Andy Weir – Artemis. SF-Roman

Jazz, die lunare Antiheldin

Jazz Bashara ist kriminell. Zumindest ein bisschen. Schließlich ist das Leben in Artemis, der ersten und einzigen Stadt auf dem Mond, verdammt teuer. Und verdammt ungemütlich, wenn man kein Millionär ist. Also tut Jazz, was getan werden muss: Sie schmuggelt Zigaretten und andere auf dem Mond verbotene Luxusgüter für ihre reiche Kundschaft. Als sich ihr eines Tages die Chance auf einen ebenso lukrativen wie illegalen Auftrag bietet, greift Jazz zu. Doch die Sache geht schief, und plötzlich steckt Jazz mitten drin in einer tödlichen Verschwörung, in der nichts Geringeres auf dem Spiel steht, als das Schicksal von Artemis selbst. (Verlagsinfo)

Der Autor

Andrew Weir, der Sohn eines Teilchenforschers, ist Informatiker. Er begann 2009, das Buch “ Der Marsianer“ zu schreiben, das ihn berühmt und reich machte, denn er verkaufte die Rechte an Hollywood. Auch Ridley Scott Verfilmung mit Matt Damon in der Titelrolle wurde ein Erfolg.

Handlung

Jasmine „Jazz“ Bashara lebt als Kurierin auf dem Mond. Obwohl sie die Tochter eines achtbaren Schweißers ist, fällt ihr das Schweißerhandwerk schwer – es befindet sich in den Händen der Saudis, und die verlangen zu viel Gildenabgaben für ihren Geschmack. Leider sind auch die anderen Gewerke alle von ausbeuterischen Gilden kontrolliert, so dass sie nur als Kurierin halbwegs frei ist. So kommt es, dass sie illegale und halblegale Konterbande auf den Mond einschmuggelt. Drogen und Waffen lehnt sie allerdings ab. Jazz, immerhin schon 26 Jahre alt, hat einen Ehrenkodex und will auf keinen Fall auf die Erde, wo die sechsmal höhere Schwerkraft sie umbringen würde.

Einer ihrer Kunden ist der Unternehmer Trond Landvik, der in einer feudalen Villa in der besten Gegend lebt, bewacht von seiner russischen Haushälterin, einem wahren Zerberus. Der Vater einer behinderten Tochter hat mithilfe von vielen Aufträgen herausgefunden, wie schlau Jazz tatsächlich ist. Aber ist sie auch clever genug für seinen nächsten Coup, nämlich sich den Bergbau von Sanchez Aluminium unter den Nagel zu reißen? Er bietet ihr den Job an.

Sie sagt erst nein, doch dann bietet er eine Million Währungseinheiten, denn er weiß, dass sie immer knapp bei Kasse ist – das Leben als Schmugglerin ist kein Zuckerschlecken. Topp! Nachdem sie sich eines der riesigen Vehikel der Mine angesehen hat, entwickelt sie einen Plan, der sie nicht nur all ihr Erspartes, sondern auch Kopf und Kragen kosten kann.

Zunächst scheint sich alles nach Plan zu entwickeln. Jazz macht immer zuerst einen Plan, denn auf dem Mond und in Artemis können sehr viele Sachen schiefgehen, deren Preis im eigenen Leben besteht. Sie bereitet den Ausstieg ins Vakuum, das die Wohnkuppeln umgibt, mithilfe eines schlauen Roboters vor, den sie Hibby tauft. Dieser Hiwi lässt sich mit ihrem Gizmo fernsteuern, einer am Handgelenk getragenen Kombination aus Telefon und Minicomputer, Smartwatch und RFID-Chip.

Die Alu-Mine arbeitet mit vier Erzsammlern, die ferngesteuert werden. Sie brauch sie bloß fachgerecht zu sabotieren, um den Minenbetrieb lahmzulegen, dann kann Landvik die Minenbesitzer den Wölfen vorwerfen. Doch sie schafft es nur drei von vier Sammlern zu zerstören. Die riesigen Fahrzeuge sind stabiler als erwartet. Dann wird sie entdeckt – und auf einmal bewegt sich eine scharfkantige Baggerschaufel direkt auf ihren Hals zu – im Vakuum…

