Nathan war im Urlaub, was für einen Wolfgard bedeutet, er war in der Wildnis, um für eine Weile den Kontakt zu Menschen hinter sich zu lassen, und nur mit dem Rudel zu laufen. Jetzt ist er auf dem Rückweg nach Lakeside, und kaum hat er wieder mit Menschen zu tun, wird es auch schon unangenehm: im selben Zugabteil sitzt nicht weit von ihm entfernt ein dunkelhäutiges kleines Mädchen, das allein zu reisen scheint, und an dem ein übel riechender Mann ein ungesundes Interesse zeigt. Sofort nimmt Nathan den menschlichen Welpen in Schutz, ohne auch nur zu ahnen, welche weitreichenden Folgen das haben wird!
Mein Eindruck
Was mir als erstes aufgefallen ist, war der Wechsel des Übersetzers. Obwohl bisher alle drei Bände von unterschiedlichen Personen übersetzt wurden, habe ich es beim ersten Mal nicht bemerkt, aber diesmal war es unübersehbar. So wird der Mann, der in den Vorgängerbänden noch als Überwacher bezeichnet wurde, auf einmal Controller genannt, was mich störte, weil ich bei Controllern immer zuerst an Computerhardware denke, außerdem fand ich die Änderung überflüssig. Zum Glück fällt der Begriff nicht mehr allzu oft, weil der Überwacher das Ende des zweiten Teils nicht überlebt hat. Abgesehen davon haben sich allerdings auch Formulierungen eingeschlichen wie „würde sehr besorgt sein“ anstatt „wäre sehr besorgt“, was vielleicht nicht falsch ist, in meinen Augen aber miserabler Stil. „Das ist in Ordnung mit mir“ anstatt, „für mich“ ist dagegen schlicht falsch. Insgesamt würde ich sagen, hier ist jemand ein wenig zu starr den Formulierungen des Originals gefolgt.
Abgesehen davon habe ich das Buch mit derselben Begeisterung verschlungen wie bisher nahezu alle Bücher dieser Autorin.
Meg stellt zum ersten Mal fest, dass sie auch von einfachen Dingen überfordert werden kann. Das scheint eine recht erstaunliche Erkenntnis angesichts der Tatsache, dass Meg auf ihrer Flucht vor dem Überwacher allein durch halb Thaisia gereist ist ohne durchzudrehen, etwas, das man zum Beispiel von den Mädchen, die die Anderen befreit haben, nicht behaupten kann. Meg scheint für eine Cassandra Sangue ungewöhnlich zäh, sie ist ja auch durch die Strafen des Überwachers nicht verrückt geworden. Jetzt ist offenbar der Zeitpunkt gekommen, ihre Grenzen kennenzulernen. Das geht nicht immer glimpflich ab.
Wirklich gebeutelt wird diesmal vor allem Leutnant Montgomery. Der sonst so gefasste Polizist ist plötzlich damit konfrontiert, dass jemand seine kleine Tochter bedroht, und er sich nicht in der Lage sieht, sie zu beschützen. Selbst mit seinen Beziehungen zum Courtyard ist es nicht einfach, Lizzy aus der Schusslinie zu halten, zumal die Angriffe nicht aufhören, selbst nachdem Polizei und die Anderen den Grund dafür gefunden zu haben glauben.
Die sich anbahnende Romanze zwischen Simon und Meg tritt diesmal wieder etwas in den Hintergrund, denn Simon ist mit so vielen anderen Dingen beschäftigt, dass die beiden nicht allzu viel Zeit füreinander haben.
Zum einen wäre da natürlich Lizzy, die Dinge nach Lakeside gebracht hat, die jemand anders unbedingt in die Finger bekommen will. Während im ersten Fall der Grund dafür ziemlich offensichtlich ist, ist im zweiten Fall zunächst nicht einmal klar, worum es sich dabei handelt.
Zum anderen wären da die befreiten Cassandra Sangue auf der Großen Insel und anderswo in Thaisia, und die Hilflosigkeit ihrer neuen Pfleger, die mit der Situation fast genauso überfordert sind wie die Mädchen. Sämtliche Bitten um Unterstützung oder Informationen richten sich an den Courtyard in Lakeside, wo Meg lebt, und gehen damit über Simon.
