anreiz der greifbaren Unsterblichkeit ein Instrument zur gesunden Evolution geschaffen hat.
Die Science-Fiction bleibt in Deutschland weithin die Spielwiese englischsprachiger Autoren, doch mit „Kinder der Ewigkeit“ zeigt Andreas Brandhorst mal wieder nachdrücklich, dass er hier keinen Vergleich scheuen muss.

Taschenbuch, 688 Seiten
ISBN-13: 978-3453529830

www.heyne.de

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