Mein Eindruck

Jazz Bashara wendet sich direkt an den Leser: Dies ist ihr Bericht, und zum Teil bildet er die Rechtfertigung für die Katastrophe, in die ihr „Plan“ die Stadt Artemis fast gestürzt hätte. Damit die Schlammbewohner auf der Erde auch jedes Wort verstehen, bedient sie sich einer möglichst einfachen Sprache. Sie erklärt jedes Detail haarklein, und weil diese Details so mondspezifisch und für Erdlinge ungewöhnlich sind, hat sie mit dem Erklären alle Hände voll zu tun. Weil ich mich als Leser schon nach wenigen Seiten blöd und unterbelichtet vorkam, schaffte ich es nicht, mehr als ein paar Seiten auf einmal zu bewältigen. So brauchte ich etwa zwei Monate. Die pausen füllte ich mit intelligenterer Lektüre, beispielsweise mit Cixin Lius SF-Roman „Drei Sonnen“, der den Leser wirklich fordert.

Jazz, die Chronistin

Außerdem störte mich die Unglaubwürdigkeit der Chronistin. Angeblich ist sie bereits 26 Mondjahre alt, doch sie verhält sich wie eine Vierzehnjährige. Zwei enttäuschende Liebschaften hat sie bereits hinter: Der erste Typ, Tyler, war ein promisker Macho, der andere, Dale, entpuppte sich als Schwuler, der auf Tyler scharf war. Na, wenigstens mag Dale Jazz immer noch so sehr, dass er ihr bei ihrem verrückten „Plan“ hilft. Es ist wohl ihre Impulsivität und Ehrlichkeit, bei der sie kein Blatt vor den Mund nimmt, der Jazz wie 14 wirken lässt. Sie ist ein wirklich guter Kumpel – wenn man nicht gerade das Pech hat, ihr Feind zu sein, so wie der Attentäter, der ihr das Leben schwer macht.

Der Mittelteil

Nachdem Jazz das Blut in der Villa ihres Auftraggebers Trond Landvik gesehen, tritt sie sofort den strategischen Rückzug an und geht in Deckung. Sie möchte nicht, dass Rudy, der einzige Cop der Stadt, sie in verfänglicher Lage entdeckt. Sie gibt ihm nur einen „anonymen“ Hinweis. Was die Frage aufwirft, wie anonym ein persönliches Gizmo sein kann. Das Problem: Sie hat ihren Auftrag nur zu drei Vierteln erfüllt, ihr Auftraggeber ist höchstwahrscheinlich tot (Rudy bestätigt diese Vermutung wenig später, denn sein Verdacht fällt sofort auf die einzige Kriminelle in der Stadt) und nun hat sie keinen Anspruch auf die dringend benötigte Million Credits.

Über verschlungene Wege gelangt Jazz jedoch zu der Überzeugung, dass ihr Lene, Landviks behinderte Tochter, ihr den versprochenen Lohn – als Spende getarnt – zahlen wird. Bei Angriff Nr. 2 will Jazz jedoch nicht nur die Sanchez-Mine lahmlegen, sondern auch noch ein paar andere „Korrekturen“ vornehmen. Falls man sie nicht erwischt. Denn Sanchez hat offenbar der Mafia Tür und Tor geöffnet. Mit anderen Worten: Durch ihren Sabotageakt betätigt sich jazz eigentlich als Beschützerin ihrer Stadt. Alles klar soweit?

Das Thingamajig

Im angehängten Interview bekennt sich der Autor zu seiner Vorliebe für die Robotergeschichten von Isaac Asimov. In jedem Abenteuer von frühen SF-Autoren wie Asimov gab es eine Wunderwaffe oder wenigstens ein Thingamajig, das so wundersame Eigenschaften hat, dass es die Zukunft der Erde sichert. Es ist ein MacGuffin, wie er im Buch steht. Diesmal allerdings wird das Wunderding haarklein erklärt, was allein schon recht bemerkenswert ist: Es ist ein verlustfreies Glasfaserkabel.

Heute übliche Glasfaserkabel benötigen Verstärker und Transponder, die in regelmäßigen Abständen das Signal (in Wahrheit natürlich Milliarden Signale) verstärken, weil das Material Verlust erzeugt. Der DAGL – „dämpfungsarmer Glasfaserleiter“ – ist also ein Wunderding, das die Kommunikation auf dem Mond um ein Vielfaches beschleunigen würde. Der Haken: Der DAGL lässt sich nur unter Mondbedingungen herstellen. Mit einem Monopol könnte man Milliarden scheffeln. Damit die Lizenzgebühren im Stadtsäckel landen, mauschelt die Gouverneurin Ngugi kräftigt im Hintergrund. Nun bekommt Jazz, die Saudi-Araberin, Wind davon und ist gar nicht davon erfreut. Dass Ngugi allein absahnen will. Sie hat aber auch für diesen Fall einen „Plan“…

Die KSC

Man sieht: Artemis ist nicht nur eine komplizierte Umwelt. Hier gibt es auch eine ausgefeilte Wirtschaft. Dies ist wie ihre Bevölkerung multinational. Die Raumfahrtgesellschaft, der Ngugi vorsteht, heißt KSC. Dies ist allerdings nicht der Karlsruher Sport Club, sondern die Kenia Space Company. Weil nah am Äquator gelegen, steht das Raketenstadtgelände in Kenia. Dort hat Jazz einen Brieffreund, den lieben Kelvin. Er berichtet davon, wie gern er und seine Schwestern aufs College gehen würden. Doch als die Älteste sich eine Schwangerschaft einfängt, müssen alle zusammenlegen, um der werdenden Mutter zu helfen. Jazz ist noch nie schwanger geworden. Was wahrscheinlich der Grund ist, warum sie so viele Alternativpläne ausheckt.

Die Übersetzung

Obwohl die vielen technischen, wissenschaftlichen und astronomischen Fachausdrücke den Text nicht einfach gestalten, gelingt es dem Übersetzer, einem Veteranen des Heyne-Verlags, den Text überaus verständlich und frei von Stil- oder Druckfehlern zu formulieren. So liegt es eindeutig nicht an der Übersetzung, dass ich so lange für diesen Roman brauchte.

Die zwei Lageskizzen tragen sehr zum Verständnis der komplizierten Abläufe in der Handlung bei.

Unterm Strich

Man nehme einen exotischen Schauplatz im nahen Sonnensystem, wähle eine ungewöhnliche Hauptfigur (m/w) und erfinde dazu eine immer dramatischer werdende Handlung. Nach diesem Kochrezept, das der Autor seinem Vorbild Asimov (s.o.) abgeschaut hat, funktionierte schon „Der Marsianer“ und nun auch „Artemis“. Doch Mark Watney ist ein Einzelkämpfer, Jazz Bashara hingegen eine Teamspielerin. Sie spannt alle möglichen Leute in ihre „Pläne“ ein, zuletzt sogar ihre Gegenspielerin Señora Sanchez von der Mine.

Dass sie so viele Spielbälle in der Luft halten kann, grenzt an ein Wunder. Und so war es für mich nicht wirklich eine Riesenüberraschung, als sie einen Faktor X übersieht und es zu einer Beinahekatastrophe in Artemis kommt. Nun muss Jazz alles wieder geradebiegen – und sie hat dafür nur 30 Minuten Zeit. Sonst ist die Kolonie Artemis Geschichte. Wenn es um wachsende Spannung geht, versteht der Autor also sein Handwerk: Der Spieleinsatz wird laufend erhöht.

Deshalb fand ich die Unglaubwürdigkeit der Hauptfigur auch so enttäuschend. Sie ist 26, verhält sich aber, als wäre sie 14. Okay, lieber das als eine knallharte Soldatin, Attentäterin oder Regierungstussi. Jazz ist ein guter Kumpel, aber manchmal ging sie mir erheblich auf den Keks. Die meisten ihrer Freunde sind Männer: ihr Dad, ihr Ex, ihr Brieffreund usw. Viele nennen sie eine Irre, aber dennoch bleibt sie uns sympathisch. Ein Kunststück des Autors. Ihm ist hohles Pathos fremd, wie es seinen Vorbildern noch angebracht erschien. Aber ihm ist eine sympathische Antiheldin lieber als ein korrekter Superheld. Auch damit bin ich einverstanden.

Dennoch wird mir der Roman nicht als überragend in Erinnerung bleiben. Es sei denn, dem Autor gelingt es, daraus den Auftakt zu einer kleinen Serie, etwa einer Trilogie, zu machen. Dann ist seine große Mühe, die er sich mit dem Schauplatz und den Figuren gegeben hat, nachzuvollziehen – eine gute Ausgangsposition, um lunaren Helden eine Stimme zu geben.

Taschenbuch: 431 Seiten inkl. Leseprobe von „Der Marsianer“ und Interview.
Originaltitel: Artemis, 2017
Aus dem Englischen von Jürgen Langowski
ISBN-13: 9783453271678

www.heyne.de

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