Außerdem ist inzwischen Captain Burkes Neffe in Lakeside eingetroffen und wird schon bald mit seiner Familie zu einem Teil des menschlichen Rudels. dass der Mann Anwalt ist, bildet auch noch einen dünnen Nebenfaden im Zusammenhang mit den sich immer mehr ausbreitenden Schwierigkeiten im Verhältnis zwischen Menschen und Anderen, die durch die Propaganda der HFL kräftig geschürt werden.
Als wäre das noch nicht genug, häufen sich die Meldungen über Nahrungsmittel- und Rohstoffknappheit, was niemand nachvollziehen kann, denn die Produktion dieser Produkte ist nicht gesunken!
Natürlich kommen die Anderen nach und nach dahinter, worum es bei all dem eigentlich geht. Wie schon im Juwelen-Zyklus sind die Protagonisten ihren Gegnern nicht nur deshalb überlegen, weil sie über besondere Fähigkeiten verfügen – tatsächlich finden sie sich in diesem Band sogar einmal in einer Situation wieder, die sie selbst mit den ihnen eigenen Fähigkeiten ohne Hilfe wahrscheinlich nicht überlebt hätten – sondern weil die Kommunikation zwischen ihnen funktioniert. Das ist einer der Gründe, warum ich Anne Bishops Bücher so schätze: auch hier machen ihre Helden Fehler oder geraten in brenzlige Situationen, aber die Autorin ist in der Lage, diese herbeizuführen, ohne eine Brechstange zu benutzen und ohne ihre Figuren zu Idioten oder Schwätzern zu degradieren.
Und obwohl die Autorin den Leser nicht hinhält, indem sie ihre Charaktere ständig im entscheidenden Moment unterbricht oder aus den falschen Gründen etwas verschweigen lässt und damit wichtige Informationen zurückhält, gelingt es ihr, den Plot hintergründig und zunehmend spannend zu gestalten.
Diesmal hat sich sogar wieder etwas mehr Raum für Humor gefunden. Die Sache mit den Juwelen war einfach nur köstlich. Und Captain Burke hab ich in diesem Buch gleich mehrfach gefeiert, zweimal für seinen Umgang mit Scaffoldon, vor allem der Szene am Telefon, und einmal für die Szene beim Bürgermeister, obwohl die eigentlich nicht lustig war.
Unterm Strich ist auch der dritte Band wieder düsterer ausgefallen als der erste. Aber er konnte insgesamt trotzdem locker mit den beiden Vorgängern mithalten. Von den Charakteren über den Plot bis hin zu neuen Ideen wie zum Beispiel dem Zusammenhang zwischen Prophezeiungen und Buntstiften fand ich das Buch rundum gelungen. Trotz der unterschiedlichen Aspekte greift alles sauber ineinander, nichts klemmt, nichts zwickt. Ich kann den nächsten Band kaum erwarten.
Die Autorin
Anne Bishop lebt in New York, liebt Gärtnern und Musik, und hatte bereits einige Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht, ehe ihr mit dem Zyklus der Schwarzen Juwelen der internationale Durchbruch gelang. Außerdem stammen aus ihrer Feder die Trilogie Tir Alainn, die auf Deutsch bisher nicht erschienen ist, sowie der Dreiteiler Ephemera. Und abgesehen vom Zyklus der Anderen gibt es inzwischen auch weitere, von diesem Zyklus unabhängige Bände, die im selben Setting angesiedelt sind.
Die Anderen
I Written in Red. Roc, New York 2013, ISBN 978-0-451-46496-5. In Blut geschrieben. Drachenmond Verlag, Hitdorf 2016, ISBN 978-3-95991-611-0.
II Murder of Crows. Roc, New York 2014, ISBN 978-0-451-46526-9. Krähenjagd. Drachenmond Verlag. 2017, ISBN 978-3-95991-612-7.
III Vision in Silver. Roc, New York 2015, ISBN 978-0-451-46527-6. Visionen in Silber. Drachenmond. 2018, ISBN 978-3-95991-613-4
IV Marked In Flesh. Roc, New York 2017, ISBN 978-0-451-47448-3. In Fleisch gezeichnet. Drachenmond. 2021, ISBN 978-3-959-91614-1
V Etched in Bone. Roc, New York 2017, ISBN 978-0-451-47449-0. In Knochen geätzt. Drachenmond. 2022, ISBN 978-3-959-91615-8
Taschenbuch 500 Seiten
Originaltitel: „Visions in Silver“
Deutsch von Dennis Frey
ISBN-13: 978-3-959-91613-4
http://www.annebishop.com/index.html
https://www.drachenmond.de//index.jsp/
Der Autor vergibt: