Anne Perry – Der Würger von der Cater Street

Charlotte Ellison, laut dem örtlichen Pfarrer eine „äußerst streitlustige junge Frau“,  wächst als eine von drei Schwestern in einer begüterten Familie der noblen Carter Street im spätviktorianischen London der Gaslaternen auf. Ihre ältere Schwester Sarah ist bereits verheiratet und ihre jüngere Schwester Emily hat sich fest vorgenommen, die Frau von Lord Ashworth zu werden, um in die Aristokratie einzuheiraten.

Das behütete Leben der Frauen spielt sich vornehmlich zu Hause oder bei Freunden in der Nähe ab und dreht sich hauptsächlich um Besuche bei Nachbarn, Feste, sowie Klatsch über Liebesaffairen und Mode. Gelegentlich tut man etwas für die Armen, deren Not man mit selbstgestrickten Schals zu lindern glaubt. Ihr Vater wählt aus, welche Nachrichten bis zu den Frauen der Familie vordringen dürfen. Die werden dann aus der Zeitung vorgelesen. So kommt es auch, dass sie von dem ersten Mord in ihrer Straße erst mit Verspätung erfahren, während der zweite sie unmittelbar trifft, da es sich um das eigene Dienstmädchen handelt.

So wird das ruhige Leben in der Carter Street nach und nach aus der Bahn geworfen, bis jeder Nachbar und schließlich auch die eigenen Familienmitglieder verdächtig werden und klar wird, dass – was geradezu skandalös ist – der Würger aus dem gutbürgerlichen Viertel kein Krimineller aus der Unterschicht sein dürfte, sondern aus den eigenen gut situierten Reihen stammen muss. Dazu kommt die nicht minder skandalöse Anwesenheit des als aufdringlich und zu direkt empfundenen Polizist Thomas Pitt, der nicht nur schlecht angezogen in der Carter Street herumschnüffelt, sondern auch jeglicher Manieren entbehrt und offensichtlich ein Auge auf Charlotte geworfen hat.

So wandelt sich der langsam anlaufende Gesellschaftsroman mit Charlotte als Ich-Erzählerin, der zunächst ausführlich die Weltfremdheit und Standesdünkel der Familien der gehobenen Mittelschicht vor seinen Lesern ausbreitet, langsam zum Krimi, der zum überraschenden Ende hin dann richtig Fahrt aufnimmt. Trotzdem ist es zunächst nicht leicht, mit den Charakteren warm zu werden. Pitt scheint ewig im Dunklen zu tappen und hat wenig von einem strahlenden Helden. Vielmehr ist sein Berufsleben vom drögen Alltag eines Polizisten mit Befragungen und desillusionierenden Sackgassen geprägt. Charlotte hat zwar generell einen wachen Verstand und nimmt oft kein Blatt vor den Mund, aber ihre Naivität und Weltfremdheit sind manchmal geradezu erschütternd und bringen sie dann tatsächlich in Lebensgefahr. Doch am Ende sind natürlich alle genau zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort und die unerhörte Mordserie wird aufgeklärt.

Der Adrian Verlag hat im Frühjahr 2022 mit „Der Würger von der Carter Street“ begonnen, die Kriminalroman-Reihe der englischen Autorin Anne Perry, die bereits seit den 70er Jahren erscheint, in neuer Rechtschreibung als Paperback wieder aufzulegen. Eine gute Idee, der sicherlich auch mit dem Erfolg von „Downton Abbey“ und besonders der im 19. Jahrhundert angelegten TV-Serie „Bridgerton“ zu tun hat. Darüber hinaus bietet Anne Perry mit Thomas Pitt und Charlotte ein so ungleiches wie erfolgreiches Detektivpärchen, das aufgrund von Charlottes Familienbanden zwischen der englischen Unter- und Oberschicht bis zur Aristokratie hin- und herwechseln kann. Auf diese Weise bietet Perry dem Leser Einblicke in zwei Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Wen also die ersten hundert Seiten nicht ermüden, der wird am Ende richtig froh sein, dass man mit „Callander Square“ sofort den nächsten Roman der Thomas und Charlotte Pitt-Reihe zur Hand nehmen kann.

Taschenbuch-Ausgabe: 304 Seiten
ISBN-13: ‎978-3985850396
www.adrian-verlag.de

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